Bilder von Klängen – Vom Lesen der Klänge:

Prolog:

Bilder nach Klängen.
Klänge nach Bildern.
Zeichen als Klänge.
Klänge als Zeichen.
Zeichen zum Lesen.
Klänge zum Zeichen.
Lesen und Hören.
Hören und Lesen.

Zeichen lesen.
Bilder hören.
Klänge zeichnen.

Klänge. Zum Lesen.
Bilder. Zum Hören.
Verortungen. Zum Hören.
Perspektiven. Zum Lesen.
Spuren. Zur Verbesserung der Lage.

(Renald Deppe)


Pablo Picasso (1881 – 1973) : Guernica

Cristóbal Halfter  (*1930) : Cancion callada

Earle Brown (1926 – 2002) : Folio, Dezember 1952 (Partitur)
Earle Brown (1926 – 2002) : Folio, Dezember 1952

Otto Dix (1891 – 1969) : Großstadt (Triptichon)
Kid Ory (1886 – 1973) & his Creole Jazz Band : St. James Infirmary

Lovis Corinth (1858 – 1925) : Das große Martyrium
Antonio Lotti (1667 – 1740) : Crucifixus

Albrecht Dürer (1471 – 1528) : Die vier apokalyptischen Reiter
Metallica : The Four Horseman (1983)

Schülerprotest (Brasilien)
Schüler einer englischen Privatschule.

We don’t need no education
We don’t need no thought control
No dark sarcasm in the classroom
Teacher, leave them kids alone

Hey, teacher, leave them kids alone
All in all, it’s just another brick in the wall
All in all, you’re just another brick in the wall

We don’t need no education
We don’t need no thought control
No dark sarcasm in the classroom
Teachers, leave them kids alone

Hey, teacher, leave us kids alone
All in all, you’re just another brick in the wall
All in all, you’re just another brick in the wall

If you don’t eat yer meat, you can’t have any pudding
How can you have any pudding if you don’t eat yer meat?
You! Yes, you behind the bike stands
Stand still, laddy!

(Songtext : Another Brick in the Wall)

Pink Floyd : Another Brick in the Wall (1997)

Wiktor Hartmann (1834 – 1873) : Die Katakomben von Paris
Modest Mussorgski (1839 – 1881) : Bilder einer Ausstellung, VIII Die Katakomben (Instrumentation: Maurice Ravel)

Josef Matthias Hauer (1883 – 1953) : Übereinstimmung des zwölfteiligen Farbenkreises mit den Intervallen der zwölfstufigen Temperatur.
Josef Matthias Hauer (1883 – 1953) : Nachklangstudien Op. 16

Giorgio Morandi (1890 – 1964) : Stillleben
Salvatore Sciarrino (*1974) : Vento d’Ombra

Raoul Hausmann (1886 – 1971) : Kunstkopf
Raoul Hausmann (1886 – 1971) : Poèmes phonétiques

Raumplastik von Josef Beuys
Matthias Pintscher, dernier espace avec introspecteur – Betrachtung einer Raumplastik von Joseph Beuys (1994)

Fujita (1921 – 2010) : Plattencover (Charles Mingus : Ah Um, 1971)
Charles Mingus (1922 – 1979) : Self Portrait In Three Colors (Ah Um, 1971)

David Teniers der Jüngere (1610 – 1690)
Gioachino Rossini (1792 – 1868) : Duetto buffo di due gatti

Gerhard Richter (*1932) : Cage 1-6

 Denn bei aller technischen Erfahrung kann ich nicht genau voraussehen, was da entsteht,
wenn ich mit so einem großen Spachtel auftrage oder wegnehme.

Da entstehen Überraschungen, enttäuschende und erfreuliche, auf jeden Fall Veränderungen und Bilder,
die ich erstmal mit meinem Verständnis einholen muss, bevor ich weitergehen kann.

Bei Cage ist es ja sehr beispielhaft zu sehen oder zu hören, 
wie aufwendig und klug und empfindsam der Zufall bearbeitet wird, damit dann Musik daraus wird.

(Hans

Ulrich Obrist : Interviews mit Gerhard Richter, Kampa Verlag, Zürich 2022)

John Cage (1912 – 1992) : Music for Piano 79

Arnold Böcklin (1827-1901) : Die Toteninsel (1883)
Max Reger (1873-1916) : 4 Tondichtungen nach Arnold Böcklin op. 128, III. Die Toteninsel (1913)

Mark Rothko (1903-1971) : Rothko Chapel (Einweihung: 1971)
Morton Feldman (1926-1987) : Rothko Chapel (1971)

Amadeo Modigliani (1884-1920) : Portrait de Picasso (1915)
Coleman Hawkins (1904-1969) : Picasso (1948)

Matthias Grünewald (1480-1530) : Isenheimer Altar (1506-1515) : Grablegung (Auszug)
Paul Hindemith (1895-1963) : Symphonie Mathis der Maler (1934), II. Grablegung

Wassily Kandinsky (1866-1944) : Impressionen III (1911)  
(Nach einem Konzert in München mit Klaviermusik von Arnold Schönberg)
Arnold Schönberg (1874-1951) : 6 Kleine Klavierstücke op. 19 (1911)
I) Leichte zarte Achtel 
II) Langsame Viertel 
III) Sehr langsame Viertel
IV) Rasche, aber leichte Viertel
V) Etwas rasche Achtel

VI) Sehr langsame Viertel


Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994) : Konstellationen  (1970-71) Partitur
Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994) : Konstellationen

Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994) : Pour Piano (1973) Partitur
Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994) : Pour Piano (1973)

Anestis Logothetis (1921-1994) : Styx (1969) Partitur
Anestis Logothetis (1921-1994) : Styx (Für Zupforchester)

Hiroshima (1945)
Krzysztof Penderecki (1933-2020) : Threnody to the Victims of Hiroshima (1959- 61)

Hieronymus Bosch (1450-1516) : Garten der Lüste (Triptychon) : Rechter Seitenflügel : »Die musikalische Hölle« (1490-1500)
Deep Purple (1968-1976) : Chasing Shadows (1969) : Plattencover: Die musikalische Hölle (Bosch)

Hans Memling (1430-1494) : Das Jüngste Gericht (1471)
György Ligeti (1923-2006) : Requiem (1963-1965), III. De Die Judicii Sequentia (Dies Irae)

Felix Nussbaum (1904-1944 im KZ Auschwitz) : Triumph des Todes (1944)

Viktor Ullmann (1898-1944 im KZ Auschwitz) : Der Kaiser von Atlantis (Oper, 1943), Totentanz (Intermezzo)

Stalingrad (1943)
Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) : Symphony No. 8 in C minor, Op. 65 (Im Gedenken an die Opfer von Stalingrad), IV. Largo (1943)

Gottesmutter von Wladimir (1100) Russland : Byzantinische Ikone 
Sofia Gubaidulina (1931*) :  De Profundis (Für Bajan solo, 1978)

Anselm Kiefer (1945*) : Der fruchtbare Halbmond (2008)
Klaus Huber (1924-2017) : Intarsi (1993-94), IV. Epilogo: Giardino arabo

Jaque Callot (1592-1634) : Der Galgenbaum (1632) : 30jährige Krieg (1618-1648)
Johann Hermann Schein (1586-1630) : Die mit Tränen säen (1623)

Pieter Brueghel der Ältere (1530-1569) : Die Sieben Tugenden : Gerechtigkeit (1562)
Heinrich Schütz (1585-1672) : Die mit Tränen säen (1648), SWV 378 (Psalm 126) 

Arshile Gorky (1904-1948) : the plough and the song (1947)
Earle Brown (1926-2002) : Music For Cello & Piano (1955)

Atlas de poche des oiseaux de France, Suisse, et Belgique : Merle noir (1898)
Olivier Messiaen (1908-1992) : La Merle noir (1952)

Anonymus : Blackbird : fourth quarter of 13th century (after 1277)
The Beatles (1960-1970) : Blackbird (1968)

Heinrich Vogeler (1872-1942) : Frühling – Aktporträt Martha Vogeler mit Amsel (1909)
Diana Krall (*1964) : Bye, Bye Blackbird (2009)

J. S. Bach (1685-1750) : Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001–1006) : Sonate I g-Moll, BWV 1001 : Adagio (Autograph, 1720)
J. S. Bach (1685-1750) : Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001–1006) : Sonate I g-Moll, BWV 1001 : Adagio

Willem de Kooning (1904 – 1997) : Reclining Figure (1972)
John Cage (1912 – 1952) : seven Haiku : VI. for Willem de Kooning

Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) : Studie II : Partitur (Auszug)
Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) : Studie II : Partitur (Auszug)

(Literaten)Café „Les Deux Magos“ (Die zwei Händler) in Paris.

Häufige Gäste: Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, Oscar Wilde, André Breton, André Gide, Louis Aragon, Elsa Triolet, Jean Giraudoux, Jaques Prévert, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Enst Hemingway, Albert Camus u.a.

Charles Aznavour (1924 – 2015) : La Bohéme (1966)

Beatles (1960 – 1970) : Textentwurf : The Word : Song aus dem Album „Rubber Soul“ (1965)
Beatles : The Word (Lenon/McCartney)

Wassily Kandinsky (1866 – 1944) : Graphische Umsetzung der 5. Symphonie von L. v. Beethoven.

In dieser Schrift werden zwei Grundelemente behandelt, die zum allerersten Anfang jedes Werkes in der Malerie dienen, ohne die dieser Anfang nicht möglich ist und die gleichzeitig ein erschöpfendes Material für die selbständige Art der Malerei darstellen – Graphik.
Also muss hier mit dem Urelement der Malerei angefangen werden – mit den Punkt.

(Kandinsky Punkt und Lilnie zu Fläche – Bauhausbücher, 1926)

Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) : 5. Symphonie (1808), I. Satz : Allegro con brio

Isidore-Stanislaus Henri Helman (1743 – ca. 1809)

König Zhou von Shang (Di Xin) und seine Konkubine Daji,
dargestellt in Faits mémorables des empereurs de la Chine, tirés des annales chinoises (1788)

Daji wurde vor allem bekannt für ihre Erfindung einer Foltermethode namens Paolao. Ein mit Öl bedeckter Bronzezylinder wurde wie ein Ofen mit darunter liegender Holzkohle erhitzt, bis seine Seiten extrem heiß wurden. Das Opfer wurde gezwungen, auf der Oberseite des sich langsam erhitzenden Zylinders zu laufen, so dass das Opfer seine Füße anheben musste, um die Hitze zu vermeiden. Die ölige Oberfläche machte es dem Opfer schwer, seine Position und die Balance zu halten. Wenn das Opfer in die Holzkohle fiel, wurde es lebendig verbrannt. Das Opfer wurde gezwungen zu tanzen und im Todeskrampf zu schreien, während König Zhou und Daji zuschauten und vor Freude lachten.

Renald Deppe (1955) : Chinesisches Brautlied der Daji, Nebenfrau des Königs Di Xin (gestorben 1122 v. Chr.), welcher dieser einen Alkohol-Pool und einen Fleisch-Wald einrichtete.
Für zupfgerupfte Saiteninstrumente, stopfende Blechbläser und viel Tamtam. (Dem RSOWien zugeeignet)
Klang-Graphein nebst Spielanweisungen: Tusche, Eisengallustinte, Feder auf Bütten- und Braunholzmaterialien.

Ö1 : 100 Meisterwerke
: https://oe1.orf.at/artikel/219960/Renald-Deppe

ich spreche mit meiner hand,
du hörst mit deinen augen.

shitao (1642 – 1707 n. Chr.)

das tradierte „be- und verzeichnen“ der klänge ist wunderbares kulturgut.
aber ich glaube auch an ein gedächtnis der worte, klänge für augen und ohren jenseits der golbal be- und genutzten norm-verschriftung (norm-verkaufbarkeit) von Musik.
das erfordert : öffnung und bereitschaft und beschäftigung = zeit.
(zeit ist Geld – geld ist Zeit.)
in diesem sinne danke ich allen mitwirkenden für das erwiesene herzlichst.

p.s.:
nun,
mit dem Gedächtnis hat unsere Zeit
bekanntermaßen generell allerhand Probleme…

(Renald Deppe)


Johannes Vermeer (1632 – 1657) : Junge Frau an einem Virginal sitzend (um 1672 – 1675) : London, Natinal Gallery
William Byrd (1543 – 1623) : Fitzwilliam Virginal Book : John come kisse me now

Billie Holiday (1915 – 1959)

 Ein großer Künstler kann etwas ganz Gewöhnliches nehmen und, durch schiere Kunst und Willenskraft, ein Kunstwerk daraus machen.
Manche Sänger können ein sehr schlechtes Lied nehmen und es, einfach aufgrund ihres ungeheuren Stilgefühls und ihrer Kraft, in etwas erstaunliches Verwandeln – zum Beispiel Billie Holiday.
Billie Holliday hat in ihrem ganzen Leben kaum je ein wirklich gutes Lied gesungen, aber sie nahm diese völlig mittelmäßigen Lieder und machte daraus ein erstaunliches Kraftwerk an Stil und Kunst.
Sie war jemand, die einen Apfel aus dem Korb holen und ein Kunstwerk daraus machen konnte, ganz gleich, wie faul der Apfel war.

Truman Capote (1924 – 1984) : Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie. (Gespräche mit Lawrence Grobel)

Billie Holiday : Don’t Explain (Rare Live Recordings 1934 – 1959)

Willem de Kooning (1904 – 1997) in seinem Atelier (1961)

Wenn wir auch im Leben alles tun, um der Angst zu entgehen, in der Kunst müssen wir uns doch auf sie einlassen. Das ist schwer. 

(Morton Feldman)

Morton Feldman (1926 – 1987) : De Kooning : For Horn, Percussion, Piano, Violin and Cello (1963)

William Hogarth (1697 – 1764) : Die schlafende Gemeinde : National Gallery of Art
Kurt Weill (1900 – 1950) : Die Dreigroschenoper (1928) : Morgenchoral des Peachum

Alfred Hrdlicka (1928 – 2009) : Skulptur des Kopfes von Robert Schumann vor dem Schumannhaus Bonn (2003)
Robert Schumann (1810 – 1856) : Dichterliebe, Op. 48 (1840) : XIII.  Ich hab‘ im Traum geweinet

Andy Warhol (1928 – 1987) : Marilyn Monroe (1962)
Max Raabe (*1962) : Ich schlaf am besten neben dir… (2013)

In Gedenken an den Armenischen Genozid (1915 – 1916) : Geschätzte 1,5 Millionen Todesopfer. 
Armenische Kirche der 40 Märtyrer : Aleppo (Einst Verwaltungsstadt im Osmanischen Reich).
Armenien : Armenian Lament (1915) : Anonymous (Oral Tradition)

Jimmy Giuffre (1921 – 2008) : Syncopate : Score (1965)


1965
2. Januar: erste offene Schlacht zwischen Südvietnam und Vietcong.

