Verortung & Perspektive _36

Schuldenstand 4. September 2022

Franz Kafka
(1883 – 1924)

Der Prozeß
Roman

Der Prozeß, herausgegeben von Max Brod,
erschien erstmals 1925 im Verlag die Schmiede, Berlin.
Textgrundlage der vorliegenden Ausgabe:
Franz Kafka, Gesammelte Werke, Herausgegeben von Max Brod.
Der Prozeß. Roman. S. Fischer Verlag.
Lizenzausgabe von Schocken Books, New York, 1950.

Erste Ausgabe dieser Auflage 2005
suhrkamp taschenbuch 3669

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Element of Crime : Nightmare (1988)

Perspektive 36

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben…: Einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur.
…denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet: Echtzeitrealitäten. 
Warum? Weshalb? Wozu? Von Wem? Wohin? Wie lange?

Niemand weiß es. Nicht Josef K. – auch nicht Franz Kafka. Der Roman endet als (vollendetes) Fragment. 
Kafka spürt die traumatisierenden Ausweglosigkeiten in den sich anbahnenden totalitären Systemen.
Kafka ahnt die zukünftige Verwundbarkeit des Seins in den transparenten Welten digitaler Kontrollinstanzen.
Kafka trauert um die Verlorenheit des modernen Menschen in Zeiten irr- & wahnwitziger Beschleunigungen. 

 Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber kommen läßt, wovon sie ablenkt.

Franz Kafka, Notizheft, November 1920

Die vielgestaltigen Tragödien (nicht nur) des 20. Jahrhunderts bahnten sich an. Kafka versuchte zu warnen.
Schon 1878 veröffentlichte ein anderer sprachpräziser Visionär, Friedrich Nietzsche, folgendes Lamento:
»Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen.
Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen.
Selbstständige und vorsichtige Haltung der Erkenntnis schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht.«

Franz Kafka war ein solcher Freigeist. Und blieb es. Bis in unsere Gegenwart.
Trotz der enormen Verkaufsschwierigkeiten seines Werkes glaubte sein erster Verleger Kurt Wolff bedingungslos an seinen Autor.
Und ermutigte ihn unentwegt.
Und Kafka schrieb weiter. Trotz großer Selbstzweifel. Täglich. 
Trotz seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt der „Arbeiter-Unfall-Versicherung“ in Prag. Aber auch deswegen.
Hier begegnete dem Sohn eines jüdischen Kaufmanns eine andere Welt. Eine andere Not. Andere Sorgen.

Franz Kafka war stets (auch) ein politisch agierender & reagierender Autor.
Die verdienstvolle bundesdeutsche Verlegerlegende Klaus Wagenbach schreibt in seinen Erinnerungen:
»In der folgenden Nacht las ich den Prozeß, in den folgenden Tagen und Nächten alle anderen Bücher dieses Autors:
Handelsreisende als Käfer, Affen als Menschen, ratlose Landvermesser, Väter im Nachthemd, unersättliche Trapezartisten und Hungerkünstler, sich selbstzerstörende Apparate, singende Mäuse, nie ankommende Botschaften und ein Amerika, das immer weiter und größer wurde.
Eine phantastische und doch ganz reale Welt, mit wirklichen Autos und Telefonen, mit Angestellten und Vorgesetzten, mit Hotels, Brücken, Gerichtsgebäuden, Schiffen, eiligen Städtern und begriffsstutzigen Männern vom Land.
Und mit unvergesslichen Bildern der Macht: unerkennbare Gesetze, unerreichbare Richter, unerklärliche Urteile.
Zu meiner Verblüffung wurde Kafka dann im Deutschland der fünfziger Jahre doch noch ein sehr zeitgemäßer Autor, praktikabel für allerlei mystisches Gesülze vom Numinosen, für Vereinnahmungen als Heiliger oder Prophet.
Freilich, für deutsche Leser und Rezensenten war es am einfachsten, sich eine von Deutschen beschädigte Welt als „kafkaesk“ zurechtzulegen, als unerklärlich und rätselhaft…«

Kafka war ein aufmerksamer Beobachter. Ein Chronist der Irrungen & Wirrungen der eigenen und fremden Seele.
Kafka wollte Veränderungen. Neue Wege & Auswege. Neue Sensibilitäten & Motivationen. Rechtzeitig. Für, in und um uns.
In diesem Sinne sind auch (vielleicht) seine ungewöhnlichen Vorschläge zur Lektüre ganz bestimmter Bücher zu lesen:    

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. 
Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? 
Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? 
Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, können wir zur Not selber schreiben.
Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.

Franz Kafka, Brief an Oscar Pollak, 27. Januar 1904

Mut & Verzweiflung, Ausdauer & Resignation, Begehren & Askese, Lust & Leiden, Widerstand & Rückzug, Trotz & Gehorsam.
Kafka lebte in einer Welt niemals enden wollender Kontrapunkte. Dissonanzen. Querstände. 
Sein gesamter Nachlass sollte auf seine Weisung hin verbrannt werden: Tagebücher, Manuskripte, Briefe, Zeichnungen. 
Darunter auch seine 3 berühmten Romanfragmente: Das Schloß, Der Verschollene & Der Prozeß.
Kafkas Tagebücher sind mitunter Zeugnisse abgründiger Verschattungen, verstörender Albträume, quälender Ausweglosigkeiten:

 Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehn müssen, dass man sich abscheulich findet.
Jeder Maßstab des Guten – mögen die Meinungen darüber noch so verschieden sein – wird zu groß erscheinen. 
Man wird einsehn, dass man nichts anderes ist als ein Rattenloch elender Hintergedanken. 
Nicht die geringste Handlung wird von diesen Hintergedanken frei sein. 
Diese Hintergedanken werden so schmutzig sein, dass man sie im Zustand der Selbstbeobachtung zunächst nicht einmal wird durchdenken wollen, sondern sich von der Ferne mit ihrem Anblick begnügen wird.
Es wird sich bei diesen Hintergedanken nicht etwa bloß um Eigennützigkeit handeln, Eigennützigkeit wird ihnen gegenüber als ein Ideal des Guten und Schönen erscheinen. 
Der Schmutz, den man finden wird, wird um seiner selbst willen da sein, man wird erkennen, dass man triefend von dieser Belastung auf die Welt gekommen ist und durch sie unkenntlich oder allzu gut erkennbar wieder abgehen wird. 
Dieser Schmutz wird der unterste Boden sein, den man finden wird, der unterste Boden wird nicht etwa Lava enthalten, sondern Schmutz. 
Er wird das unterste und das oberste sein und selbst die Zweifel der Selbstbeobachtung werden bald so schwach und selbstgefällig werden, wie das Schaukeln eines Schweines in der Jauche. 

Franz Kafka, Tagebuch, 7. Februar 1915

Aber immer, wirklich immer ist (auch) Humor-, Verständnis- und Hoffnungsvolles, 
subtiles Mitgefühl & unbedingte Daseinsbejahung in seinem Werk zu finden:

Es bedurfte der Schlange: das Böse kann den Menschen verführen, aber nicht Mensch werden. „

Franz Kafka

(Renald Deppe)

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