Verortung & Perspektive _34

Martin Puchner
Irene Vallejo
Michael Maar
Silvia Ferrara
Sonnenstand (IV) 21. August2022

Martin Puchner 
(*1969 in Erlangen) 

Die Macht der Schrift
Wie Literatur die Geschichte der Menschheit formte
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
Karl Blessing Verlag, München 2019

 Die Feder ist mächtiger als das Schwert.
Seit gut viertausend Jahren steht die Geschichte der Menschheit unter diesem Motto.
Grundlagentexte wie das Gilgamesch-Epos und Homers Ilias, religiöse Schriften und politische Manifeste bilden die Grundpfeiler unserer Zivilisation.
Die Technik, mit der Literatur produziert, verbreitet und verinnerlicht wird, ist in stetem Wandel – von der sumerischen Tontafel über den Buchdruck bis zum Computercode.
Was bleibt ist die magische Kraft der Schrift, Geschichten und Ideen einzufangen, die uns Menschen inspirieren, unser Wissen mehren und unser Handeln antreiben.

Martin Puchners »Die Macht der Schrift« ist eine FASZINIERENDE SPURENSUCHE nach jenen Fundamenten, auf denen unsere Gedankenwelt ruht, nach den Schreibern, die irdische und himmlische Reiche heraufbeschworen oder zerstört haben, nach den Wendepunkten, an denen das geschrieben Wort unser Schicksal in neue Bahnen gelenkt hat.

(Klappentext) 

&

Irene Vallejo

(*1979 in Saragossa) 

PAPYRUS
Die Geschichte der Welt in Büchern
Aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby
Diogenes Verlag, Zürich 2022

 PAPYRUS erzählt die Geschichte des Buches, eines Artefakts, das die Menschheit seit fast fünftausend Jahren fasziniert und das es in den unterschiedlichsten Formen gegeben hat: aus Rauch, Stein, Ton, Schilf, Seide, Leder, Holz und neu aus Kunststoff und Licht.

Auf ihrer Entdeckungsreise führt uns Irene Vallejo von den Schlachtfeldern Alexanders der Großen und den Palästen der Kleopatra über die ersten Buchhandlungen bis in das unterirdische Labyrinth des heutigen Oxford und verbindet dabei gekonnt klassische Werke mit der Gegenwart: Seneca mit postfaktischer Wahrheit, Aristophanes mit der Provokation durch Karikaturen oder Sappho mit dem weiblichen Blick.

Ein Sachbuch, DAS SICH LIEST WIE EIN ABENTEUERROMAN – und eine leidenschaftliche Hommage an die Welt der Bücher.

(Klappentext)

&

Michael Maar

(*1960 in Stuttgart)

Die Schlange im Wolfspelz
Das Geheimnis großer Literatur
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020

 Wie wird Sprache zur Literatur?
Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen wir fast alle?
Wie müssen die Elementarteilchen zusammenpassen für den perfekten Prosasatz?
Michael Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Novalis über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht.
Nach einem Abstecher aufs Atoll der modernen Lyrik führt Maar aus fruchtbare Feld Eros in der Dichtung, macht deutlich, warum Bambi Pornographie ist und warum sich ein Anonymus durch einen stilistischen Fingerprint verrät.
In fünfzig Portraits, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er unter der Hand eine höchst originelle Geschichte der deutschen Literatur.

Wer Maars Buch zuschlägt, das zwar gelehrt, ABER VOR ALLEM VERGNÜGLICH IST, wird künftig anders lesen – und besser schreiben.

(Klappentext)

&

Silvia Ferrara

(*1976 in Mailand)

DIE GROSSE ERFINDUNG
Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann
Verlag C.H. Beck, München 2021

 Dieses Buch erzählt von der vielleicht größten Erfindung der Welt.
Ohne sie wären wir nur Stimme, schwebten in ständiger Gegenwart.
Silvia Ferrara verbindet Archäologie, Anthropologie und Neurowissenschaft, um die frühesten Phasen der Entstehung von Schriftkulturen zu vergegenwärtigen.
Und sie schlüpft in die Rolle einer wissenschaftlichen Detektivin, um ihre große Passion mit uns zu teilen: die bis heute noch nicht entzifferten Schriften wie die kretische Hieroglyphe, die Linearschrift A, der Diskos von Phaistos (Kreta) oder die Rongorongo-Schrift von der Osterinsel.
»Die Grosse Erfindung« ist ein POPULARWISSENSCHAFTLICHER PAGETURNER, geschrieben im Stil einer mündlichen Erzählung; die Darstellung wirkt wie ein mitreißender Gedankenstrom.
Der gewählten Form entspricht aber auch Ferraras These, trotz ihrer Bedeutung stelle die Schrift keine biologische oder historische Notwendigkeit dar. Viele komplexe Gesellschaften besaßen keine Schrift, trotzdem wuchsen und blühten sie. Neue Technologien könnten in Zukunft zum Verschwinden der Schrift führen. Schon jetzt findet die Kommunikation andere Wege, etwa die Emojis.
In der Geschichte der Menschheit gleicht die Schrift womöglich nur einer Sternschnuppe.

