Verortung & Perspektive _35

Thomas von Steinaecker
Nadia Durrani
Brian Fagan
Sonnenstand (V) 28. August2022

Thomas von Steinaecker 
(*1977) 

ENDE OFFEN
Das Buch der gescheiterten Kunstwerke
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

 Die Liste der gescheiterten Kunstwerke der Kulturgeschichte ist lang und spektakulär.
Die Gründe für das Scheitern sind so unterschiedlich wie die einzelnen Projekte: Mal war es der Größenwahn des Künstlers, ein anderes Mal fehlte plötzlich das Geld, nicht selten kam ein früher Tod dazwischen. 
Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erzählt in seinem Buch die außergewöhnlichsten Geschichten hinter dem Scheitern und zeigt, wie einflußreich Ideen sein können, die nur in unserer Phantasie existieren.

Ever 
tried.
Ever 
failed.
No
matter.

Try 
again.
Fail 
again.
Fail 
better.

Samuel Becket: Worstward Ho
(Klappentext) 

Josef Haydn (1732-1809) : Die Jahreszeiten, Hob. XXI:3 : Der Sommer, IX. „Ach, das Ungewitter naht…“

&

Nadia Durrani

& Brian Fagan (*1936)

Was im Bett geschah

Eine horizontale Geschichte der Menschheit
Aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022

 Das Bett ist ein politischer Ort – das wussten nicht erst Yoko Ono und John Lennon.
Denn im Bett wurde seit jeher nicht nur geschlafen, sondern auch regiert, kommuniziert, Nachwuchs gezeugt und zur Welt gebracht, aber natürlich auch gelitten und gestorben.
Das, was im Bett geschieht, war über Jahrhunderte weitgehend öffentlich und Teil eines gesellschaftlichen Miteinanders.
Erst in der jüngsten Vergangenheit scheint sich das Bett ins Private zurückgezogen haben… oder doch nicht?
Nadia Durrani & Brian Fagan haben sich die verblüffend vielschichtige Geschichte des Bettes genauer angeschaut – von den allerersten Liegen der Steinzeit über die goldene Ruhestatt von Tutanchamun bis hin zum Siegeszug des Wasserbetts.
Das Bett war lange Zeit das Prunkstück der Wohnung.
Dem Aufstehen und Ankleiden des »Sonnenkönigs« Louis XIV. (der allerdings 500 Betten sein eigen nannte) wohnte traditionell der gesamte Hofstaat bei.
Inzwischen sind unsere Schlafstätten meist Besucherblicken
entzogen und verschwinden manchmal sogar in der Wand. 
Zugleich sind wir im Bett dank moderner Technologien mit der ganzen Welt in Kontakt.
Und bis heute gilt: Was im Bett geschieht, verrät am meisten über das Wesen der Menschen.

(Klappentext)

Helge Schneider : Sommer, Sonne, Kaktus! (2013)

Perspektive 35

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet (ein letztes) Ferragosto-Lese-Angebot.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
Bücher (nicht nur) für Sommer-, Tropen- und Vollmondnächte.
Bücher (nicht nur) für Sommer-, Regen- und Hundstage.
Bücher (nicht nur) für ZeitgenossInnen, die (auch) daran glauben: 
Jeder geliebte Gegenstand, Mensch,Traum, Wunsch kann/könnte der Mittelpunkt eines Paradieses sein. 
Auf den Bergen, an den Stränden, in den Wüsten, den Wohn-, Schlaf- & Traumwelten unseres Planeten. Und anderswo.
In den Betten- & Hofburgen, den Kriegs- & Wellnesszonen, den Vino-, Disco-, Media-, Arto- & Bibliotheken. Zum Beispiel.

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet ein Angebot: Geschichten über Geschichte zu lesen.
Über Geschichten vom Scheitern. Von gelungenen Fehlversuchen. Von Musil, Mondrian, Mahler. Und anderen.   
Über Geschichten von Fragmenten. Vom vollendeten Unvollendeten. Von Schubert, Kafka, Michelangelo. Und anderen.
Über Geschichten von Utopien. Von gegenwartsferner Zukunft. Von Da Vinci, John Cage, Orson Welles. Und anderen.

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet ein Angebot: Geschichten über Vollmenschen. Über uns.
Wir müssen das Scheitern verbergen. Und scheitern täglich, zumeist kläglich. 
Wir sollen Fragmentiertes vermeiden. Und produzieren Makulatur rund um die Uhr. 
Wir dürfen den Utopien nicht trauen.  Und brauchen Hoffnungsfrohes stündlich, auch mündlich.

Thomas von Steinaecker erzählt kompetent mit Respekt & Empathie über bekannte und unbekannte Quer- & FreidenkerInnen.
Thomas von Steinaecker berichtet spannend wie auch ungemein sachlich über Ausnahme-, Einzel-, An-, Un- & Todesfälle. 
Thomas von Steinaecker dokumentiert das Leben von kreativen Vollmenschen, vermeintlichen Halbgöttern und anderen
Wahnsinnigen.
Thomas von Steinaecker schildert Zweifel & Verzweiflung, Mut & Wut, Widerstand & Aufbegehren, Zuversicht & Resignation.

