Verortung & Perspektive _38

Tiefstand 18. September 2022

Imre Kertész 
(1929 – 2016)

Roman eines Schicksallosen
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1998
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sorstalanság« bei Szépirodalmi Kiádo, Budapest 1975 

 

 Was macht diesen Roman über Auschwitz und Buchenwald so anstößig?
Ist es der unschuldige und optimistische Ton des jüdischen Jungen, der seine Deportation als Aufbruch ins Unbekannte und die Ankunft in Auschwitz als groteskes Spektakel erzählt?
Liegt die Blasphemie darin, dass er so bereitwillig die Logik der Lager erprobt – ein gelehriger Schüler, der seine Sache möglichst gut machen will?
Oder sind es die schockierenden Antworten auf die Fragen eines wohlmeinenden Journalisten, den er auf der Straße in Budapest trifft, kaum dass er aus Buchenwald zurückgekehrt ist?
Imre Kertész ist etwas ganz Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz.
Es gibt kein literarisches Werk, das in seiner Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist.
Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird.

(Klappentext)

Imre Kertész

Heimweh nach dem Tod
Arbeitstagebuch zur Entstehung des
»Roman eines Schicksallosen«
Herausgegeben und ins Deutsche übertragen
von Ingrid Krüger und Pál Kelemen
Mit einem Nachwort von Lothar Müller
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

 Dreißigjährig, nach Jahren erfolgloser Arbeit an seinem ersten Romanprojekt »Ich, der Henker«, den Bekenntnissen eines Naziverbrechers, entschließt Imre Kertész sich zu einer »nüchternen Selbstprüfung«.

Daraus erwächst zwischen 1958 und 1962 sein erstes Tagebuch – 44 eng beschriebene Blätter.

Und während er noch mit Musik-Komödien für die Budapester Bühnen seinen Lebensunterhalt verdient, hält er hier minutiös sein Denken, Lesen und Schreiben fest: vom Entschluss, statt der Henker-Bekenntnisse nun die Geschichte seiner Deportation zu schreiben – also »meine eigene Mythologie« -, bis hin zur Fertigstellung der ersten Kapitel.

Dazu die unablässige Auseinandersetzung mit Dostojewski, Thomas Mann und Camus, mit deren Hilfe er die für diesen beispiellosen Entwicklungsroman benötigte Technik findet.

»Der Muselmann«, so sollte der »Roman eines Schicksallosen« ursprünglich heißen.

Zehn weitere Jahre würde Kertész noch zu seiner Vollendung brauchen, um anschließend zu erleben, wie das Buch, das 30 Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden würde, im sozialistischen Ungarn zunächst wegen seiner ungewöhnlichen Sicht des Holocaust abgelehnt wurde.

(Klappentext)

György Ligeti (1923 – 2006) : Requiem 3. Satz : De Die Judicii Sequentia

Perspektive 38

Wir wissen es:

Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht angenommen werden.

Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2002 ging an den ungarischen Autor Imre Kertész.
Die Wahl des bis dahin fast unbekannten Preisträgers war eine mutkluge Entscheidung.
Kertész, jüdischer Abstammung, wurde 1944 als 14-jähriger in die Vernichtungslager von Auschwitz und Buchenwald deportiert.
Nach seiner Befreiung kehrte er im April 1945 in seine Heimatstadt Budapest zurück. 

Schrift hilft der Erinnerung.
Erinnerung gestaltet Gegenwart.
Gegenwart verantwortet Zukunft.

Es soll Menschen geben, welche sich nur bedingt erinnern wollen/können. Dürfen.
Es soll Menschen geben, welche nur bedingt Zukunft verantworten wollen/können. Dürfen.
In der Vergangenheit. In unserer Gegenwart.

Schrift kann Erinnerung bewahren.
Erinnerung kann Gegenwart erzeugen.
Gegenwart kann eine verantwortete Zukunft ermöglichen.

Um eine erträgliche Gegenwart zu gestalten, zu leben.
Um eine verantwortet Zukunft zu ermöglichen, zu erleben.
Hierzu sollte man sich folgende Erfahrungs-Denkpositionen eines Imre Kertész bitte in Erinnerung rufen: 

  • Vergessen wir nicht, dass man Auschwitz keineswegs wegen Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück umschlug.
  • Eine Annäherung an Auschwitz ist unmöglich, es sei denn, von Gott aus; Auschwitz ist eines jener großen Menetekel, die in Gestalt eines schrecklichen Schlags auftreten, um den Menschen hellhörig zu machen.
  • Der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts hätte sich die Endlösung wohl kaum vorstellen können oder wollen. So ist Auschwitz also auch nicht mit den herkömmlichen, archaischen, um nicht zu sagen: klassischen Begriffen des Antisemitismus erklärbar.
  • Die Möglichkeit zu Auschwitz liegt in unserer modernen Massengesellschaft begründet, in der sich der Mensch nicht wie in früheren Gesellschaften an bestimmte religiöse Werte oder moralische Regeln gebunden fühlt.
  • Eichmann sagte während seines Prozesses in Jerusalem aus, er sei nie Antisemit gewesen, und obwohl die Anwesenden an dieser Stelle in Gelächter ausbrachen, halte ich es durchaus für möglich, dass er die Wahrheit sagte. Der totalitäre Staat braucht, um Millionen von Juden zu ermorden, letzten Endes nicht so sehr Antisemiten als vielmehr tüchtige Organisatoren.
  • Der Soldat wird zum Berufsmörder, die Politik zum Verbrechen, das Kapital zu einem mit Krematorien ausgerüsteten Menschenvernichtungsbetrieb, das Gesetz zur Spielregel für schmutzige Spiele, die Weltfreiheit zum Völkergefängnis, der Antisemitismus zu Auschwitz, das Nationalgefühl zum Genozid. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, ohne jeden Zweifel. Doch als purer Gewohnheit wird weitergelogen, obwohl jeder die Absicht durchschaut; schreien sie: Liebe – weiß jeder, dass die Stunde des Mordens gekommen ist; schreien sie: Gesetz – regieren Diebstahl und Raub.
  • Wie mag es sein, nicht zu ahnen, was Auschwitz ist? Und wie mochte es gewesen sein, bei der Kreuzigung nicht zu wissen, wer auf das mittlere Kreuz geschlagen wurde?

Nicht immer wird zwangsläufig aus einer Erfahrung eine Erkenntnis gewonnen.
Nicht immer wird zwangsläufig eine Erkenntnis unser Handeln & Denken beeinflussen.

Immer wieder betonte Kertész das sein Buch ein Roman sei. Keine Autobiographie.
Immer wieder betonte Kertész folgende Möglichkeit/Verpflichtung/Aufgabe/Bedingung:

Nur dass relative Literatur immer schlechte Literatur 
und nicht radikale Kunst immer mittelmäßige Kunst ist: 
Der wirkliche Künstler hat keine andere Chance, als die Wahrheit zu sagen 
und die Wahrheit radikal zu sagen.

Entdecken & erkennen wir Vergangenes.
Verwalten & gestalten wir Gegenwart.
Ermöglichen & bewahren wir uns (& anderen) eine verantwortete Zukunft.
Lesen wir.
Imre Kertész.
Zum Beispiel.

(Renald Deppe)

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