Verortung & Perspektive _40

Endstand 2. Oktober 2022

Albert Camus 
(1913 – 1960)

Der Fremde
Roman
In neuer Übersetzung von Uli Aumüller
Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 1994

Die Geschichte eines jungen Franzosen in Algerien, den ein lächerlicher Zufall zum Mörder macht, wurde 1942 im besetzten Frankreich zur Sensation. Der Roman bedeutete den schriftstellerischen Durchbruch für Albert Camus und gilt heute als einer der Haupttexte des Existentialismus.

(Klappentext)

»Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Wörtern: Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.«

Albert Camus im Sommer 1951  

André Jolivet (1905-1974) : Trumpet concerto (1947), II. Grave

Perspektive 40

Albert Camus erhielt 1957 den Nobelpreis für Literatur.
Albert Camus begann zu diesem Anlass seinen Vortrag in der Aula der Universität Uppsala mit folgenden Worten:

 Ein orientalischer Weiser pflegte um die Gnade zu beten, die Gottheit möge ihm ersparen, in einer interessanten Zeit zu leben.
Da wir keine Weisen sind, hat die Gottheit uns dies nicht erspart, und wir leben in einer interessanten Zeit.
Jedenfalls erlaubt sie nicht, dass wir ihr unser Interesse versagen.
Die Schriftsteller von heute wissen ein Lied davon zu singen.
Wenn sie sprechen, werden sie kritisiert und angegriffen.
Wenn sie bescheiden werden und schweigen, wird man nur noch von ihrem Schweigen sprechen und es ihnen geräuschvoll zum Vorwurf machen. 

Die »interessante« Zeit für Albert Camus begegnete diesem Freigeist wie folgt:

1913
Am 7. November wird Albert Camus in Mondovi in der Nähe des heutigen Annaba/Algerien als zweiter Sohn einer Familie mit südfranzösischen Wurzeln geboren.

1914
Beginn des 1. Weltkriegs. Kriegstote: 9,5 Millionen Soldaten, bis zu 13 Millionen Zivilisten.
Camus‘ Vater, ein Fuhrmann und Kellermeister, fällt zu Beginn des Ersten Weltkriegs.
Die Mutter zieht mit den Kindern nach Algier und verdient den Unterhalt für die Familie als Fabrikarbeiterin und Putzfrau.

1930
Abitur an einem Gymnasium in Algier als Stipendiat.
Camus erkrankt an Tuberkulose und muss mehrere Monate in einem südfranzösischen Sanatorium verbringen.

1932
Beginn des Studiums der Philosophie in Algier.
Camus hat wiederholt Tuberkuloseanfälle.

1934
Camus heiratet Simone Hié. Die Ehe wird 1940 wieder geschieden. 
Er arbeitet als Angestellter, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

1935
Eintritt in die Kommunistische Partei, aus der er schon 1936 wieder ausgeschlossen wird.

1936
Camus legt seine Diplomarbeit über „Die Beziehungen zwischen Hellenismus und Christentum in den Werken von Plotin und Augustin“ vor. Auf Grund seiner tuberkulösen Erkrankung wird er 1937 nicht zum Staatsexamen in Philosophie zugelassen und somit von der Möglichkeit einer Einstellung als Gymnasialprofessor ausgeschlossen.

1939
Beginn des 2. Weltkriegs. Kriegstote (Kriegshandlungen & Verbrechen): bis zu 80 Millionen Menschen.
Camus meldet sich als Freiwilliger für den Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg, wird aber aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt.
Reportage über die Not der Berber in der Kabylei.
Camus prangert als Journalist die kolonialen Ungerechtigkeiten in Algerien an.

1940/41
Camus verlässt Algerien und geht als Reporter der Zeitung „Paris-Soir“ nach Paris.
Heirat mit der aus Algerien stammenden Mathematiklehrerin Francine Faure.
Im September 1941 kehrt er nach Algerien zurück. Aufenthalt in Oran, wo er als Lehrer arbeitet.