Zum Beispiel: über Theodor Fontane…:

Es muss ein harter Schlag für Emilie Fontane gewesen sein, als ihr Mann ihr 1876 umstandslos mitteilte, er wolle von nun an vorrangig als Romancier leben.
Die Entscheidung, eine Existenz als freier Schriftsteller zu führen, ist aus ökonomischer Sicht immer eine katastrophale.

Doch meist fällt sie in einem Alter, in dem man nur für sich verantwortlich und mit der vagen Idee begabt ist, es schon irgendwie zu schaffen, kurz: Man weiß es noch nicht besser.
Als jedoch Fontane beschließt, von nun an nur mehr nebenbei Theaterkritiken und in erster Linie Romane zu schreiben, ist er bereits über 57 Jahre alt, hatte diverse Anstellungen unter anderem als Apotheker und Auslandskorrespondent in London.
Vor allem hatte er eine Frau und vier Kinder zu versorgen…
Was die Sache noch pikanter macht: Fontane hat eben erst eine lukrative und prestigeträchtige Stelle als Ständiger Sekretär der Akademie der Künste in Berlin erhalten – die er nun einfach so in den Wind schießt.
Eine Entscheidung wider den gesunden Menschenverstand also?
Fontanes Antwort darauf in einen Brief an seine Vertraute Mathilde von Rohr:

Die Weisheit der Menschen nutzt mir nichts.
Was sie mir sagen können, hab’ ich mir in hundert schlaflosen Stunden längst selbst gesagt
Die Glücksarten der Menschen sind eben verschieden; »den enen sin Uhl is den annern sin Nachtigall«.
Mir ist die Freiheit Nachtigall, den andern Leuten das Gehalt.

Wie die Geschichte mit der Nachtigall weitergeht?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet ein Angebot: Es im benannten Buche bitte nachzulesen.
Soviel sei an dieser Stelle verraten: 
Fontane schrieb danach Romane, die zu den Höhepunkten (nicht nur) der deutschsprachigen Literatur gezählt werden: 
»Effie Briest« und den »Stechlin«. Zum Beispiel.
Und, bitte nicht & niemals zu vergessen: Thomas von Steinaecker erinnert uns daran: 
Letzten Endes allerdings hat Emilie das getan, was die unbesungenen Heldinnen in fast jeder Schriftstellerehe wohl oder übel taten – ob sie nun Christiane von Goethe oder Sofja Tolstoi hießen: Sie hielt ihren Mann „schwimmfähig“. 

 &

Zur horizontalen Geschichte der Menschheit:
„Alles was man nicht im Bett tun kann, braucht man gar nicht erst anzufangen“ (Groucho Marx)
Was alles in diesen Geschichten über Bettgeschichten und die Geschichte des Bettes möglich (oder nicht möglich) ist,
was alles die Archäologen Nadia Durrani & Brian Fagan an Bettgeflüster zwischen Kissen, Küssen & Matratzen herausfiltern,
was & wer alles ans Bett gefesselt war, ins Bett gemacht hat, das Bett hüten musste, von Tisch und Bett getrennt wurde,
sich ins gemachte Bett legte, mit jemanden ins Bett stieg und warum, Bettflucht betrieb & Bettwanzen vertrieb:
hier ist es pikant unterhaltsam wie sittlich korrekt nachzulesen. Auch nachzuerleben.

Sei es in Indien, China, Persien, Ägypten, Mexiko, Europa und Lichtenstein, der Mongolei und Ungarn,  
Japan, Taiwan & Nebenan, Nord-, Süd- & Ostamerika, Austria & Australien, in der Sahara & der Arktis,  
im nahen, mittleren & fernen Westen, im hohen, rohen, blauen & grauen Norden, im Welt- & Überall.

„Alles was man nicht im Bett tun kann, braucht man gar nicht erst anzufangen“
Wie recht Groucho Marx doch hatte.
Jean Liedloff, Autorin des berühmten Bestsellers aus dem Jahr 1975 
„Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“ 
berichtet diesbezüglich Bemerkenswertes von den Yequana im Regenwald von Venezuela:
»Tatsächlich ähnelte es ihrer Gewohnheit, mitten in der Nacht, wenn sie alle schliefen, einen Witz zu erzählen.
Obwohl einige laut schnarchten, wachten alle sofort auf, lachten und schliefen innerhalb von Sekunden wieder ein, mit Schnarchen und allem.«

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet (ein letztes) Ferragosto-Angebot:
Lachend aufzuwachen. Trotzdem. Im Bett. Auch anderswo. Allein oder mit anderen. Zum Beispiel.

(Renald Deppe)

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