 21. Februar: Malcolm X wird in New York City ermordet.

 7. März: Außerhalb der Stadt Selma (Alabama) stoppt die Staatspolizei durch Einsatz von Knüppeln und Tränengas den ersten von drei Protestmärschen. Etwa 600 Bürgerrechtsdemonstranten wollten in Alabamas Hauptstadt Montgomery ziehen. Gouverneur George Wallace sieht im Marsch eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit.

 30. März: Ein Autobombenanschlag auf die Botschaft der Vereinigten Staaten in Saigon führt zum Tod von 22 Menschen, 188 werden verletzt.

 6. August: US-Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnet den Voting Rights Act und erklärt damit allen Afroamerikanern ausdrücklich das Wahlrecht zu, was wesentlich zur gesetzlichen Gleichstellung Schwarzer in den USA führte.

»Ihr könnt keinen Kapitalismus haben ohne Rassismus.«

Malcolm X : Rede am 29. Mai 1964.

»Man kann kein kapitalistisches System betreiben, wenn man kein Geier ist; man muss das Blut von jemand anderem saugen, um Kapitalist zu sein.«

Malcolm X (1925 – 1965) : Rede vom 20. Dezember 1964.

Jimmy Giuffre : Syncopate : New York Concerts (1965)

Ernst Förster (1800 – 1885) : Jean Paul (Portrait : Jean Paul dichtet in seiner Gartenlaube in Bayreuth)
Die Gedanken sind frei… (Deutsches Volkslied über die Gedankenfreiheit, um 1800)
Konstantin Wecker (*1947) : Die Gedanken sind frei… (Alternative Fassung, 2015)

• ENTSTEHUNGSGESCHICHTE

Die Gedanken sind frei. Deutsches Volkslied.

Der Text stammt um das Jahr 1780, der Dichter ist unbekannt. 
Die Melodie stammt um das Jahr 1810, auch der Komponist ist unbekannt.

Der Text wurde 1780 zum ersten Mal auf anonymen Flugblättern veröffentlicht. Etwa dreißig Jahre später entstand die Melodie dazu. 1842 wurde das Lied von Hoffmann von Fallersleben in seiner Sammlung „Schlesische Volkslieder“ veröffentlicht. Die Grundidee allerdings, die stammt mindestens aus dem 13. Jahrhundert. In Versform gefasst hat sie offenbar erstmals ein süddeutscher Sinnsprücheschreiber namens Freidank:

diu bant mac nieman vinden, 
diu mîne gedanke binden. 
man vâhet wîp unde man, 
gedanke niemen gevâhen kan.

Die Bänder wird niemand finden, 
die meine Gedanken binden. 
Man fanget Weib und Mann, 
Gedanken niemand fangen kann.

Freiheit im Denken war aber nicht immer etwas Selbstverständliches. Dieses Privileg stand lange Zeit nur den Herrschenden zu. Untertanen hatten sich ihnen auch im Denken anzuschließen. Heutzutage nehmen sich dieses Recht nur noch Diktaturen heraus. Weil das Konzept der Gedankenfreiheit seit der Aufklärung unterdrückten Völkern und Individuen Trost und Hoffnung spendete, hat das Lied viele Umdichtungen und Aktualisierungen erfahren. Wir finden es in „Des Knaben Wunderhorn“, Gustav Mahler hat es vertont, und Sophie Scholl stellte sich im August 1942 abends an die Gefängnismauer und spielte ihrem inhaftierten Vater die Melodie auf der Flöte vor. Und es gibt wohl kaum ein Volkslied, das so oft von Rock- und Punkmusikern gespielt worden ist wie „Die Gedanken sind frei“. Es ist eine Wahrheit, die tatsächlich für alle Seiten und Zeiten gilt.

HYMNE DES WIDERSTANDS : DIE GEDANKEN SIND FREI (BR-Klassik) 


Hanns Kralik (1900 – 1971) : Liedblatt des Moorsoldatenlieds (1933) : Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg

 Am Nachmittag des 27. August 1933 erklang im nordwestdeutschen Konzentrationslager Börgermoor zum ersten Mal das Lied der Moorsoldaten, »schwer und dunkel, im Marschrhythmus« gesungen von einem 16-köpfigen Chor der kommunistischen Gefangenen.Diese Premiere bildete den emotionalen Höhepunkt des »Zirkus Konzentratiani«, eines artistisch-humoristischen Programms der Häftlinge.Die Zuhörer waren überwältigt von diesem eingängigen Lied, das im schleppenden Rhythmus die alltägliche Trostlosigkeit der Männer beschrieb, die in den Mooren des Emslands fernab der Heimat Zwangsarbeit leisten mussten.Bis 1945 sangen die Häftlinge das Moorsoldatenlied neben vielen anderen Lagerliedern in ihren Muttersprachen.Es fand zudem seinen Weg in die Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkriegs und in die französische Résistance.Bis heute gibt es wohl kaum eine Gedenkveranstaltung an Orten ehemaliger Konzentrationslager, bei der nicht dieses Lied erklingt.

Juliane Brauer (*1975) : …so machtvoll ist der Heimatlieder Klang : Musik im Konzentrationslager (2009)

Ernst Busch (1900 – 1989) : Wir sind die Moorsoldaten…

Die Toten Hosen : Wir sind die Moorsoldaten… : Ballast der Republik (2012)

Volksempfänger : Baujahr 1933
Hanns Eisler (1898 – 1962) : An den kleinen Radioapparat (1942)

Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug
Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen
Besorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug
Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen
An meinem Lager und zu meiner Pein
Der letzten nachts, der ersten in der Früh
Von ihren Siegen und von meiner Müh:
Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!

Text : Bertolt Brecht (1898 – 1956)


Broschüre zur Ausstellung »Entartete Musik« (1938) 
Ernst Krenek (1900 – 1921) : Jonny spielt auf, Op 45 (1927) : Scene 3 : Einleitung

Eine abschreckende Schau sollte die Ausstellung „Entartete Musik“ sein, so wollte es der Hitler-Verehrer Hans Severus Ziegler. Der NSDAP-Funktionär und damalige Intendant am Staatstheater in Weimar hatte die Ausstellung organisiert. In seiner Eröffnungsrede sagte er: „Was in der Ausstellung zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbat dar und ein Abbild arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung.“ Schon die Titelseite der Begleitbroschüre zeigte den Besuchern deutlich, worum es Ziegler ging. Eine perfide Karikatur zeigte „Jonny“, einen schwarzen Jazzmusiker mit dem „Neger-Instrument“ Saxophon, damals einerseits bekannt als Titelfigur in Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“.

Deutsche Welle : Marita Berg (2013)


Guillaume de Machaut (1300 – 1370) : Buchmalerei in Machauts Verserzählung »Le remède de fortune.« (um 1350/1355)
Guillaume de Machaut (Komponist & Dichter) : Le vray remède d’amour : »Mon cuer, ma suer«

Willy von Beckerath (1868 – 1938) : Brahms am Flügel (1896)
Johannes Brahms (1833 – 1897) : Sonate für Klavier Nr. 3 in f-Moll, Op. 5 : II Andante espressivo (1853)

Brahms zitiert am Anfang des Andante espressivo drei Verszeilen von C. O. Sternau (1823 – 1862):

Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint
da sind zwei Herzen in Liebe vereint
und halten sich selig umfangen


Cover der Erstausgabe der Partitur von Arthur Honeggers Pacific 231, Paris 1926
Arthur Honegger (1982 – 1955) : Pacific 231 (mouvement symphonique nr. 1) : 1923

Franz Kafka (1883 – 1924) und seine zweimalige Verlobte Felice Bauer, Budapest 1917
György Kurtág (*1926) : Kafka Fragmente, Op. 24 (1985 – 1987) : Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins.

Franz Kafka und Milena Jesenska
György Kurtág (*1926) : Kafka Fragmente, Op. 24 (1985 – 1987) : Schmutzig bin ich, Milena …

Schmutzig bin ich, Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit. 
Niemand singt so rein als die, welche in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang.

Franz Kafka (1883 – 1924)

Cover : Kurt Schwitters (1887–1948) : Anna Blume : Dichtungen (1919)
Kurt Schwitters liest das Gedicht : An Anna Blume

Chelsea Bridge : Hängebrücke über die Themse in London : Eröffnet 1937
Billy Strayhorn (1915 – 1967) : Chelsea Bridge (1941) : Gerry Mulligan meets Ben Webster (1960)

Szenenfoto aus Le Sacre du Printemps vom 19. Mai 1913 (Premiere) : Théatre de Champs-Élysées

 »Eine gut gekleidete Dame in einer Orchesterloge stand auf und schlug einem jungen Mann, der in der nächsten Loge zischte, ins Gesicht. Ihr Begleiter erhob sich und die Männer tauschten ihre Visitenkarten aus. Ein Duell erfolgte am nächsten Tag«, so die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky. Die Dame, ihr Begleiter und der junge Mann waren Zeugen der Uraufführung des Ballets Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky am 19. Mai 1913 im prächtigen Théatre de Champs-Élysées in Paris. Sie war einer der größten Skandale in der Musikgeschichte. Die Musik war wegen der Tumulte kaum zu hören, am Ende der Vorstellung registrierte die Polizei 27 Verletzte unter den Zuschauern. Die Frage, warum die Menschen derart in Rage geraten waren, ist nicht leicht zu beantworten. Lag es an der als »häßlich« empfundenen Musik? An der Choreographie von Vaslav Nijinsky? An den Bühnenbildern und Kostümen von Nicholas Roerich? Oder eher an der Erwartungshaltung eines Publikums, das die vorangegangen Produktionen der Ballet russe, darunter Strawinskys L’óiseau de feu (Feuervogel, 1910) und Pétruschka (Petruschka, 1911), stürmisch gefeiert hatte?
Melanie Unseld : Le Sacre du Printemps : Ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne

Igor Strawinsky (1882 – 1971) : Le Sacre du Printemps : Le Sacrefice, VI Danse sacrale

Cover einer Langspielplatte aus den 1950er Jahren.
Bill Haley (1925 – 1981) and his Comets : Rock around the Clock (1954)

Jimmy Hendrix (1942 – 1970) : Auftritt im Hamburger Star-Club (1967)

 Am 17. März 1967 trat Jimmy Hendrix im Hamburger Star-Club auf – jenem 1962 gegründeten Etablissement im Hamburger Rotlichtviertel um die Reeperbahn, in dem die Beatles groß geworden waren. Was dem kundigen Hamburger Publikum an diesem Tag geboten wurde, übertraf alles bisher Dagewesene. Ein Augenzeuge berichtete: »Hendrix schloss die Gitarre an und ließ sie gleich ganz wahnsinnig losheulen und pfeifen, wir dachten erst, die Anlage sei kaputt. Aber dann legten Schlagzeug und Bass los und Hendrix würgte seine Gitarre, biss rein und spielte mit der Zunge und auf dem Rücken und unterm Knie und er haute sie gegen den Marshall-Turm, das klang so, als explodierte gerade ein Elektrizitätswerk. Zum Schluss hat er dann Wild Thing gespielt, über 10 Minuten lang, in einer Mörderversion. Als er fertig war, waren wir auch alle fertig.«In Hendrix’ Stil zeigte sich, dass elektrisch verstärkte Musik in der Lage war, die ganze akustische Welt der Moderne zu simulieren und zu interpretieren. Sie löste damit geradezu schockartige Wirkungen aus und reproduzierte eine grundlegende Erfahrung der industriellen Moderne – die radikale Destruktion traditioneller Hörgewohnheiten.
Detlef Siegfried : Wild Thing : Der Sound der Revolte um 1968

Jimmy Hendrix : Wild Thing (1966) : Live at the Monterey International Pop Festival (1967)

John Cage (1912 – 1992) : Klangveränderungen durch Klavierpräperation mit Schrauben und anderen Kleinteilen : Paris, 1949
John Cage : Sonatas & Interludes (1946 – 1948) : Sonata 5

Telefonmodell mit Wählscheine und Bakelitgehäuse (um 1950)
Max Raabe & sein Palastorchester : Kein Schwein ruft mich an (1992)

Jasper Jones (*1939) : Three Flags (1958)
Jimmy Hendrix (1942 – 1970) : The Star-Spangled Banner (Live at Woodstock, 1969)

Player Piano (Selbstspielklavier, ein mechanisches Instrument) mit einer Lochstreifen-Komposition von Conlon Nancarrow.

Conlon Nancarrow, geboren am 27. Oktober 1912 in Texarkana/Arkansas, gehört zu jenen amerikanischen Einzelgängern, denen die Musik des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse verdankt. 

1937–39 nahm er als Mitglied der Abraham Lincoln-Brigade am Spanischen Bürgerkrieg teil. Als ihm aufgrund dessen nach seiner Rückkehr in die USA der Pass entzogen werden sollte, übersiedelte er nach einem Aufenthalt in New York 1940 nach México D.F. [Mexiko-Stadt] und erwarb 1955 die mexikanische Staatsbügerschaft.

Nahezu 40 Jahre lang komponierte Nancarrow dort in selbstgewählter Isolation fast ausschließlich für das Player Piano (Selbstspielklavier, ein mechanisches Instrument). Seine Kontakte begrenzte er auf wenige Personen aus der mexikanischen Kunstszene, wie den Maler und Muralisten (Wandmaler) Juan OʼGorman, der ihm sein Haus in einem der südlichen Vororte von Mexiko-Stadt entwarf. Erst nach seiner Anfang der 70er-Jahre erfolgten Heirat mit Yoko, einer japanischen Archäologin, wurde Nancarrow zugänglicher.

Schon Nancarrows noch für traditionelle Instrumente geschriebene Kompositionen aus den 30er- und frühen 40er-Jahren zeugen – neben seiner Herkunft vom Jazz – von seiner Vorliebe für schnelle Tempi und rhythmisch-metrische Komplikationen. Enttäuscht von missglückten Aufführungen und in Mexiko dann auch abgeschnitten von Kontakten zu geeigneten Interpreten, wandte sich Nancarrow Ende der 40er-Jahre, einem Hinweis in Henry Cowells »New Musical Resources« (1930) folgend, dem Player Piano zu, bei dem mittels eines pneumatisch betriebenen Spielapparats über eine Lochleiste ablaufende Lochstreifen als Toninformationsträger koordinierte Tastenanschläge auslösen. Das automatisch spielende Klavier, das bis dahin hauptsächlich zur Reproduktion verwandt worden war, ermöglichte Nancarrow indes nicht nur die gewünschte Unabhängigkeit von den Grenzen menschlicher Spieler. Wie vor ihm vereinzelt u.a. Stravinskij, Hindemith, Ernst Toch oder George Antheil nutzte er es für eigene Kompositionen, die er selbst in die Papierrollen stanzte. Dabei gelang es ihm, neben Rhythmen und Metren erstmals systematisch und konsequent auch das Tempo zum strukturgebenden musikalischen Faktor zu entwickeln.