1942
Herbst: Nach einer Kur in Südfrankreich kann Camus nicht zu seiner Frau in Oran zurückkehren, da die Deutschen den bis dahin unbesetzten Süden, die „zone libre“, besetzt haben.
Mitglied der Widerstandsgruppe „Combat“.
Veröffentlichung seines Romans „L’Etranger“ (Der Fremde) und des philosophischen Essays „Le Mythe de Sisyphe“ (Der Mythos von Sisyphos), in dem er sich mit dem Sinnlosen und dem Absurden auseinandersetzt.

1943
Aus gesundheitlichen Gründen hält Camus sich kurzzeitig im Massif Central auf.
Von der Widerstandsgruppe „Combat“ wird er anschließend nach Paris geschickt, wo er als Lektor bei dem Verlag Gallimard arbeitet.
Mitbegründung der illegalen Zeitung „Le Combat“.

1944
Camus wird Chefredakteur der jetzt legalen Zeitung „Le Combat“, in der sich nach Kriegsende die nichtkommunistischen Kräfte der Résistance sammeln.

1946
Beginn des Französischen Indochinakriegs: geschätzte 500.000 Todesopfer.
Geschätzte 800.000 Ziviltote.

1947
Camus verlässt die Zeitung „Le Combat“, da das Blatt den Besitzer und die politische Linie wechselt.
Veröffentlichung des Romans „La Peste“ (Die Pest), der mit dem „Preis der Kritik“ ausgezeichnet wird.

1951
Veröffentlichung der Essaysammlung „L’Homme Révolté“ (Der Mensch in der Revolte). Daraufhin kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Jean Paul Sartre in deren Verlauf Camus mit Sartre bricht.

1952
Camus tritt aus der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) aus, weil Spanien, das von dem Diktator Francisco Franco regiert wird, aufgenommen worden ist.

1953
Camus ergreift öffentlich Partei für die Aufständischen in Ost-Berlin am 17. Juni.
Beginn einer psychischen Erkrankung seiner Ehefrau Francine.

1954
Beginn des Algerienkrieges. Kriegstote: 18.000 französische Soldaten. 300.000 Mitglieder der FLN.
1,5 Millionen Todesopfer bei der algerischen Bevölkerung.

1956
Reise nach Algerien. Camus ruft zu beidseitiger Beendigung der Gewalt auf.
Nach dem Ungarn-Aufstand fordert Camus die europäischen Schriftsteller auf, an die UNO zu appellieren.

1957
Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur für seine „bedeutende literarische Schöpfung, die mit klarsichtigem Ernst die Probleme des menschlichen Gewissens in unserer Zeit beleuchtet“.

1958
Depressionen. 
Kauf eines Hauses in Lourmarin/Südfrankreich als Ort des Rückzugs.
Versuch eines »Neubeginns«.

1960
4. Januar: Camus stirbt am 04. Januar im Alter von 46 Jahren bei einem Autounfall in der Nähe von La Chapelle Champigny/Frankreich.

Albert Camus hat das Verlöschen alter Denkmodelle & Staatsgewalten erlebt.
Albert Camus hat die Neuordnungen von Denkmodellen & Staatsgewalten erlebt.
Albert Camus hat stets versucht seine Zeit zu gestalten. Nicht nur zu verwalten.
Albert Camus lebte als Freigeist in »interessanten« Zeiten.

Niemals ließ sich A. C. von irgendwelchen politischen Ideologien/Theorien vereinnahmen.
Niemals vergaß A. C., was ein Abstand zum Zustand (auch) erzeugen kann:

 Die erste ehrliche Antwort, die man erteilen kann, lautet: Es kommt in der Tat vor, dass die Kunst ein verlogener Luxus ist.
In der Deckkajüte der Galeeren kann man bekanntlich immer und überall die Gestirne besingen, während im Schiffsrumpf die Sträflinge rudern und keuchen…

Albert Camus hat Verleumdungen, Anfeindungen & Tätlichkeiten erlebt.
Albert Camus hat die blindwütige Macht von Dogmen & Theorien erlebt.
Albert Camus hat stets versucht seine Zeit als Humanist zu gestalten. Und zu verwalten.
Albert Camus lebte als Freigeist in »interessanten« Zeiten.

