Verortung & Perspektive _51

Die Strudlhofstiege zu Wien im 9. Wiener Gemeindebezirk
Würstelstand 18. Dezember 2022

Heimito von Doderer 
(1896 – 1966)

Die Strudlhofstiege
oppure
Melzer und die Tiefe der Jahre

Roman
Jubiläumsausgabe 2013
Verlag C.H. Beck, München 1995

Wien in den Jahren 1910/11 und 1923 bis 1925. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Amtsrat und Major a. D. Melzer, dessen Leben irgendwie immer an ihm vorbeiläuft, bis er endlich doch zu sich selbst findet. 

„Die Strudlhofstiege“ ist Heimito von Doderers bekanntestes und beliebtestes Werk. 

Mit diesem vielschichtigen, von souveränem Humor erfüllten „Roman einer Epoche“ hat sich Doderer einen unbestrittenen Platz in der deutschen Literatur geschaffen. Doderers wahrhaftig phänomenaler Roman ist mehr als eine minutiös echte, bezaubernde und sublim-amüsante Schilderung der vielschichtigen Wiener Gesellschaft jener Jahre. 

„Die Strudlhofstiege“ ist ein raffinierter, psychologischer, durch und durch moderner Roman. 

Doderer erweist sich als geradezu virtuoser Regisseur seiner so zahlreichen Akteure; wie er sie immer wieder zur symbolisch-schicksalhaften Strudlhofstiege zu lotsen weiß, ist eine kompositionelle Meisterleistung. 

Dazu kommt Doderers köstliche Sprache.

(Klappentext)

Georg Kreisler (1921 – 2011) : Wie schön wäre Wien ohne Wiener (1965)

Perspektive 51

Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.

Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.

(Heimito von Doderer: Auf die Strudlhofstiege zu Wien)

Dieses Gedicht stellt Heimito von Doderer seinem unbeirrt donaumäandernden Meisterwerk voran.
Eine liebevolle, ironische, humorburleske, boshafte, melancholische Erinnerung an die alte Wienstadt.
Eine scharfsichtige, verspielte, radikalanalytische, wehmütige Hommage an die (multiethnischen) Bewohner der Metropole.

Viel, sehr viel war hingesunken uns zur Trauer als der Roman endlich 1951 erschien.
Er wurde für den bis dahin völlig unbekannten Autor ein zum „Durchbruch“ führender Erfolg.
Und bis zu zu seinem Tode galt Doderer als DER führende österreichische Autor deutscher Zunge & Feder nach 1945.

Nach seinem Tode gerieten Werk & Person zunehmend in Vergessenheit. Und das Schöne zeigte die kleinste Dauer.
Trotz einem Lebenslauf voller Irritationen, Irrungen & Wirrungen, wilden Obsessionen & schamlosen Winkelzügen:
Welch ein betörender, berührend entschleunigender Sprachkünstler & Stilist & Erzähler & kühner Texturarchitekt!

Heimito von Doderer portraitiert seine Metropole & ihr Umland vor dem Holocaust. Danach sah vieles anders aus.
Und vieles, sehr vieles gab es überhaupt nicht mehr. Bis zum heutigen Tage. Nicht nur in der Donaukanalstadt.
Und die einstige geistige & spirituelle Bedeutung dieser urbanen wie weltoffenen Heimat für viele kam abhanden.

Heute blicken viele, sehr viele Österreicher mit größter Zuversicht ausschließlich in ihre Vergangenheit.
Doderer versuchte aber auch mit seinem Werk Zukunft zu schaffen. (Als Person gelang es nicht immer…)
Versuchte (zumeist) aus vergangenen Fehlern, Unterlassungen & Abseitigkeiten zu lernen & neue Freiräume zu entwickeln.

Heute sollte/darf/müsste man Heimito von Doderer wieder lesen. Vielleicht (nicht nur) um wieder lesen zu lernen.
Heute sollte/darf/müsste man Heimito von Doderer wieder wahrnehmen. Vielleicht um (nicht nur) die Nachkriegszeit wahrzunehmen.
Heute sollte/darf/müsste man Heimito von Doderer wieder kritisch beäugen. Das ist ihm bestimmt (nicht nur) zuzumuten.

Erleben Sie eine Welt abseits aller touristischen Wienklischees. Und Wurstkulturen.
Abseits aller ausgetretenen Fremdenverkehrspfade. Und (musik)vereinsmusikalischen Operettensackgassen. 
Erleben Sie die Tiefe der Jahre. Und vieles, sehr vieles mehr…

(Renald Deppe)

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