Monika Fürst-Heidtmann : KDG (Komponisten der Gegenwart)

Conlon Nancarrow (1912 – 1997) : Studie Nr. 11 für Player-Piano

Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606 – 1689) : Jeremia beklagt die Zerstörung Jerusalems (1630)
Orlando di Lasso (1532 – 1594) : Lamentationes Jeremiae Prophetae (1585) : Lamentatio Prima

Horst Janssen (1929 – 1995) : Totentanz (1974)
Franz Liszt (1811 – 1868) : Totentanz : Paraphrase über Dies Irae für Klavier und Orchester (1849)

Marc Chagall (1897 – 1985) : Weisse Kreuzigung (1938)
B.A. Zimmermann (1918 – 1970) : Antiphon IV (1961)

Helmut Lachenmann (*1935) : Pression : Für einen Cellisten (1969) : Partitur (Auszug)

Dieses Stück entstand als Einführung in die „instrumentale musique-concrète“. In dieser Art von Stücken ist es üblich, dass Klangphänomene so organisiert sind, dass sie nicht so sehr das Ergebnis musikalischer Erfahrungen als vielmehr ihrer eigenen akustischen Eigenschaften sind. Klangfarben, Dynamik usw. entstehen nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Bestandteile einer konkreten Situation, die durch Textur, Konsistenz, Energie, Widerstand gekennzeichnet ist.

Das kommt nicht von innen, sondern von einer befreiten Kompositionstechnik. Gleichzeitig bedeutet es, dass unsere gewohnte, scharf geschliffene Hörgewohnheit durchkreuzt wird. Das Ergebnis ist eine ästhetische Provokation: Schönheit, die die Gewohnheit verleugnet.

Helmut Lachenmann

Helmut Lachenmann : Pression : Für einen Cellisten (1969)

LP-Cover des Albums THRILLER (1982)
Michael Jackson (1958 – 2009) : THRILLER : Billie Jean (Single Version, 1982) 

 So beginnt die Ewigkeit: Dum-tschack, Dum-tschack, Dum-tschack, Dum-tschack, Dum-tschack, Bassdrum und Snare, dazu in leise tickenden Achtelnoten die Hi-Hat: mehr nicht über zwei Takte.

Dann setzt der Basslauf ein, übernimmt die unerbittliche, ununterbrochene Achtelbewegung der Hi-Hat, läuft wie der Zeiger einer Uhr immer wieder zu seinem Anfang zurück.

Lange ändert sich nichts – außer einem zischenden Geräusch, das von rechts nach links verstohlen durch den Stereoraum huscht. Dann staccato-getupfte Syntheziser-Akkorde: kurze Blitzlichter, die einen dunklen Raum erhellen. Erst nach einer Ewigkeit von 14 Takten setzt die Stimme ein: ein unterdrücktes Schluchzen und dann »She was more like a beauty queen from a movie scene…«, leise gesungen zunächst, doch voll gestauter, gebremster, kaum zu kontrollierender Energie: extreme Anspannung über zwei Strophen.

Nach einer Minute und 26 Sekunden, zu einem Zeitpunkt also, an dem ein herkömmlicher Hit bereits zur Hälfte um ist, bricht es heraus, laut, befreiend: »Billie Jean is not my lover.« So beginnt Michael Jacksons erfolgreichste von sieben sehr erfolgreichen Singles auf der 1982 veröffentlichten Platte Thriller, dem meistverkauften Album »aller Zeiten« – bis heute.

Dietrich Helms : Thriller : Das erfolgreichste Album »aller Zeiten«


Theaterplakat : W.A. Mozart (1756 – 1791) : Hochzeit des Figaro : Uraufführung (1789)

»Will der Herr Graf den Tanz mit mir wagen? So mag er’s sagen, ich spiel ihm auf …« 

Was am 1. Mai 1786 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde, war Sprengstoff. 

Mit Figaros Hochzeit wurden zum ersten Mal zeitgenössische soziale Konflikte Gegenstand einer Oper. Ein Diener lehnt sich auf gegen die Willkür seines adligen Dienstherrn. Drei Jahre vor der Französischen Revolution – und mit Unterstützung von Kaiser Joseph II., dem die Adelsprivilegien selbst gegen seine Prinzipien gingen. Die Wiener Realzeitung staunte: „Was in unsern Zeiten nicht erlaubt ist, gesagt zu werden, wird gesungen.“ 

Nun ist Mozarts wunderbare Oper keine Klassenkampfmusik. Es geht auch um Liebe, um Individuen, und ohne Blessuren kommt keiner davon. Aber eine revolutionäre Tat war der Figaro allemal und sein Schöpfer ein Mann, den die politische Gegenwart interessierte. 

Das passte Mozarts Bewunderern bis weit ins 20. Jahrhundert nicht ins Bild von zeitloser Schönheit. Gern übersah man, dass Mozart über militärische Konflikte in Europa und selbst Nordamerika aus den Zeitungen gut informiert war, dass von den 41 Büchern in Mozarts Nachlass gerade mal zwei von Musik handelten, aber sieben von Aufklärern wie Moses Mendelssohn und Adolf Freiherr von Knigge verfasst waren. Zur Revolution in Frankreich findet man in Mozarts Briefen zwar kein Wort, aber ebenso wenig zu den Freimaurern, deren Mitglied er sogar blieb, als sie unter Druck gerieten. Sie sannen zwar nicht auf Umsturz, waren aber von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ überzeugt. Schon die Autarkie und Verschwiegenheit der Logen war ein Politikum im Absolutismus. Erst nach dem Sturm auf die Bastille wurde übrigens Figaro wirklich ein Kassenschlager.

Der Uraufführung drei Jahre zuvor waren nur acht Vorstellungen gefolgt – der Adel boykottierte das Werk. Und hat Mozart wohl besser verstanden als noch 1970 ein Opernführer, in dem zu lesen war, es gehe hier bloß „um Irrungen und Wirrungen, wie sie das Leben mit sich bringt …“.

Volker Hagedorn : ZEIT Geschichte, Nr.4 2005

W.A. Mozart (1756 – 1791) : Hochzeit des Figaro : Akt I : »La vendetta«

Malcolm X (1925 – 1965) wird auf einer Bahre aus dem Audubon Ballroom getragen, nachdem er erschossen wurde.

Malcolm X, eigentlich Malcolm Little, amerikanischer Bürgerrechtler, * 19. 5.1925 in Omaha (Nebraska), †  21. 2.1965 (ermordet) in New York.

Er wurde im Gefängnis (1946–52) für die Black Muslims gewonnen. Er nahm den Namen Malcolm X an, reiste missionierend durch die USA und erreichte als geschickter Agitator ein starkes Anwachsen der »Nation of Islam«. Ende 1963 überwarf er sich mit deren Führer Elijah Muhammad und gründete die auf unmittelbare politische Aktion gerichtete »Organization of Afro-American Unity«. Nach einer Pilgerreise nach Mekka (1964) änderte er seinen Namen in El Hajj Malik al-Shabazz und wandte sich dem orthodoxen Islam zu.

Jenseits des ursprünglichen schwarzen Nationalismus entwickelte er nun Ansätze eines universellen humanistischen Revolutionskonzepts. Seine Reden übten großen Einfluss auf die schwarze Bevölkerung aus. Er wurde während einer Zusammenkunft seiner Anhänger in Harlem durch Mitglieder der Black Muslims ermordet. Seine von Alex Haley nach Tonbandaufnahmen erstellten, posthum veröffentlichten und schlagartig berühmt gewordenen Erinnerungen »The autobiography of Malcolm X« (1965; deutsch »Der schwarze Tribun)« gelten als Klassiker afroamerikanischer Selbstdarstellung.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Miriam Makeba (1932 – 2008) : Malcolm X (1971)
Archie Shepp (*1937) : Malcolm, Malcom – Semper Malcolm (1965)

Graffiti auf West-Berliner Seite der Mauer, auf Ost-Berliner Seite die planierten Anlagen des Luisenstädtischen Kanals (1986)

Schriftsteller, Politiker, Schauspieler, Musiker: Früher wohnte in Berlin-Pankow die Elite der DDR, heute die Elite der Hauptstadt. 

Hier eine Liste von berühmten Menschen, die in Pankow wohnen, in Pankow gewohnt haben oder dort geboren sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Erste Abteilung, Künstler, tot. Hanns Eisler, Arnold Zweig, Stephan Hermlin, Carl von Ossietzky, Ernst Busch, Johannes R. Becher, Heiner Müller, die Brüder Skladanowski, Käthe Kollwitz, Wolfdietrich Schnurre, Heinz Knobloch, Hans Fallada.

Zweite Abteilung, Filmstars, deren Karriere in der DDR begonnen hat. Winfried Glatzeder, Eva-Maria Hagen, Manfred Krug, Corinna Harfouch, Henry Hübchen, Michael Gwisdek.

Dritte Abteilung, Schriftsteller, lebend. Christa Wolf, Christoph Hein, Monika Maron, Volker Braun.

Vierte Abteilung, DDR-Politiker, tot. Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Erich Honecker.

Fünfte Abteilung, Politiker von heute. Jürgen Trittin, Gregor Gysi.

Sechste Abteilung, Film- und Fernsehschaffende. Jasmin Tabatabai, Nora Tschirner, Jörg Thadeusz, Christiane Paul, Maria Schrader, Detlef D! Soost.

(Tagesspiegel, Berlin 2007)

Udo Lindenberg (*1946) & das Panikorchester : Sonderzug nach Pankow (1983) : Der Song wurde ab 1983 in der DDR verboten.

Gestrandete Wale (2916)

 Warum tun sie das bloß? 

28 Pottwale sind seit Anfang Januar an den Küsten der Nordsee gefunden worden. Einige von ihnen waren schon tot, die anderen verendeten, erdrückt von ihrem eigenen Gewicht, am Strand.

Als eine wichtige Ursache für Strandungen gilt das aktive Sonar, mit dem Kriegsschiffe feindliche U-Boote orten, indem sie sehr laute Schallwellen aussenden. Im Frühjahr 2000 strandeten auf den Bahamas 17 Wale und Delfine, kurz nachdem die US-Marine dort ein Sonar eingesetzt hatte. Ein Untersuchungsbericht der Amerikaner räumt ein, dass das Sonar die plausibelste Erklärung für die Strandung sei.

Die Tiere hätten ein akustisches Trauma erlitten, das zur Strandung führt. Die untersuchten Wale hatten Blutungen im Gehör oder im Gehirn. Als Lärmquelle komme nur das Sonar infrage. Dabei habe sich eine Kombination von Faktoren als fatal erwiesen: Es seien über längere Zeit mehrere Sonare eingesetzt worden. Eine starke Oberflächenströmung habe die Zerstreuung der Schallwellen verhindert und die Wale seien in einer Wasserschlucht geschwommen, aus der sie schlecht hätten flüchten können.

(TAZ, 2016)

Charlie Haden (1937 – 2014) & Liberation Music Orchestra : Song of the Whales (2011)

Dagobert Duck (*1947)

Money
Get away
You get a good job with more pay and you’re okay

Money
It’s a gas
Grab that cash with both hands and make a stash

New car, caviar, four star, daydream
Think I’ll buy me a football team

Money
Get back
I’m alright, Jack, keep your hands off of my stack

Money
It’s a hit
Don’t give me that do goody good bullshit
I’m in the high-fidelity first-class traveling set
And I think I need a Lear jet

Money
It’s a crime
Share it fairly, but don’t take a slice of my pie

Money
So they say
Is the root of all evil today

But if you ask for a rise
It’s no surprise that they’re giving none away
Away, away, away
Away, away, away…

(Songtext, Auszug)

Pink Floyd : Money : Dark Side Of The Moon (1973)

Werbeanzeige der amerikanischen Plattengesellschaft Viktor Talking Maschine Company (1913)

Vide le luci in mezzo al mare,
pensò alle notti là in America,
ma erano solo le lampare
e la bianca scia di un’elica.

Sentì il dolore nella musica,
si alzò dal pianoforte,
ma quando vide la luna
uscire da una nuvola
gli sembrò più dolce anche la morte.

Songtext : Caruso (Auszug)

Lucio Dalla (1943 – 2012) : Caruso (1986)

Angriff der Polizei auf Demonstranten in Genua.

Am 18. – 22. Juli 2001 fand der 27. G8-Gipfel in Genua statt. Überschattet wurde die Konferenz von gewaltsamen Auseinandersetzungen mehrerer hunderttausend Globalisierungskritiker und der italienischen Polizei. Neben hunderten Verletzten wurde der 23-jährige Carlo Giuliani durch einen Schuss eines Polizisten getötet.

Am Donnerstag, den 19. Juli protestierten 60.000 Menschen für die Rechte von Migranten. Die Demonstration bestand aus antirassistischen Gruppen, Gewerkschaftern und kirchlichen Initiativen.

Am Freitag des 20. Juli eskalierte die Situation in Genua. Der Zug der Tute Bianche und anderer linker Gruppen wurde von der Polizei mit Tränengas attackiert. Viele der 20.000 in einer schmalen Straße eingeschlossenen Menschen versuchten zu flüchten, zahlreiche andere antworteten auf die Angriffe der Carabinieri mit Steinwürfen. Bei den Auseinandersetzungen in den Seitenstraßen wurde nahe der Piazza Alimonda der 23-jährige Carlo Giuliani von dem 20-jährigen Carabiniere Mario Placanica durch einen Kopfschuss getötet und von Filippo Cavataio, der am Steuer des Polizeiwagens saß, zweimal überrollt.

Die von Gewalt geprägten Unruhen in Genua dauerten bis zum 25. Juli 2001.

Das Entsetzen über die Vorgänge, die Brutalität gegenüber Aktivist*innen, aber auch Be­ob­ach­te­r*in­nen und Jour­na­lis­t*innen, wurde von der inter­na­tio­na­len Bewegung um die Welt getragen. Die Mobilisierungskraft der globalisierungskritischen Organisationen schien keine Grenzen mehr zu kennen. Solidaritätskundgebungen, Demos, Besetzungen, die Gründung unzähliger Basisgruppen; bis keine zwei Monate später 9/11 den Fokus zumindest der westlichen öffentlichen Aufmerksamkeit in eine gänzlich andere Richtung verschieben sollte.

Die zügige und noch immer andauernde Erosion jeglicher Rechtsstaatlichkeit im „Krieg gegen den Terror“ ließ Genua fast wie eine Petitesse erscheinen. Die juristische Aufarbeitung dauerte lange, viele Verurteilungen gegen Polizeibeamte hatten wegen Verjährung keine Auswirkungen mehr. Politisch Verantwortliche wurden nie zur Rechenschaft gezogen, Befehlsketten waren nicht rekonstruierbar, die Täter schweigen bis heute.

(TAZ, 17. 07. 2021)

Paolo Conte (*1937) : Genua per noi

Buchstaben des lateinischen Alphabets (Setzkasten einer Druckwerkstatt).

Dem Volk der Phöniker gebührt großer Ruhm für die Erfindung der Buchstaben.

Plinius d. Ä. (23 – 79 n. Chr.)