Niemals ließ sich A. C. vom angesagten Zeitgeist, von intellektuellen Monopolstrategen vereinnahmen.
Niemals vergaß A. C., was ein Abstand zum Zustand (auch) erzeugen kann:

 Heute, wo alle Parteien uns verraten haben, wo die Politik alles erniedrigt, bleibt dem Menschen nur das Bewusstsein seiner Einsamkeit und sein Glaube an den Wert des einzelnen Menschen…

Niemals ließ sich A. C. von religiösen & anderen moralübersättigten Manifestaposteln vereinnahmen.
Niemals vergaß A. C., was ein Abstand zum Zustand (auch) erzeugen kann:

 Darum betrachten die wahren Künstler nichts mit Verachtung; sie fühlen sich verpflichtet, zu verstehen, nicht zu richten.
Und wenn sie in der Welt Stellung zu beziehen haben, so können sie sich nur für eine Gesellschaft entscheiden, in der nach Nietzsches großem Wort nicht mehr der Richter herrschen wird, sondern der Schaffende, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller.
Gleichzeitig lässt die Aufgabe des Schriftstellers sich nicht von schwierigen Pflichten trennen.
Seiner Bestimmung gemäß kann er sich heute nicht in den Dienst derer stellen, die Geschichte machen: Er steht in im Dienst derer, die sie erleiden…

Albert Camus konnte als Solitär solidarisch sein.
Albert Camus konnte als Soldidär solitär sein.
Albert Camus schrieb über sein erlebtes Leben.
Albert Camus lebte sein geschriebenes Leben.
Vielleicht gelang das nicht immer. Und überall.
Aber Albert Camus hat es immer wieder versucht: 
sich in den Dienst derer zu stellen, die Geschichte erleiden…
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt zu lesen:
Albert Camus.
Zum Beispiel.

Als Einstimmung in den »Kosmos Camus« mögen dem geneigten Leser 
einige mehrstimmige Tagebuchpositionen des Autors nicht vorenthalten werden: 

Ist die Askese freiwillig, kann man sechs Wochen fasten (Wasser genügt).
Ist sie erzwungen (Hungersnot), nicht mehr als 10 Tage.
Vorrat an echter Energie.

 Die Werke von Kopernikus und Galilei standen bis 1822 auf dem Index.
Drei Jahrhunderte Starrsinn, das ist hübsch.

 Was kann ein Mensch sich Besseres wünschen als Armut? 
Ich habe nicht das Elend gesagt und auch nicht die hoffnungslose Arbeit des modernen Proletariers. 
Aber ich sehe nicht, was man sich mehr wünschen kann als mit tätiger Muße verbundene Armut.

 Wer die Wahrheit liebt, muss die Liebe in der Ehe suchen, das heißt, die Liebe ohne Illusion.

 Der Milizsoldat Radici, der in der Waffen-SS diente und vor Gericht gestellt wurde, weil er 28 Häftlinge des Gefängnisses La Santé hatte erschießen lassen (er hatte den vier Hinrichtungsschüben beigewohnt), war Mitglied des Tierschutzvereins.

 Elend unseres Jahrhunderts.
Vor noch gar nicht so langer Zeit bedurften die schlechten Taten einer Rechtfertigung, heute die guten.

 Die physische Eifersucht ist zu einem großen Teil ein Urteil über sich selbst.
Weil man weiß, welcher Gedanken man fähig ist, stellt man sich vor, der andere denke so.

 Die Demokratie ist nicht das Gesetz der Mehrheit, sondern die Beschützung der Minderheit.

 Den wenigen Menschen, die mir Bewunderung ermöglichen, schulde ich die größte Dankbarkeit in meinem Leben.

(Renald Deppe)

p.s.: 

Sollte die geneigte Leserschaft an Fakten & Perspektiven einer ungewöhnlichen Lebensführung interessiert sein,
sollte die geneigte Leserschaft an Zweifel, Verzweiflung, Trauer & Ausdauer eines wachsamen Sisyphos interessiert sein,
sollten die wertgeschätzten Leser & Leserinnen an Ver- & Entflechtungen von Familien-, Dichter- & Politzwistigkeiten Interesse haben,
das Institut zur Verbesserung der Lagen empfiehlt zur Verbesserung der Fragen (nicht nur) folgende famose Begleitlektüre:

Iris Radisch

Das Ideal der Einfachheit
Eine Biographie
Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 2014  

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