György Ligeti (1923 – 2006) : Nonsense Madrigals : III. The Alphabet (1993)

Johannes Brahms (1833 – 1897) in der Bibliothek seines Freundes
 Dr. Victor von Miller in Bad Ischl (1894).

»Die Wiegenlieder meiner Schmerzen« nannte der im Alter zunehmend vereinsamende Brahms seine späten 3 Klavier-Intermezzi Op. 117.

Erzeugen Wiegenlieder Schmerzen oder Schmerzen Wiegenlieder?
Wie auch immer: Wiegenlieder und Schmerzen haben hier einzigartige Musik hervorgebracht: mutige, moderne, innige, leidenschaftliche, entschleunigt komplexe und betörend schlichte Klangwelten.
Brahms stellte dem ersten seiner 3 Intermezzi die Verse »Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön! / Mich dauert’s sehr, dich weinen sehn« aus Johann Gottfried Herders (1744 – 1803) Gedicht-Sammlung „Stimmen der Völker“ voran.

Erzeugen Wiegenlieder Schmerzen oder Schmerzen Wiegenlieder?
Wie auch immer: Wiegenlieder und Schmerzen gehören zu den Erfahrungswelten eines jeden Menschen. Immer und Überall. 
Und oftmals zeitigen die daraus resultierenden Befindlichkeiten eine kostbar tröstliche Wunderkammer menschlicher Größe. Und Vergänglichkeit.

Renald Deppe

Johannes Brahms (1833 – 1897) : Drei Intermezzi, Op. 117 (1892) : I. Andante moderato

Rahmentrommel : Eine in Sufi-Klöstern von Derwischen benutzte Daf (Museum von Antalya).

• Tasawwuf : »Islamische Mystik, Sufismus«. Die Anfänge der spirituellen Bewegung reichen bis in die Zeit des Propheten Mohammad zurück.Ab dem 9. Jahrhundert verbreitete sie sich zunehmend und führte zur Bildung von sogenannten Bruderscheaften (Tariqa). Ziel der Sufis ist es, Gott durch tägliches Gedenken (Dhikr) an ihn nahezukommen.
Fahimah Ulfat / Naciye Kamçili-Yildiz : Islam : Grundwissen in Stichworten (2014)

Tanzende Sufi-Derwische
Sufi-Gesang (Recorded During a Live Zikir Ritual In Konya, Turkey) 

Münze : DDR 1972 : zum 75. Todestag von Johannes Brahms (1833 – 1897)

Bleibt die peinliche Frage: Woher nehmen die betreffenden Verantwortungsträger das Recht, das Selbst- & Fremdvertrauen, immer wieder (zumeist längst verstorbene) Persönlichkeiten im Geistes-, Kunst- und Kulturleben auf staatlich legitimierte Zahlungsmittel zu drucken, zu prägen und abzulichten?

Die Behübschung monetärer Wertlosigkeiten als Aufwertung eines längst vergifteten, korrupten und pervertierten Systems öffentlicher Wert(ein)schätzungen ist zur globalen Regel geworden. 

Widerständigkeit, Außenseiterschicksal, Verarmung, (Über)Lebenskämpfe, Verfolgung, Missachtung, bittere Armut und verzweifelte Liebes- & Lebensläufe vieler der hierfür ge- & benutzten Personen zu ihren damaligen Leb- & Arbeitszeiten werden vergessen, ignoriert, verschattet und „in memoriam“ mit Kaltglanz geglättet.

Macht misstraut den hier oftmals abgebildeten Machthabern als taugliche Wertlegitimation. Auch wieder (mehr als) tröstlich.

Johannes Brahms vertraute Clara Schumann. Clara Schumann vertraute Brahms. Ohne Vorbehalte & Wertlegitimationen.

Renald Deppe

Geldschein : BRD 1989 : Clara Schumann (1819 – 1896) : Pianistin, Komponistin, Pädagogin
Johannes Brahms : Sechs Klavierstücke, Op. 118 (Clara Schumann zugeeignet) : VI. Intermezzo : Andante, largo e mesto (1893)

Plakat : »Letzte Generation« : Bündnis von Aktivisten aus der Umweltschutzbewegung

Die »Letzte Generation« protestiert seit einem Jahr für wesentlich schärfere Klimaschutzmaßnahmen. Sie setzt dabei vor allem auf Blockaden von Straßen und Flughäfen, Aktivistinnen und Aktivisten kleben sich dabei meist vor Ort fest. Dazu kamen aber auch öffentlichkeitswirksame Protestaktionen in Ministerien, Museen oder Konzerthäusern. Ihre Straßenblockaden fanden bisher schwerpunktmäßig in Berlin und München statt, es gab aber auch andernorts bereits Aktionen.
(Der Spiegel : 23. Januar 23)

John Mayall (*1933) : The Turnung Point (1969) : Room to Move (live)

Orval E. Faubus : Little Rock : Protestveranstaltung gegen die Aufhebung der Rassentrennung (1957)

Orval Eugène Faubus (1910–1994)

Sechsunddreißigster Gouverneur (1955–1967)

Orval Eugene Faubus diente sechs aufeinanderfolgende Amtszeiten als Gouverneur von Arkansas und bekleidete das Amt länger als jede andere Person.  Am meisten erinnert man sich an seinen Versuch, 1957 die Aufhebung der Rassentrennung an der Central High School in Little Rock zu verhindern. Sein Widerstand gegen das, was er „erzwungene Integration“ nannte, führte dazu, dass Präsident Dwight D. Eisenhower Bundestruppen entsandte nach Little Rock (Pulaski County) , um das Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1954 zur Aufhebung der Rassentrennung durchzusetzen.

Am 2. September 1957 rief Faubus die Nationalgarde aus, um die Zulassung von neun schwarzen Schülern zur Central High School zu blockieren. Seine Begründung war, dass Gewalt drohte und er den Frieden bewahren müsse. Ein Bundesrichter ordnete die Entfernung der Gardisten an. Die als Little Rock Nine bekannten Schüler kehrten in die Schule zurück, wurden aber von einem Mob wütender Segregationisten getroffen. Die örtliche Polizei, die die Menge nicht kontrollieren konnte, brachte die Neun aus dem Gebäude. Präsident Dwight D. Eisenhower föderalisierte die Nationalgarde und entsandte Armeetruppen, um die Ordnung wiederherzustellen und das Gerichtsurteil durchzusetzen. Die Truppen blieben durch das Schuljahr. Little Rock stimmte für die Schließung seiner High Schools im folgenden Jahr in einem vergeblichen Versuch, eine weitere Integration zu vereiteln. Dann stimmte die Stadt, geplagt von schlechter Publicity und angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs, dafür, sie mit symbolischer Integration wieder zu eröffnen.

(CALS : Enzyklopädie von Arkansas, USA)

Charles Mingus (1922 – 1979) : Fables of Faubus : Charles Mingus Presents Charles Mingus (1960)

Tasso, Torquato, italienischer Dichter, * 11.3.1544 in Sorrent, † 25.4.1595 in Rom.

Tasso wurde u. a. am Fürstenhof von Urbino erzogen, studierte ab 1560 Rechtswissenschaft, dann Philosophie und Beredsamkeit in Padua und Bologna. 1565 wurde er Hofkavalier des Kardinals Luigi d’Este in Ferrara, 1572 wechselte er in den Dienst von Herzog Alfonso II. d’Este von Ferrara über. Ende 1575 traten erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung auf. Aufgrund von Gewalttätigkeiten wurde er im Franziskanerkloster der Stadt isoliert, konnte aber fliehen; nach ruhelosem Wanderleben 1578 wieder in Ferrara, kam er 1579 ins Irrenhaus von Sant’Anna. Erst 1586 gestattete der Herzog dem Fürsten Vincenzo I. Gonzaga (* 1562, † 1612), den Dichter mit nach Mantua zu nehmen. Tasso starb kurz vor seiner Dichterkrönung durch Papst Klemens VIII.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Claudio Monteverdi (1567 – 1643) : Il terzo libro dei madrigali (Text: Torquato Tasso) : Vivro fra i miei tormenti e le mie cure

Gesualdo : Don Carlo, Fürst von Venosa (1560-1613)

Gesualdo, Don Carlo, Fürst von Venosa (seit 1586), italienischer Komponist, * Neapel oder Umgebung 8. 3. 1566, † Neapel 8. 9. 1613; in die Geschichte Neapels eingegangen durch die Ermordung seiner ersten Frau Maria d’Avalos und deren Liebhaber Fabrizio Carafa, Herzog von Andria; in zweiter Ehe ⚭ mit Eleonora d’Este; lebte in Neapel, Ferrara und auf seinem Gut in Gesualdo.

Gesaldo schuf vor allem 6 Bücher fünfstimmiger Madrigale (1594–1611; sechsstimmige Madrigale posthum), die sich durch eine für ihre Zeit kühne, dissonanzreiche Harmonik und expressive Melodik auszeichnen. Die reiche Verwendung der Chromatik dient der Darstellung leidenschaftlicher Gemütszustände, ist aber zugleich ein Ergebnis von Experimenten, die die Wiederbelebung antiker Tongeschlechter zum Ziel hatten (Affektenlehre). Daneben veröffentlichte er fünf- bis siebenstimmige »Sacrae cantiones« (2 Bücher, 1603) und sechsstimmige »Responsoria« (1611).

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Neapel, 16. Oktober 1690. Don Carlo Gesualdo da Venosa massakriert seine Ehefrau und ihren Geliebten. 

Auf dem Fußboden neben dem Schlafgemach finden die Diener am nächsten Morgen zwei leblose Körper: Don Fabrizio Carafa – er ist nur mit dem Nachtgewand einer Frau bekleidet, es ist braun von getrocknetem Blut –, und auf der Liege im selben Raum liegt Donna Maria D’Avalos, Gesualdos Ehefrau, mit zertrümmertem Schädel und aufgeschnittener Kehle.

Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Carlo, begabter Komponist und Erbe des Fürstenhauses Gesualdo in Neapel, ist 20 Jahre alt, als er seine Cousine Maria heiratet. Sie ist atemberaubend schön und nur wenig älter als er. Sie schenkt ihm den erwarteten Stammhalter, aber das Glück dauert nur vier Jahre. Gesualdo kommt dahinter, dass sie schon seit längerem diverse Liebschaften hat. Außer sich vor Eifersucht täuscht er einen Jagdausflug vor kehrt überraschend zurück, ertappt die beiden in flagranti und metzelt sie nieder – mit 53 Dolchstichen.

Nach herrschender Sitte ist der Mord zwar eine Sache der Ehre und der Gehörnte ist im Recht. Vorsichtshalber aber zieht sich Gesualdo auf seine Burg zurück, lässt dort zu seiner Sicherheit den Wald roden und wartet ab, ob sich die Familien der Opfer beruhigen. Und tatsächlich: Die Vendetta bleibt aus. Gesualdo gehört zur aristokratischen Elite und hat zu viel Einfluss. Das Gericht legt den Fall zu den Akten. Gesualdo lässt für alle Fälle ein Kloster mit Kapelle bauen.

Er heiratet wieder; mit der zweiten Ehe ist es aber auch nichts. Immerhin allerdings überlebt die Frau. Gesualdo, der Täter, der zum Opfer geworden ist, wird immer sonderlicher – verlässt seine Burg nicht mehr, geißelt sich, heißt es – und entwickelt sich zum Masochisten. Auch fängt er wieder an zu komponieren. Manisch-depressiv, würden wir heute sagen: das Wunder der Leidenschaft im einen Madrigal, und im nächsten Schmerz, Tod, Verzweiflung, schwärzester Abgrund. Das Ganze so chromatisch verschlungen wie das noch niemand vor ihm gemacht hat. Gesualdo nimmt keine Rücksicht mehr.

Bayrischer Rundfunk (BR Klassik) : Was heute geschah (16. Oktober 1590)

Don Carlo Gesualdo da Venosa : 6. Madrigalbuch Nr. 17 : Moro, lasso, al mio duolo (1611)

Walter Benjamins Leserausweis für die Bibliothèque nationale de France, Paris 1940

Benjamin, Walter Benedix Schönflies, Schriftsteller, * 15.7.1892 in Berlin, † 26. 9.1940 (Selbsttötung) in Portbou (Provinz Girona, Katalonien).

Benjamin studierte Philosophie in Freiburg im Breisgau, Berlin, München, Bern; wandte sich, angeregt durch die Begegnung mit der russischen Revolutionärin Asja Lazis (1924), dem Marxismus zu. 1925 legte er die Untersuchung »Ursprung des deutschen Trauerspiels« der Universität Frankfurt am Main als Habilitationsschrift vor, sie wurde jedoch nicht angenommen (1928 veröffentlicht). Benjamin schrieb Essays und Literaturkritiken, v. a. für die »Literarische Welt« und die »Frankfurter Zeitung«; 1927–33 gestaltete er auch Rundfunksendungen. 1933 ging Benjamin ins Exil (vorwiegend Paris; freier Mitarbeiter der »Zeitschrift für Sozialforschung«, Frankfurter Schule). 

Unmittelbar nach der Flucht über die Pyrenäen nach Spanien nahm Benjamin sich aus Furcht vor der Auslieferung an die Gestapo durch die spanischen Behörden das Leben.

(Brockhaus. Enzyklopädie)

Hanns Eisler (1898 – 1962) : Über den Selbstmord (1943) : Text : Bertolt Brecht

Gedenktafel (Wien, 18. Bezirk, installiert 1994)

Friedell, Egon, österreichischer Schriftsteller, * Wien 21. 1. 1878, † (Selbsttötung nach dem Einmarsch der deutschenTruppen) ebenda 16. 3. 1938; war nach dem Studium der Philosophie Kabarettleiter, Theaterkritiker, Schauspieler. 

Er schrieb Schwänke und Parodien (gemeinsam mit A. Polgar, so »Goethe. Eine Szene«, 1908), ferner viele Essays und Aphorismen; am bekanntesten wurden die »Kulturgeschichte der Neuzeit« (1927–31, 3 Bände, zahlreiche Neuausgaben) und die »Kulturgeschichte des Altertums« (Band 1 »Ägypten und Vorderasien«, 1936, Band 2 »Kulturgeschichte Griechenlands«, herausgegeben 1950, unter dem Titel »Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients« zahlreiche Neuausgaben), in feuilletonistisch-essayistischem Stil geschrieben, oft mit eigenwilligem Urteil.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Egon Friedell in der Bibliothek seiner Wohnung in Wien (1938)

Der 1878 in Wien als Egon Friedmann und Sohn eines jüdischen Seidentuchfabrikanten geborene Kulturphilosoph, Kabarettist, Schauspieler, Dramatiker und Essayist nahm sich am Abend des 16. März 1938 das Leben. Als die SA gegen 22 Uhr an seine Wohnungstür in der Gentzgasse 7 im 18. Gemeindebezirk klopfte, um, wie er vermutete, den „Jud Friedell“ abzuholen, sprang er aus dem dritten Stock in den Tod – nicht ohne vorher Passanten zu warnen. Am Vortag hatte Adolf Hitler auf dem Heldenplatz den Eintritt seiner „Heimat in das Deutsche Reich“ verkündet. Der damals 60-Jährige wollte nicht fliehen, obwohl ihn seine Freunde gedrängt hatten, er wollte seine Bibliothek nicht aufgeben. „Er besaß über dreitausend Bände, fein säuberlich geordnet und jeder einzelne ist von ihm mit unzähligen Bemerkungen an den Seitenrändern vollgeschrieben“, schreibt Gernot Friedel in einer bemerkenswerten Romanbiographie, erschienen 2003 im Molden Verlag.

OÖ Nachrichten (Linz, März 2013)

Heiner Goebbels (*1952) & Alfred 23 Harth (*1949) : On Suicide (1987) 
(Nach einem Song von Hanns Eisler : Über den Selbstmord)

Graduale Romanum : Choralbuch der römisch-katholischen Kirche mit Quadratnotation (Neumen).

Graduale [mittellateinisch] das, seit dem 12. Jahrhundert übliche Bezeichnung für das liturgische Buch mit den Gesängen der Messe (Liber gradualis).

 Choralnotation, die zur Aufzeichnung des gregorianischen Gesangs aus den Neumen entwickelte Notenschrift, die seit dem 11. Jahrhundert mittels Linien und Tonhöhenschlüsseln den Melodieverlauf und dessen Textzuordnung fixierte. Seit dem späten 12. Jahrhundert bildeten sich zwei Standardformen der Choralnotation heraus. Kennzeichen der römischen Choralnotation (Nota romana), die im Anschluss an die nordfranzösische Neumenschrift entstand, ist die überwiegend quadratische Form der Noten, daher auch Nota quadrata (Quadratnotation) genannt; sie wird bis heute in liturgischen Büchern verwendet. In der mehrstimmigen Musik des Mittelalters wurde sie in den Formen der Modalnotation und der Mensuralnotation zum Ausgangspunkt der Notierung des Rhythmus.

 Graduale [mittellateinisch] das, in der katholischen Liturgie der zweite Gesang des Proprium Missae; ursprünglich ein auf den Stufen (lateinisch gradus, daher Graduale »Stufengesang«) zum Ambo (Kanzel) vorgetragenes Responsorium, das nach der Epistel gesungen wird; ihm folgen Alleluja (Halleluja) oder Traktus. 

Das Graduale entstammt der synagogalen Praxis und diente dem vollständigen Vortrag eines Psalms zwischen den Lesungen (des Antwortpsalms), wurde aber schon früh auf einen einzigen Vers reduziert.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Graduale Romanum : Toul (frühes 17. Jahrhundert)

Auguste Rodin (1848 – 1917) : Der Denker (1880 – 1882) : Bronzeplastik

 Schelling, neben anderen, verbindet mit dem menschlichen Leben eine fundamentale, unvermeidliche Traurigkeit. Insbesondere gibt diese Traurigkeit den dunklen Grund ab, in dem Bewusstsein und Erkenntnis wurzeln. Dieser dunkle Grund muß in der Tat die Basis aller Wahrnehmung, jedes geistigen Prozesses sein. denken ist strikt von einer »tiefen, unzerstörbaren Melancholie.«

Die aktuelle Kosmologie liefert eine Analogie zu Schellings Glauben. Jene der »Hintergrundstrahlung«, der flüchtigen, aber unvermeidlichen kosmischen Wellenlängen. Überreste des <Big Bang>, Spuren vom werden des Seins. In allem Denken, so Schelling besteht diese Urstrahlung, diese »dunkle Materie« weiter als Traurigkeit, als Schwermut.

Die menschliche Existenz, das Leben des Verstandes bedeutet Erfahrung dieser Melancholie und das vitale Vermögen, sie zu überwinden. Wir sind gleichsam »traurig« erschaffen. 

In dieser Vorstellung ist zweifellos die »Hintergrundstrahlung« der biblischen und kausalen Beziehung spürbar zwischen der verbotenen Aneignung von Wissen, von analytischem Urteilsvermögen und der Verbannung der menschlichen Spezies aus unschuldiger Glückseligkeit. Ein Schleier der Trauer, der tristitia, ist geworfen über die Passage vom homo zum homo sapiens, wie positiv sie auch sein mag.

Das Denken trägt in sich eine Erbschaft der Schuld.

George Steiner (1929 – 2020) : Warum Denken traurig macht (Auszug) 

wenn dereinst eulen
der sonne entgegenfliegen,
bienen das licht 
des mondes bestäuben
und der wilde reis
sein blühen verweigert:
in den augen derer,
welche noch blind vom licht unserer träume künden… 

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich traurig bin… : Verortung & Perspektive (2023).

Auguste Rodin : Fotografie (1911)
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Concerto in D Minor, BWV 974 : II. Adagio

J. S. Bach (1685 – 1750) : Das wohltemperierte Klavier : Titelblatt des Autographs von 1722

Das Wohltemperierte Clavier.
oppure
Praeludia, und
Fugen durch alle Tone und Semitonia,
So wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlan-
gend, als auch tertiam minorem oder Re
Mi Fa betreffend. Zum
Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen
Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem stu-
dio schon habil seyenden besonderem
ZeitVertreib auffgesetzet
und verfertiget von
Johann Sebastian Bach.
p. t: HochFürstlich Anhalt-
Cöthenischen Capel-
Meistern und Di-
rectore derer
CammerMu-
siquen.
Anno
1722.*****

Große Kunst ist von einer wunderbaren Monotonie – Stendhal, Bach. (Aber nicht Shakespeare.)
Susan Sontag (1933 – 2004) : Tagebücher (1964 – 1980)

J. S. Bach (1685 – 1750) : Das wohltemperierte Klavier : Prelude in c-Moll : BWV 847

Pierre Auguste Renoir (1841 – 1919) : Jeune fille lisant (1874)

 Pierre-Auguste Renoir war ein bodenständiger Mensch, der sich selbst als Handwerker verstand. 
„Bei einem Maler zählt nur, was er auf die Leinwand bringt. Und das hat mit Träumen nichts zu tun. Da geht es um gute Farben, gutes Leinöl und ein bisschen Terpentin.“
Der in Limoges geborene Sohn eines Schneiders erlernte zuerst den Beruf des Porzellanmalers, ehe er zu jener revolutionären Gruppe von Künstlern gehörte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Impressionisten verspottet wurde. An der Kunst hielt Renoir bis zum Tod fest. Auch als er die Finger vor Rheumaschmerzen kaum noch bewegen konnte, legte er den Pinsel nicht aus der Hand.

WDR 5 : Zeitzeichen (2019)

Ich habe nie aufgehört, Ravel als den größten Meister der französischen Musik neben Rameau und Debussy anzusehen – einen der größten Musiker aller Zeiten. Was er in Musik ausdrückt, berührt mich seltsam. Schon seine Aussagekraft ist von einer Klarheit, einem Raffinement und einem so unvergleichlichen Glanz, dass alle Musik nach ihm unvollkommen erscheint.

Romain Rolland (1866 – 1940) : Revue Musicale : 1. Dezember 1938

Claude Debussy (1862 – 1918) : Préludes, Livre 1 : La fille aux cheveux de lin (1909 – 1910)

Marius Bauer La Haye (1867 – 1932) : Gibet au clair de lune

DER GALGEN
Was sehe ich um diesen Galgen sich regen?

(Faust)

Ach, was höre ich da, ist es die Nachtbrise, die gluckst, oder der Erhängte, der auf der Mistgabel seufzt?
Ist es eine Grille, die im Moos und im unfruchtbaren Efeu zirpt, mit dem sich das Holz aus Mitleid bekleidet?
Ist es eine Fliege auf der Jagd, die ihr Horn um die Ohren bläst, die taub sind für die Fanfare der Hallali?
Oder ist es ein Karbunkel, der auf seinem ungleichen Flug ein blutiges Haar von seinem kahlen Schädel pflückt?
Oder ist es eine Spinne, die einen halben Mond aus Musselin als Krawatte an den erdrosselten Kragen stickt?
Es ist die Glocke, die an den Mauern einer Stadt unter dem Horizont bimmelt, und der Kadaver eines Gehängten, der von der untergehenden Sonne gerötet wird.

Aloysius Bertrand (1807 – 1841) : Gaspard de la nuit (1842) : Le Gibet

Maurice Ravel (1875 – 1937) : Gaspard de la nuit : Trois poèmes pour piano d’après Aloysius Bertrand (1908) : II. Le Gibet

Graffiti : Ausschnitt des dritten Satzes (M. Ravel : Gaspard de la nuit : Scarbo) an einer Hauswand in Minneapolis

SCARBO
Er schaute unter das Bett, in den Kamin, in die Truhe; – niemand. 
Er konnte nicht begreifen, durch welchen Weg er eingedrungen, durch welchen er entflohen war.

(E. T. A. Hoffmann : Erzählungen in der Nacht.)

O wie oft habe ich ihn gehört und gesehen, Scarbo, wenn um Mitternacht der Mond am Himmel leuchtet wie ein silberner Schild auf einem azurblauen Banner, das mit goldenen Bienen besät ist!
Wie oft habe ich sein Lachen im Schatten meines Alkoven summen und seinen Fingernagel auf der Seide der Kurtinen meines Bettes knirschen hören!
Wie oft habe ich gesehen, wie er vom Boden herunterkam, auf einem Fuß herumsprang und durch das Zimmer rollte wie eine Spindel, die aus dem Spinnrocken einer Hexe gefallen war.
Der Zwerg wuchs zwischen mir und dem Mond wie der Glockenturm einer gotischen Kathedrale, mit einer wackelnden goldenen Glocke an seiner spitzen Mütze.
Aber bald wurde sein Körper bläulich, durchsichtig wie Kerzenwachs, sein Gesicht schimmerte wie das Wachs einer Laterne, – und plötzlich erlosch er.

Aloysius Bertrand (1807 – 1841) : Gaspard de la nuit (1842) : Scarbo

Maurice Ravel (1875 – 1937) : Gaspard de la nuit : Trois poèmes pour piano d’après Aloysius Bertrand (1908) : III. Scarbo

Mauricio Kagel (1931 – 2008) : Komponist, Dirigent, Regisseur : »Ludwig van« : Hommage an Beethoven : Musikzimmer  (Ausschnitt) :  Requisite für den Film »Ludwig van« (1970) 
Ludwig van Beethoven (1770 – 1820) : Ouvertüre zu »Coriolan«, Op. 62 (1807)

Frans Geffels  (1625–1694) 2. Belagerung Wiens durch die Osmanen und das Eintreffen des Entsatzheeres (1683)

Arie des OSMIN (Aufseher über den Palast des Bassa Selim)
Solche hergelaufne Laffen
Die nur nach den Weibern gaffen,
Mag ich vor den Teufel nicht.
Denn ihr ganzes Tun und Lassen
Ist, uns auf den Dienst zu passen,
Doch mich trügt kein solch Gesicht!
Eure Tücken, eure Ränke,
Eure Finten, eure Schwänke,
Sind mir ganz bekannt.
Mich zu hintergehen,
Müßt ihr früh aufstehen,
Ich hab auch Verstand.
Drum beim Barten des Propheten!
aIch studiere Tag und Nacht,
Ruh nicht bis ich dich seh‘ töten,
Nimm dich wie du willst in acht.
PEDRILLO
Was bist du für ein grausamer Kerl,
und ich hab dir nichts getan.
OSMIN
Du hast ein Galgengesicht, das ist genug.

Erst geköpft, dann gehangen,
Dann gespießt auf heiße Stangen
Dann verbrannt,
dann gebunden,
Und getaucht;
zuletzt geschunden.

Entführung aus dem Serail : Libretto (Auszug) : Johann Gottlieb Stephanie (1741 – 1800)

Ein Werk, mittendrin in den Auseinandersetzungen zwischen Orient und Okzident, Mann und Frau, Kultur und Natur, Rache und Vergebung. Eine Oper über den Zusammenprall zweier verschiedener Kulturen…

(Volksoper Wien)

Wir haben uns dafür entschieden, die Geschichte der Entführung aus dem Serail aus dem Kopf, aus der Perspektive eines heutigen Westeuropäers – nämlich Belmonte – zu erzählen, der Ängste hat. Und diese Ängste betreffen nicht nur die Frage, ob Konstanze ihm treu war, sondern auch andere Bereiche, nämlich die Furcht vor dem radikalen Islam und vor dem Fremden ganz allgemein…

(Opernhaus Zürich)

 Was knapp 100 Jahre zuvor die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte, verzückte jetzt das Wiener Publikum: Die Geschichte einer jungen Dame und ihrer Dienerin, die in die Gefangenschaft eines Türken geraten, gedieh zum Kassenschlager. Handlung und Setting der Oper, die am 16. Juli 1782 im Burgtheater uraufgeführt wurde, entsprachen ganz der damaligen Türkenmode, die anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Zweiten Türkenbelagerung von Wien und des Siegs über die Türken allseits en vogue war…

(Staatsoper Wien, Premierenbericht : Die Welt der Habsburger)

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) : Entführung aus dem Serail , KV. 384 (Premiere: 1782) : Akt I : Arie des Osmin : Solche hergelaufne Laffen

Ernst Jandl (1925 – 2000)

Der Schriftsteller Ernst Jandl stellte seine Schriften einer ernststaunenden Öffentlichkeit vor. Weil er stellte sie um.

Seine Schriften. 

Der Dichter Ernst Jandl dichtete fiktionale Welten. Doch verwurzelt waren sie zumeist im realsozialen Überleben.

Seine Dichtungen.

Der Poet Ernst Jandl poetisierte All-, Kriegs-, Fest-, Hunds-, Freuden- und Bleitage. Für jede Aus-, Frei- & Jahreszeit.

Seine Poesie.

Der Performer Ernst Jandl performte seine Anliegen radikal überzeugend. Sprachgewaltig & herzrasend engagiert.

Seine Performräusche.

Der Förderer Ernst Jandl förderte eine junge, unbekannte, vergessene Künstlerschaft. Immer & überall & ungefragt.

Seine Förderlaunen.

Der Zeitgenosse Ernst Jandl war stets ein wachsam freigeistiger Genosse der Zeit. Ungebeugt & parteifern einsam.

Seine Zeitgenossenschaft.

Der Jazzliebhaber liebte bedingungslos ent- & begrenzten Jazz. Als Inspiration & Trostgeber für Lebens- & Trauerwelten.

Seine Jazzträume.

Seine Jazzräume: wohl kaum ein anderer Literat in Vergangenheit & Gegenwart war/ist mit solch einer lust- & last- & stunk- &  trankfreudigen (passiven) Musikalität begabt. Oder gesegnet. Oder belastet. Wie der Jazz beugte auch Ernst Jandl die Norm und das Normale zu elegantwilden, ihm gemäß erscheinenden Ausdruckstänzen. Und seine Wortkaskaden tanzen stets furiosvirtuos: stampfend, schwebend, wütend, bekennend, zärtlich, frostroh, sinnlich oder asketensholzig stolzasketisch.

Laut & luise, lechts & rinks von den vielen Schützengräben & Grabesschützen in den vielen klassenlosen Gesellschaften vieler Herren Länder bereinigt euch (bitte viel sehr vielmalig).

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich dankjandlig bin… (Verortung & Perspektive 2023)


Autograph (Partitur, 1747): La Dauphine : Jean-Philippe Rameau (1683-1764) 

Nur ganz wenige Musiker haben sowohl als Komponisten wie als Theoretiker eine vergleichbare Bedeutung wie Jean-Phillipe Rameau. Als Theoretiker legte er die Fundamente zum Verständnis der tonalen Musik. Zentrale, geschichtlich inzwischen vielfach abgewandelte Begriffe der Musiktheorie wie Tonika, Dominante und Subdominante gehen auf Rameaus in zahlreichen Schriften niedergelegte Lehre zurück. Der Komponist Rameau ist für seine virtuose und vielfältige Cembalomusik und als zentraler Meister der Tragédie lyrique, der französischen Sonderform der Oper, bekannt, die allerdings im deutschen Sprachraum seltener aufgeführt werden als in Frankreich.

Von 1722 an veröffentliche er mehrere Sammlungen von Cembalostücken (Pièces de clavecin), wobei es sich teils um Tanzsätze, teils um mit charakteristische Titeln versehene Genrestücke handelt, in denen er dem Instrument mit virtuosen Spieltechniken ganz neue Wirkungen abgewann und in neue Ausdrucksregionen vorstieß.

(Berliner Festspiele, 2019)

Jean-Philippe Rameau (1683-1764) : La Dauphine  

Flurkreuz (Hochtannbergpass)

• Wie mag es sein, nicht zu ahnen, was Auschwitz ist? 
Und wie mochte es gewesen sein, bei der Kreuzigung nicht zu wissen, wer auf das mittlere Kreuz geschlagen wurde?

Imre Kertész
(Auszug: László F. Földény: »Schicksallosigkeit. Ein Imre Kertész-Wörterbuch«, 2009)

Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von den „humanitären“ Segnungen zu reden! Irgend einen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich zu verewigen … Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! – 

Die „Gleichheit der Seelen vor Gott“, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist, – ist christlicher Dynamit… „Humanitäre“ Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums! – Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-, ihren „Heiligkeits“-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat, – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst …Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen … Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, den Einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, – ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900): (Auszug: »Der Antichrist«, 1888)

NEIN,
dieser Glaube an Christus ist keine bloße Vertröstung auf ein Jenseits, sondern eine Basis für Protest und Widerstand gegen Unrechtsverhältnisse hier und heute, getragen und gestärkt von einer unstillbaren Sehnsucht nach dem »ganz Anderen«.

Zugegeben:
Für Kriminologen und Pathologen des Christenrums ist diese oft verborgene Christusgeschichte ebenso uninteressant wie für bestimmte Journalisten, die der Tagessensation nachhetzen.
Es ist doch sehr viel leichter, von einem Bischofsskandal oder einer Papstreise zu berichten als von Pfarrern oder Pfarrerinnen vor Ort in den Gemeinden, die sich im Dienst an jungen und alten Menschen aufreiben und die diesen ihren Dienst auch noch frohen Herzens und aufrechten Ganges tun.
Es sind aber gerade diese Frauen und Männer, ob ordiniert oder nicht, die die Sache Jesu Christi weitertragen. Ja, es gab immer wieder Zeiten, wie wir sahen, da vom wahren Christentum im Leben und Treiben der Hierarchen und Theologen wenig zu beobachten war, wo aber noch immer jene zahllosen meist unbekannten Christen (»kleine Leute«, aber auch einige Bischöfe, Theologen und besonders Gemeindepfarrer und Ordensleute) da waren, die den Geist Jesu Christi wachhielten.
Was ist das für ein Geist, was für eine Kraft, die da überall am Werk ist?
Alles nur Zufall?
Alles nur Schicksal?
Alles nur strukturelle Konstellation?
NEIN,
für den glaubenden Christen ist hier zweifellos mehr im Spiel. Für ihn ist deutlich, dass es sich bei diesem wirkmächtigen Geist Jesu Christi nicht um einen unheiligen Menschengeist, sondern um den heiligen Geist, die Kraft und die Macht Gottes handelt: Gottes Geistesgegenwart im Herzen der Glaubenden und so auch der Glaubensgemeinschaft. Dieser Geist sorgt dafür, dass über das Christentum nicht nur geredet, geforscht, informiert und doziert wird, sondern dass es mit dem Herzen erfahren, erlebt und auch wirklich im Leben gelebt und verwirklicht wird – recht und schlecht, wie es halt so der Menschen Art ist, und im Vertrauen auf diesen Geist Gottes.
Und deshalb dürfen sich die Christen darauf verlassen, dass das Christentum auch im dritten Jahrtausend nach Christus eine Zukunft hat, dass dieser Geist- und Glaubensgemeinschaft eine eigene Art von »Unfehlbarkeit« eignet, die nicht darauf beruht, dass irgendwelche Autoritäten in bestimmten Situationen keine Fehler machen und Irrtümer begehen, sondern dass trotz aller Fehler und Irrtümer, Sünden und Laster die Gemeinschaft der Glaubenden durch den Geist in der Wahrheit Jesu Christi gehalten wird.

Hans Küng (1928 – 2021) :Theologe, römisch-katholischer Priester : (Auszug: »Das Christentum, 1994)
1979 wurde Hans Küng von der Deutschen Bischofskonferenz die kirchliche Lehrbefugnis entzogen.

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Messe in h-Moll, BWV 232 : Crucifixus (1748)

Hokusai (1740 – 1849): Die große Welle von Kanagawa (1831) : Holzschnitt (Aus : 36 Ansichten des Berges Fuji)
(Die Begegnung mit asiatischer Kunst war für Claude Debussy sehr bedeutsam; diesen Holzschnitt wählte er als Titelbild für die Erstausgabe der Partitur von » »La Mer : Trois esquisses symphoniques pour orchestre«).

• Wenn man sich mit der japanischen Kunst befasst, sieht man einen fraglos weisen, philosophischen und klugen Mann, wie er seine Zeit womit verbringt? Er studiert einen einzelnen Grashalm. Aber dieser Grashalm bringt ihn dazu, alle Pflanzen zu zeichnen, dann die Jahreszeiten, die weiten Landschaftsausblicke, schließlich die Tiere und die menschliche Gestalt. So bringt er sein Leben zu, und dieses ist zu kurz, um alles auszuführen. Man sieht: ist das nicht beinah eine wahre Religion…?

Vincent van Gogh (1853-1890)

Claude Debussy : Titelbildgestaltung der Erstausgabe von La Mer (1905)
Claude Debussy (1862 – 1918) : La Mer (1903 – 1905) : Trois esquisses symphoniques pour orchestre (Das Meer, drei symphonische Skizzen für Orchester) : III. Dialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux (Dialog zwischen Wind und Meer – lebhaft und stürmisch)

Georges Braque (1882 – 1963) : Aria de Bach (1913)

In der Kunst muß man sich mit den Entdeckungen begnügen und sich vor den Erklärungen hüten.

Georges Braque

• Zum Wesen des Kunstwerks gehört, dass es wohl Sinn hat, aber keinen Zweck.
Es ist weder um eines technischen Nutzens noch eines ökonomischen Vorteils noch einer didaktisch-pädagogischen Unterweisung und Besserung, sondern um der offenbarenden Gestalt willen da. 
Es beabsichtigt nicht, sondern »bedeutet«; es »will« nichts, sondern es »ist«.

Romano Guardini (1885 – 1968)

In den Erklärungen muß man sich mit den Entdeckungen begnügen und sich vor der Kunst hüten.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich klugscheißig bin… (Institut zur Verbesserung der Lage, 2023)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Suite für Laute solo, BWV 995 :  IV. Satz

Bedřich (Friedrich) Smetana (1824 – 1884)

Die Taubheit wäre noch ein erträglicher Zustand, wenn es dabei im Kopfe still bliebe. Die größte Qual bereitet mir jedoch das fast ununterbrochene Getöse im Inneren, das mir im Kopfe braust und sich zuweilen bis zu einem stürmischen Rasseln steigert. Dieses Dröhnen durchdringt ein Gekreische von Stimmen, das mit einem falschen Pfeifen beginnt und bis zu einem furchtbaren Geschrei ansteigt, als ob Furien und alle bösen Geister mit wütendem Gekreische auf mich losfahren würden. In diesem höllischen Lärm mischt sich dann das Geschmetter falsch gestimmter Trompeten und anderer Instrumente, und das alles übertönt und stört meine eigene Musik, die mir gerade aufklang oder aufklingt. Es bleibt mir schließlich nichts anderes übrig als meine Arbeit aufzugeben. Oft denke ich verzweifelt, wie das mit mir enden wird.

Friedrich Smetana : Brief aus dem Jahre 1880

 Smetana studierte Klavier und Komposition in Prag und versuchte zunächst eine Karriere als Konzertpianist. 1848–56 leitete er in Prag eine von ihm gegründete Musikschule. 1856 ging er nach Göteborg, wo er als Direktor einer philharmonischen Gesellschaft Konzerte gab und unterrichtete. 1859 kehrte er wegen der Erkrankung seiner ersten Frau kurzzeitig nach Prag zurück, setzte aber noch im gleichen Jahr seine Arbeit in Göteborg fort. Die endgültige Rückkehr nach Prag erfolgte 1861.

Nach einer mühseligen Übergangszeit wurde er 1866 Dirigent am tschechischen Nationaltheater, wo er auch eigene Opern aufführte. Wegen einer zunehmenden Taubheit musste Smetana 1874 das aktive Musikleben aufgeben. Seine kompositorische Arbeit führte er jedoch intensiv weiter. Erst 1882, verstärkt 1883, zeigten sich Symptome einer Geisteskrankheit, die bis zu völliger Umnachtung fortschritt.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Bedřich (Friedrich) Smetana : Streichquartett Nr. 1 in e-Moll (Aus meinem Leben) : IV. Satz : Vivace (1874)
(Smetana thematisiert die beginnende Taubheit durch plötzlichen Abbruch des brillanten Finalsatzes und dessen Weiterführung in eine resignativ-nachdenklichen Coda.) 
Bedřich (Friedrich) Smetana : Streichquartett Nr. 2 in d-Moll : I. Satz : Andante (1883)
(Smetana komponierte dieses Streichquartett bereits in völliger Taubheit.)

Otto Dix (1891 – 1961) : Die sieben Todsünden (1933) 
(Von unten nach oben : Gier, Neid, Trägheit, Lust, Zorn, Hochmut, Völlerei)

 Die Familie

Da ist ein Brief aus Philadelphia:
Anna geht es gut.
Sie verdient jetzt endlich.
Sie hat einen Kontrakt als Solotänzerin.
Danach darf sie nicht mehr essen, was sie will und wann sie will.
Das wird schwer sein für unsre Anna,
Denn sie ist doch so sehr verfressen.
Ach, wenn sie sich da nur an den Kontrakt hält,
Denn die wollen kein Nilpferd in Philadelphia.

Sie wird jeden Tag gewogen.
Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt,
Denn die stehen auf dem Standpunkt:
52 Kilo haben wir erworben,
52 Kilo ist sie wert.
Und was mehr ist, ist vom Übel.

Aber Anna ist ja sehr verständig,
Sie wird sorgen, daß Kontrakt Kontrakt ist.
Sie wird sagen: Essen kannst du schließlich in Louisiana, Anna.

Hörnchen! Schnitzel! Spargel! Hühnchen!
Und die kleinen gelben Honigkuchen!
Denk an unser Haus in Louisiana!
Sieh, es wächst schon, Stock- um Stockwerk wächst es!
Darum halte an dich: Freßsucht ist vom Übel.
Halte an dich, Anna,
Denn die Freßsucht ist vom Übel.

Bertolt Brecht (1898 – 1956) : Die sieben Todsünden der Kleinbürger (Ballettlibretto, 1933) : Völlerei (Gula)

Kurt Weill (1900 – 1950) : Die sieben Todsünden  : Ballett (1933) : Viertes Bild : Völlerei (Gula)

Robert Gernhardt (1937 – 2006) : Schriftsteller, Dichter & Maler

Ich litt nicht am Krebs, nur unter der Therapie

Es gibt Daten, die man nie vergißt. Bei mir ist es der Juli 2002. Einige Zeit zuvor hatten wir Gäste. Ein jüngerer Mann erzählte meiner Frau und mir von seinen regelmäßigen medizinischen Kontrolluntersuchungen in der Wiesbadener Klinik für Diagnostik. Uns leuchtete das ein, und wir vereinbarten einen Termin in der Klinik. Ich ging völlig unbelastet dorthin, doch bei der Darmspiegelung wurde ein Tumor entdeckt: Darmkrebs. Im August wurde operiert, es mußte alles sehr schnell gehen. Es waren Lebermetastasen festgestellt worden.

Ein guter Freund von mir hatte vor vielen Jahren Darmkrebs. Doch bei ihm hatte sich der Krebs durch Beschwerden geäußert. Es war der erste Krebsfall in unserem nahen Umfeld, und wir waren alle geschockt; heute ist er seit vielen Jahren ohne Befund. Anders bei mir. Ein junger Arzt sagte mir nach dem Befund, bei mir kämen wohl nur noch palliative Maßnahmen in Frage. Das bedeutete, ich würde nie wirklich gesunden. Vermutlich hatte er recht, dennoch hätte er es nicht so beiläufig sagen sollen.

Mein Operateur schlug eine Chemotherapie vor, aber ich wollte meinen Körper testen, ob er allein damit zu Recht kam. Ich empfand das nicht als Risiko, ich fühlte mich gesund und war guten Mutes. Ein Alternativmediziner riet mir zu einer Wärmetherapie und anderen Mitteln. Doch als ich in seine Praxis kam, in der Informationsmaterial aus den achtziger Jahren auslag, entschied ich mich dagegen.

Der Professor an der Universitätsklinik reagierte völlig entgeistert, als er erfuhr, daß ich nicht zuerst den Weg der Schulmedizin gehen wollte. Er hatte recht. Eine zweite Operation mußte vorgenommen werden. Ich hatte nicht mit Rezidiven gerechnet, aber nun wußte ich, daß ich das ernst nehmen mußte.

Im März 2003 begann ich also doch mit der Chemotherapie in Frankfurt. Später eröffnete sich die Möglichkeit, die Therapie auch in einer Krebsambulanz in Italien, wo ich seit dreißig Jahren drei bis vier Monate im Jahr lebe, zu machen. Die Ärzte in Deutschland unterstützten mich dabei sehr und klärten vieles für mich, denn es sollte ein neues Mittel angewandt werden, das in Italien noch nicht zugelassen, aber zur Verwendung freigegeben war. Deshalb gaben sie mir das Medikament in einer Kühlbox mit. Es war wohltuend, so an der langen Leine zu sein. Für mich war es sehr wichtig, daß die Grundpfade meines Lebensweges nicht unbegehbar wurden, denn das hätte den Verlust von Lebensqualität mit sich gebracht, die mir sehr viel bedeutet.

Die Chemotherapie dauert, mit kurzen Unterbrechungen, bis heute an, doch ich habe all die Jahre so weiter gemacht wie zuvor, mache Lesungen und Auftritte. Da gab es keine Pause. Manchmal erhielt ich morgens die Infusion, und hielt abends eine Lesung, auch wenn ich natürlich die Nebenwirkungen der Chemotherapie kennen lernen mußte. Ich hatte Ameisen in den Fingern, ein Taubheitsgefühl in den Zehen, die Schleimhäute waren angegriffen. Das Medikament Irenotecan bewirkt Haarausfall und Durchfall. Und, was schlimmer ist, die Libido wird gedämpft. Eine Erfahrung, mit der man erst einmal zurechtkommen muß, aber es regeneriert sich zum Glück schnell wieder.

Bei einem anderen Mittel hatte ich mit starker Mattigkeit zu kämpfen. Bei manchen setzte die Wirkung sofort ein, bei anderen zeitversetzt. Ich mußte lernen, damit umzugehen.

Dennoch nahm ich all das nicht als Kampf mit dem Körper wahr, auch der Geist kann sich Gehör verschaffen. Ich habe in der letzten Zeit viel gezeichnet. Zeichnen ist im Vergleich zum Schreiben eine noch intensivere Tätigkeit. Auf diese Weise habe ich über weite Strecken die Nebenwirkungen gar nicht gespürt. Ich hatte Termine und setzte mir auch selbst welche. Das ging gut und war wichtig. Ich habe bisher alle Aufgaben erledigt, durchaus auch Anforderungen heiterer Art. Eine Schweizer Zeitung fragte zum Beispiel an, ob ich ein Gedicht zum Thema „Hast du das Sonnenöl dabei?“ verfassen könne. So verbrachte ich den Vormittag in der Krebsambulanz damit, mir einen Reim auf Sonnenöl zu machen, während das Gift in mich hineintropfte. Das habe ich auch bei anderen Chemos so gehalten. In dieser Zeit habe ich viele essayistische und komische Texte geschrieben.

Zur Zeit ist meine gefühlte Gesundheit gut, die gemessene nicht. Als ich die Diagnose erhielt, entnahm ich Statistiken, daß mir eine Lebenserwartung von zwanzig Monaten prognostiziert wurde. 

Das habe ich jedoch nie so ganz ernst genommen. Über diesen Zeitpunkt bin ich nun auch schon weit hinaus, und ich glaube, es könnte auch so weitergehen.

Robert Gernhardt : Veröffentlicht am 03.07.2006 : Die Welt

Bebe Barron (1925 – 2008) & Louis Barron (1920 – 1989) : Battle with the Invisible Monster

Verlobungsphoto : Virginia & Leonard Woolf (1912)

 Liebster, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde. Ich glaube, dass wir eine solche schreckliche Zeit nicht noch einmal durchmachen können. Und diesmal werde ich nicht wieder gesund werden können. Ich höre Stimmen, und ich kann mich nicht konzentrieren. Darum tue ich, was mir in dieser Situation am Besten scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du bist mir alles gewesen, was einem einer sein kann. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen haben glücklicher sein können – bis die schreckliche Krankheit kam. Ich kann nicht länger dagegen ankämpfen. Ich weiß, dass ich dir dein Leben ruiniere und dass Du ohne mich würdest arbeiten können. Und ich weiß, du wirst es tun. Du siehst, nicht einmal das kann ich richtig hinschreiben. Ich kann nicht lesen. Was ich sagen möchte, ist, dass ich alles Glück meines Lebens Dir verdanke. Du bist unglaublich geduldig mit mir und unglaublich gut zu mir gewesen. Das möchte ich sagen – jeder weiß es. Hätte jemand mich retten können, wärest Du es gewesen. Alles, außer der Gewissheit deiner Güte, hat mich verlassen. Ich kann dein Leben nicht länger ruinieren. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen hätten glücklicher sein können, als wir gewesen sind.

Virginia Woolf : Abschiedsbrief an ihren Gatten Leonard Woolf am Tage ihres Selbstmordes (28. März 1941)

Johann Sebatian Bach (1685 – 1750) : Konzert für 2 Violinen in D-Moll, BWV 1043 : II. Largo ma non tanto

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Kunst der Fuge, BWV 1080 (1742 – 1746) : Contrapunctus XIV : Erstausgabe 1751.
Letzte Seite des Autographen mit der unvollendeten Fuge infolge zunehmender Erblindung und der Anmerkung Carl Philipp Emanuel Bachs: »NB: ueber dieser Fuge, wo der Nahme B A C H im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfaßer gestorben.« 

 Johann Sebastian Bach litt an einer Sehschwäche. Der 65-jährige Thomaskantor hatte, wie es der Verfasser seines Nachrufs in zeitgenössischer Diktion ausdrückte, ein »von Natur aus blödes Gesicht« – was bedeutete: er hatte immer schon schlechte Augen. Da Bach einen großen Teil seines Lebens mit Komponieren und Schreiben unter oft ungenügenden Lichtverhältnissen verbrachte, war er höchstwahrscheinlich kurzsichtig. Auf dem berühmten, 1748 von dem Maler Elias Gottlob Hausmann geschaffenen Portrait Johann Sebastian Bachs meinen Augenärzte die typische Faltenbildung zwischen den Brauen entdeckt zu haben – die Folge von jahrelangem Zusammenkneifen der Augen, so wie es Kurzsichtige ohne Brille oft tun.

Mit zunehmenden Alter nahm Bachs Sehvermögen weiter ab, und die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist eine altersbedingte Linsentrübung, der graue Star (Katarakt). In früheren Jahrhunderten wurde diese altersbedingte Augenerkrankung nicht von speziell ausgebildeten Ärzten, sondern von durch die Lande ziehenden »Starstechern« operiert. Barbiere, die nicht selten auch andere chirurgische Eingriffe wie Entfernung von Blasensteinen vornahmen. Der berühmteste dieser reisenden Starstecher war der Engländer John Taylor. Der wahrscheinlich 1703 in Norwich geborene Taylor gilt Medizinhistorikern als das Musterbeispiel eines Quacksalbers, der vielen seiner Patienten nur (weiteres) Elend brachten.

Rund eine Woche nach dem ersten Starstich kam es zu einem zweiten Eingriff, ob am gleichen oder dem anderen Auge ist nicht bekannt. Taylor soll übrigens bevorzugt linke Augen operiert haben – unabhängig vom Befund! Nach den beiden Eingriffen verschlechterte sich der Gesundheitszustand Bachs zunehmend. Ob diese die Folge des Eingriffs war, ist umstritten; sollte dies jedoch der Fall gewesen sein, drängt sich der Verdacht einer schleichenden Infektion auf, die schließlich auf den Gesamtorganismus übergriff. Die zeitgenössische Angabe der Todesursache – »hitsiges Fieber« – würde dazu passen. Möglicherweise hatte der übergewichtige Musiker auch Diabetes Typ 2, der nach Eingriffen außer Kontrolle geriet. Johann Sebastian Bach verließ diese Welt am Abend des 28. Juli 1750.

Ronald D. Gerste (*1957) : Wie Krankheiten Geschichte machen (Stuttgart 2019)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Kunst der Fuge, BWV 1080 (1742 – 1746)  : Contrapunctus XIV
Von den Herausgebern des Erstdruckes wurde posthum die Choralbearbeitung von J. S. Bach : »Vor deinen Thron tret’ ich hiermit« (BWV 686) angefügt:

»Nachricht.

Der selige Herr Verfasser dieses Werkes wurde durch seine Augenkrankheit und den kurz darauf erfolgten Tod ausser Stande gesetzet, die letzte Fuge, wo er sich bey Anbringung des dritten Satzes namentlich zu erkennen giebet, zu Ende zu bringen; man hat dahero die Freunde seiner Muse durch Mittheilung des am Ende beygefügten vierstimmig ausgearbeiteten Kirchenchorals, den der selige Mann in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegereif in die Feder dictirert hat, schadlos halten wollen.« 


Johannes Brahms (1833 – 1897) : Flucht in die Sommerfrische (Salzkammergut 1893)

 Es ist behauptet worden, daß Brahms’ Umgangsformen oft von einer gewissen Trockenheit gekennzeichnet waren. Das war nicht der »unbekannte« Brahms. Wien kannte seine Art, sich mit einem schützenden Wall von Grobheit zu umgeben als Verteidigung einer gewissen Menschensorte, gegen die Aufdringlichkeit öligen Schwulstes, triefender Schmeichelei und honigsüßer Unverschämtheit.
Es ist nicht unbekannt, daß jene lästigen Langweiler, jene Sensationslüsternen, die hinter einer guten Anekdote herjagten, und jene taktlosen Eindringlinge in das Privatleben kaum mehr als Trockenheit erfuhren. Wenn die Schleusen der Beredsamkeit geöffnet waren und ihn die Flut zu verschlingen suchte, bildete Trockenheit keinen Schutz mehr. Deshalb war er oft gezwungen, seine Zuflucht zur Grobheit zu nehmen. Allerdings mögen seine Opfer schweigend übereingekommen sein, das, was ihnen widerfahren sei, scherzhaft als »Brahmsische Trockenheit« zu bezeichnen; und es ist wohl anzunehmen, daß jeder einzelne sich über das Mißgeschick des anderen freute, aber dachte, ihm selbst sei Unrecht geschehen. Trockenheit oder Grobheit, eines ist gewiß: Brahms wollte auf diese Weise keine Hochachtung ausdrücken.

Arnold Schönberg (1874 – 1951) : Brahms, der Fortschrittliche (Auszug, 1933)

Wenn es denn möglich sein sollte: Lieben (& hören) Sie Brahms…?
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter Gelassenheit zu präsentieren…
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter zu der Gelassenheit so etwas wie Weisheit zu entwickeln…
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter Gelassenheit & Weisheit mit Humor & Sentiment zu verbinden…
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter Gelassenheit & Weisheit mit Humor & Sentiment in Klänge zu verwandeln…
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter jene Klänge auf das unbedingt Notwendige zu verdichten… 
Wenn es denn möglich sein sollte, im Alter mit den nun entstandenen Kostbarkeiten die Herzen jeder Generation zu erreichen…
Wenn es denn möglich sein sollte, dann dürfte es auf Opus 117, 118 & 119 von Johannes Brahms zutreffen.
Wenn es denn nicht möglich sein sollte, diesen »KlavierKlangKosmos« in Worte zu fassen?
Wenn es denn nicht möglich sein sollte, zuhörend zu schweigen & träumen & trauern…
Wenn dies alles nicht möglich sein sollte, dann entgeht uns Wesentliches: Gelassenheit & Weisheit & Humor & Sentiment.
Und absolut Notwendiges: Trost.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich brahmsig bin… (Verortung & Perspektive, 2023)

Johannes Brahms (1833 – 1897) : 4 Klavierstücke op.119 (1893) : I. Intermezzo

Monument : Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz (Sachsen) : Von 1953 – 1990 in Karl-Marx-Stadt (DDR) umbenannt.

Dieses Bekenntnis, dass die Zukunft den Kommunisten gehört, dieses Bekenntnis machte ich im Ton der Besorgnis und äußersten Furcht, und -ach! das war keineswegs Verstellung! 

Wahrhaftig, nur mit Schauder und Schrecken denke ich an die Zeit, da diese finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden; mit ihren schwieligen Händen werden sie erbarmungslos alle Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen, die meinem Herzen so teuer sind; sie werden all jene Spielereien und phantastischen Nichtigkeiten der Kunst zerschmettern, die der Dichter so liebte; sie werden meine Lorbeerhaine zerstören und dort Kartoffeln anpflanzen; die Lilien,  die weder spannen noch arbeiten und doch ebenso herrlich gekleidet waren wie der König Salomo in seiner Pracht,

sie werden ausgerissen werden aus dem Boden der Gesellschaft, es sei denn, sie nehmen die Spindel zur Hand; die Rosen, jene müßigen Bräute der Nachtigallen, wird das gleiche Geschick treffen; die Nachtigallen, jene unnützen Sänger, werden vertrieben werden, und – ach! – mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird.

Ach! Ich sehe all dies voraus, und ich bin von einer unaussprechlichen Traurigkeit ergriffen, wenn ich an den Untergang denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse bedroht, die mit der ganzen romantischen Welt vergehen werden.

Und dennoch, ich bekenne es mit Freimut, übt eben dieser Kommunismus, so feindlich er allen meinen Interessen und Neigungen ist, auf meine Seele einen Reiz aus, dem ich mich nicht entziehen kann; zwei Stimmen erheben sich in meiner Brust zu seinen Gunsten, zwei Stimmen, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen wollen, die vielleicht im Grunde nur teuflische Einflüsterungen sind – aber was immer sie seien, ich bin davon besessen, und keine Macht der Teufelsbeschwörung kann sie bändigen.

Denn die erste dieser Stimmen ist die der Logik. Der Teufel ist ein Logiker! sagte Dante. Ein fürchterlicher Syllogismus hält mich umstrickt, und wenn ich diesen ersten Satz nicht widerlegen kann, ›dass alle Menschen das Recht haben zu essen‹, so bin ich gezwungen, mich allerlei anderen Folgerungen zu unterwerfen. Wenn ich daran denke, so laufe ich Gefahr, den Verstand zu verlieren. Ich sehe alle Dämonen der Wahrheit mich im Triumph umtanzen, und schließlich bemächtigt sich meines Herzens eine großmütige Verzweiflung, und ich rufe aus: sie ist schon seit langem gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft! Möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen! Möge sie zerbrochen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo die Selbstsucht gedieh, wo der Mensch vom Menschen ausgebeutet wurde! Mögen sie von Grund auf zerstört werden, diese übertünchten Grabstätten, in denen die Lüge und die Verderbnis herrschen! Und gesegnet sei der Gewürzkrämer, der einst aus meinen Geschichten Tüten drehen wird, um Kaffee und Tabak für die armen, alten Weiber hineinzuschütten, die sich vielleicht in unserer jetzigen Welt der Ungerechtigkeit eine solche Annehmlichkeit haben versagen müssen – Fiat Justitia, Pereat Mundus!

Die zweite der beiden gebieterischen Stimmen, die mich umstricken, ist noch mächtiger und noch infernalischer als die erste, denn sie ist die des Hasses, des Hasses, den ich gegen eine Partei hege, deren schrecklicher Gegner der Kommunismus und die aus diesem Grunde unser gemeinsamer Feind ist. Ich spreche von derPartei der so genannten Repräsentanten der Nationalität, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe in nichts anderem besteht als in einer idiotischen Abneigung gegen das Fremde und gegen die Nachbarvölker, und die jeden Tag ihre Galle verspritzten.

Heinrich Heine (1797 – 1856) : (Auszug : »Lutetia«, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, geschrieben für die Augsburger »Allgemeine Zeitung«, 1854  als Buch erschienen)

 Der Menschmacht die Religiondie Religion macht nicht den Menschen. 

Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein des Menschen, der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, ausser der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des MenschenStaat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.

Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Pont-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihrer moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichungdes menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöseElend ist in einem der Ausdruckdes wirklichen Elends und in einem die Protestaktiongegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischenGlücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichenGlücks. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderungeinen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.

Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.

Es ist also die Aufgabe der Geschichtenachdem das Jenseits der Wahrheitverschwunden ist, die Wahrheit des Diesseitszu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophiedie im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestaltder menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestaltenzu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religionin die Kritik des Rechtsdie Kritik der Theoriein die Kritik der Politik.

Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominemdemonstriert, und sie demonstriert ad hominemsobald sie radikal wird.

Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positivenAufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischem Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!

Karl Marx (1818-1883) : Die Waffe der Kritik (Auszug, 1844)

Vorwärts (und nicht vergessen) : Arbeiterlied : Musik Hanns Eisler/Text Bert Brecht : Instrumentalversion : Goebbels/Hardt (1977)

Buch-Cover : Christian Morgenstern (1871 – 1914) : Galgenlieder (1905)

Venus-Palmström-Anadyomene

Palmström wünscht sich manchmal aufzulösen,
wie ein Salz in einem Glase Wasser,
so nach Sonnenuntergang besonders.
Möchte ruhen so bis Sonnenuntergang
und dann wieder aus dem Wasser steigen –
Venus-Palmström-Anadyomene…

Christian Morgenstern : Galgenlieder

Hanns Eisler (1898 – 1962) : Palmström Op. 5 (1924) : Studien für Zwölftonreihen : I. Satz

 Die Kugeln

Palmström nimmt Papier aus seinem Schube.
Und verteilt es kunstvoll in der Stube.

Und nachdem er Kugeln draus gemacht.
Und verteilt es kunstvoll, und zur Nacht.

Und verteilt die Kugeln so (zur Nacht),
daß er, wenn er plötzlich nacht erwacht,

daß er, wenn er nachts erwacht, die Kugeln
knistern hört und ihn ein heimlich Grugeln

packt (daß ihn dann nachts ein heimlich Grugeln
packt) beim Spuk der packpapiernen Kugeln…

Christian Morgenstern : Galgenlieder

Hanns Eisler : Palmström Op. 5 (1924) : Studien für Zwölftonreihen : II. Satz (Notturno)

 L’art Pour L’ art

Das Schweigen eines aufgeschreckten Sperlings
begeistert Korf zu einem Kunstgebilde,
das nur aus Blicken, Mienen und Gebärden
besteht. Man kommt mit Apparaten,
es aufzunehmen; doch v. Korf >entsinnt sich
des Werks nicht mehr<, entsinnt sich keinen Werkes mehr
anläßlich eines >aufgeregten Sperlings<.

Christian Morgenstern : Galgenlieder

Hanns Eisler : Palmström Op. 5 (1924) : Studien für Zwölftonreihen : III. Satz

 Galgenbruders Frühlingslied

Es lenzet auch auf unserm Spahn,
o selige Epoche!
Ein Halmlein will zu Lichte nahn
aus einem Astwurmloche.

Es schaukelt bald zum Winde hin
und schaukelt bald drin her.
Mir ist beinah, ich wäre wer,
der ich doch nicht mehr bin.

Christian Morgenstern : Galgenlieder

Hanns Eisler : Palmström Op. 5 (1924) : Studien für Zwölftonreihen : IV. Satz

 Tapetenblume

Tapetenblume bin ich fein,
kehr wieder ohne Ende,
doch, statt im Mai’n und Mondenschein,
auf jeder der vier Wände.

Du siehst mich nimmerdar genug,
soweit du blickest im Stübchen,
und folgst du mir per Rösselsprung –
wirst du verrückt, mein Liebchen.

Christian Morgenstern : Galgenlieder

Hanns Eisler : Palmström Op. 5 (1924) : Studien für Zwölftonreihen : V. Satz

Traditionelle Notenschrift : Korea (15. Jahrhundert)

Im Westen war das Fremde lange Zeit Gegenstand gewaltsamer Ausschließung oder Vereinnahmung. Es war nicht im Inneren des Eigenen. Und heute? Gibt es noch das Fremde? Derzeit gibt man sich gerne dem Glauben hin, alle glichen irgendwie einander. So verschwindet das Fremde wieder aus dem Inneren des Eigenen. Es ist heilsam, einen Raum für das Fremde bei sich freizuhalten. Das wäre ein Ausdruck der Freundlichkeit, die es auch möglich macht, dass man sich anders wird.

Byung-Chul Han (*1959) :  »Abwesen«, 2007 (Auszug)

• Die Sonne geht unter.
Mein Wunsch: Unter dem kugelrunden Vollmond ein Wolf zu werden.

Ko Un (*1933) : Blüten des Augenblicks : Gedichte Aus dem Koreanischen (2011)

Daegeum (große Bambusflöte) – Sanjo (verstreute Melodie) : Traditionelle koreanische Volksmusik.

Nō-Theatermaske : Je nach Neigung der Maske ergibt sich ein anderer Gesichtsausdruck.

Nō-Theater

im 14. Jahrhundert aus volkstümlichen und sakralen Spielen entstandene japanische Theatergattung, unter dem Patronat des Schwertadels zum lyrischen Tanztheater herangereift. Als Dramatiker und Spieler prägten insbesondere Kanami Kiyotsugu (* 1333, † 1384) und dessen Sohn M. Zeami die Entwicklung des Nō. Inhalte: In Struktur und im Gedankengut stark buddhistisch geprägt, thematisiert es (in Traumspielen) Verwandlung und Epiphanie. Die lyrischen Texte sind höfischen Dichtformen (Kettendichtung) verpflichtet und basieren auf der Hochsprache der Heianzeit (794–1185). Gestik, Choreografie und Musik (Flöte und drei Trommeln unterschiedlichen Formats) vereinen volkstümliche und höfische Elemente (Einfluss der Kriegerkünste, Budo). Aufführungspraxis: Die Masken – aus Holz geschnitzt und bemalt, kleiner als beim Bugaku und flach – sind realistisch porträthaft (Frauen- beziehungsweise Männermasken) oder grotesk überhöht (Gottheiten und Dämonen). Traditionell agieren ausschließlich männliche Darsteller (auch in Frauenrollen; ein Hauptspieler sowie Nebenspieler), die ihre Kunst in Schulen pflegen (geheim überlieferte Traktate und mündliche Überlieferung; heute fünf Schulen der Hauptspieler). Ursprünglich wurde das Nō als Freilichtaufführung (mit verschiedenen Bühnenformen) präsentiert. 

Ab circa 1600 – nun als zeremonielle Kunst des Shogunats – entwickelte sich die heute geltende Standard-Bühne: quadratische Spielfläche nach drei Seiten hin offen; lange Brücke links von den Garderoben zur Bühne; Seitenstreifen für den Chor rechts; dekorativ-symbolisches Bild (alte Kiefer) an der Rückwand; geschwungenes Dach. Repertoire: Die Nō-Stücke bzw. Nō-Spiele – mehr als 200 bilden das überlieferte Repertoire – werden meist in fünf Gruppen eingeteilt (Götter-, Helden-, Zeit- und Irrsinnsstücke sowie Geisterstücke) und bildeten in dieser Ordnung auch eine Programmfolge. – Zur Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden Nō-Aufführungen in der Gegenwartssprache. Y. Mishima verknüpfte dabei traditionelle Themen mit zeitgenössischen Fragestellungen.

Im heutigen Nō-Theater hat sich das Spieltempo deutlich verlangsamt und das Programm ist (von ursprünglich bis zu 25 Dramen pro Tag) auf gewöhnlich zwei Stücke reduziert (mit einem Kyogen-Lustspiel dazwischen). Wertvolle, zum Teil mittelalterl. Masken und alte kostbare Kostüme werden von einigen der derzeit 1500 professionellen Nō-Spieler weiterhin verwendet.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Als ich anfing zu komponieren, haßte ich alles, was aus Japan kam.
Aber nach meinem Studium der Westlichen Musik entdeckte ich unsere eigene Tradition, und allmählich begann ich mich mit ihr zu befassen, sie zu studieren…
Daß JOHN CAGE östliche Denkweisen im Bereich der Westlichen Musik hoffähig gemacht hatte, bestärkte mich sehr in meinem nach zehn Jahren des Studiums Westlicher Musik frisch erwachten Interesse für japanische und andere östliche Traditionen… 
Ich würde mich gern in zwei Richtungen auf einmal entwickeln, als Japaner, was die Tradition, als Westler, was die Neuerungen betrifft…
Ich will diesen fruchtbaren Widerspruch nicht aufheben, im Gegenteil, ich möchte, daß diese Blöcke miteinander streiten.
So vermeide ich meine Isolierung von der Tradition und kann doch mit jedem neuen Werk in die Zukunft vordringen.

TORÛ TAKEMITSU (1930 in Tokio – 1996 in Tokio)

Nō-Theatermaske : „Ko-jo« (Alter Mann)
Nō-Theatermusik : Gaku (Altjapanische Dramengattung)

Louis Carrogis Carmontelle (1717 – 1806) : Monsieur Rameau  (1760)

 Brücken verbinden
über Wasser, was unter Wasser
bereits verbunden ist.

Erasmus von Rotterdam (1466/1467/1469 – 1536)

Claude Debussy (1862 – 1918) : Images – Série 1 (1904) : 2. Hommage à Rameau

Callgirl I

»Es ist über ein erstklassiges Callgirl. Ich versuche damit auszudrücken, dass auch elegante Menschen Nutten sein können. Darum geht es in diesem Lied, obwohl ich es vorziehe, dass die Leute es auf ihre Weise interpretieren – daraus herauslesen, was sie wollen.«

Freddie Mercury (1946 – 1991) : Leadsänger der Rockband Queen über den von ihm verfassten Text »Killer Queen«

Callgirl II
Queen (*1970) : Killer Queen (1974)

Maurice Ravel (1875 – 1937) : Von Ravel selbst gezeichnetes Titelblatt der Komposition  »Le tombeau de Couperin« (Klavierfassung) : Erschienen im Musikverlag Jacques Durand & Cie. (Paris 1918)

Es wäre meiner Meinung nach sogar gefährlich für die französischen Komponisten, systematisch die Produktionen ihrer ausländischen Kollegen zu ignorieren und so eine Art nationaler Clique zu formieren: unsere derzeit so reiche Tonkunst würde unweigerlich degenerieren und sich in schablonenhaften Formeln einschließen.

Mich kümmert es wenig, daß zum Beispiel Monsieur Schönberg Österreicher ist. Er ist nichtsdestoweniger ein Musiker von hohem Wert, dessen überaus interessante Recherchen nicht allein auf einige Komponisten alliierter Länder, sondern sogar bei uns positiven Einfluß gezeitigt haben.

Mehr noch: Ich bin ausgesprochen erbaut davon, daß die Herren Bartók, Kodály und ihre Schüler Ungarn sind und daß sie das in ihren Werken so glutvoll zum Ausdruck bringen.

MAURICE RAVEL

(mit dieser Erklärung begründete Maurice Ravel seinen Entschluss, der »Nationalen Liga zur Verteidigung der Französischen Musik“ nicht beizutreten)

Tradition bedeutet nicht das Sammeln von Asche, sondern das Weitergeben einer Flamme.

Silvius Magnago (1914 -2010)

Le tombeau der Ravel : Grabmal von Maurice Ravel in Levallois-Perret.
François Couperin (1668 – 1733) : 
Concerts Royaux IV  (1722) : VII Forlane : Rondeau 
(Eine der »Musikalischen Quellen« für M.Ravel’s Komposition »Le tombeau de Couperin«.)
Maurice Ravel (1875 – 1937) : Le tombeau de Couperin (Orchesterfassung, 1919) : II Forlane (Rondeau)

Gustav Klimt (1862 – 1918) : Bauerngarten (1907)

Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden.

Ludwig Uhland (1787 – 1862)

Franz Schubert (1728 – 1828): Frühlingsglaube : Op. 20 No. 2, D. 686 (1820)

Amy Casey (*1976) : No Place Like Home

• Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Habgierig sind die Herzen, 
jeder beraubt seinen Nächsten…

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Das Gesicht des Bösen strahlt,
denn das Gute ist überall zu Boden geworfen.

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Wer einen Mann wegen seiner Schlechtigkeit angreift,
der bringt alle Bösewichter zum Lachen…

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Der Schurke ist zum Vertrauten geworden,
der Bruder, mit dem man lebte, zum Feind.

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
An gestern erinnert man sich nicht mehr,
nichts wird getan für den, der einst Gutes tat…

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Die Gesichter sind verstört,
jedermann senkt den Blick vor seinen Angehörigen.

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Habgierig sind die Herzen,
auf das Herz eines Mannes ist kein Verlass.

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Einen Gerechten gibt es nicht mehr,
die Welt bleibt dem überlassen, der Übles tut…

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Mit Elend bin ich beladen,
weil mir ein Vertrauter fehlt.

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Das Elend, welches die Welt schlägt,
es hat kein Ende!

Ägyptischer Klagevers (2000 v. Chr.)

Zu wem soll ich heute noch sprechen?
Zu den Elenden, Vertrauten, Gerechten, Habgierigen, Angehörigen, Wohltätern, Schurken, Schlechten, Bösewichten, Guten.
Über was soll ich heute noch sprechen?
Über das Warum, Weshalb, Wozu, Womit, Wofür, Wohin, Wodurch, Wieviel.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich zorntobig bin… (Institut zur Verbesserung der Lage, 2003 n. Chr.)

Bennie Wallace (*1946) : Sweeping Through the City (1984) : Eight Page Bible

Carl Spitzweg (1808 – 1885) : Mondnacht (1880)

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt’.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)

Robert Schumann (1810 – 1856) : Liederkreis, Op. 39 (1840) : Mondnacht

Michael Bruckner (*1980) : Fischmarkt in Seoul (Makrophotographie)

Es geht der Frühling.
Vögel weinen, im Auge
der Fische – Tränen.

Matsuo Bashô (1644-1694)

 makroPHONIA:

Vom Lob des Schattens und dem Licht der kleinen Dinge.
Vom Lob der kleinen Dinge und dem Licht des Schattens.
Von den Dingen im Schatten und dem Lob des kleinen Lichtes.
Von den Schatten der kleinen Dinge und dem Licht des Lobes. 

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich lichtschattenlobig bin… (Institut zur Verbesserung der Lage 2023)

Michael Bruckner/Renald Deppe : makroPHONIA II

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