(Klappentext)

Eddie Cochran : Summertime Blues (1958)

Perspektive 34

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
Bücher zum An-, Be-, Durch- & Umschauen. 
Bücher zur Vita Contemplativa. Zur Verbesserung der Untätigkeit. Zum Beispiel.
Bücher (nicht nur) für Sommer-, Tropen- und Vollmondnächte.
Bücher (nicht nur) für Sommer-, Regen- und Hundstage.
Bücher (nicht nur) für ZeitgenossInnen, die ihre freie Zeit (Freizeit) nicht durch Leistung & Konsum totschlagen wollen. 
Auf den Bergen, an den Stränden, in den Wüsten, den Wohn-, Schlaf- & Traumwelten unseres Planeten. Und anderswo.
Auf den Feldern, an den Verkaufsständen, in den Werkstätten & Fabrikhallen, den Kranken- & Pflegehäusern. Zum Beispiel.  

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet 4 faszinierende Angebote zur Politik der Untätigkeit. 
Die Qual der Wahl? Die Wahl der Qual? Keineswegs. Warum?
Dazu Paul Celan:

Du
du lehrst
du lehrst deine Hände
du lehrst deine Hände du lehrst
du lehrst deine Hände
schlafen.

Blieben dann noch die Augen. Die Ohren. Die Beine. Zum Beispiel.
Dazu William Shakespeare:

Wir sind aus dem Stoff, aus dem die
Träume sind; und unser kurzes Leben ist
umringt vom Schlaf.

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet 4 faszinierende Angebote zur Politik der Untätigkeit. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet 4 faszinierende Angebote um eine freie Zeit zu erleben.

4 meisterliche Versuche komplexe Zusammenhänge & Entwicklungen der Menschheit zu deuten. Zu verstehen.
4 meisterliche Versuche komplexe Zusammenhänge & Entwicklungen der Menschheit zu erahnen. Zu erträumen.

 Zum Beispiel:

Silvia Ferrara beginnt ihre Schrift über Schriften wie folgt: 
»Menschen erfinden begeistert Geschichten.
Obwohl Paviane ein spannendes Leben führen, bringen sie nur zehn Prozent ihrer Zeit damit zu, das Verhalten von Artgenossen zu deuten, auf es zu reagieren und es nachzuahmen. Die übrige Zeit sind sie mit Nahrungssuche und Fressen beschäftigt. Bei uns sind die Prozentsätze umgekehrt verteilt. Wir verwenden unglaublich viel Zeit darauf, andere zu verstehen.«

Spätestens hier könnte eine längere Lesepause entstehen: Stimmt das Gelesene? Unterscheiden wir uns so deutlich von den Pavianen?
Schließen Sie die Augen und erträumen Sie sich die vielleicht möglichen Antworten. Oder lesen Sie einfach weiter…

 Zum Beispiel:
Martin Puchner beginnt sein Kapitel über die Schriften von Buddha, Konfuzius, Sokrates & Jesus wie folgt:
»Dennoch war diesen vier Lehrmeistern gemein, dass sie kein einziges Wort selbst niederschrieben. Alle lehrten sie, indem sie Schüler um sich versammelten und diese im Dialog von Angesicht zu Angesicht unterwiesen.
Diese Weigerung etwas zu schreiben – die Vermeidung der Produktion von Literatur -, ist ein faszinierendes Moment in der Literaturgeschichte, weil sie just in der Phase stattfand, in der geschriebene Texte immer zugänglicher wurden.
Doch dann geschah etwas noch Interessanteres: die Verweigerung des Schreibens, dieses Beharren auf unmittelbar persönliche Lehre, wurde selbst Literatur. Aus den gesprochenen Worten der Lehrmeister wurden Texte, die wir bis heute lesen können und die uns noch immer in ihre Schülerkreise einbeziehen.«

Spätestens an dieser Stelle könnte eine längere Lesepause entstehen: Fehlt hier nicht Wesentliches? 
Auch Lehrmeister Mohammed hat den Koran diktiert. War des Schreibens unkundig. Zum Beispiel.
Wer und wann und wo und warum verschriftete wie und weshalb das gesprochene Wort? Zum Beispiel. 
Schließen Sie die Augen und erträumen Sie sich vielleicht mögliche weitere Fragen. Oder lesen Sie einfach weiter…

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zur Vita Contemplativa. Zur Verbesserung der Untätigkeit. Zum Beispiel.

»Wir gleichen immer mehr jenen Tätigen, die „rollen“, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik.«
So der Philosoph Friedrich Nietzsche 1878 in seiner Schrift »Menschlich, Allzumenschliches«

»Da wir das Leben nur noch auf Arbeit und Leistung hin wahrnehmen, begreifen wir die Untätigkeit als Defizit, das es schnellstmöglich zu beheben gilt. Die menschliche Existenz wird von der Tätigkeit restlos absorbiert. Dadurch ist sie ausbeutbar. 
Wir verlieren den Sinn für die Untätigkeit, die kein Unvermögen, keine Verweigerung, keine bloße Abwesenheit von Tätigkeit, sondern ein eigenständiges Vermögen darstellt.«
So der Philosoph Byung-Chul Han 2022 in seinen »Ansichten zur Untätigkeit«.

Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Angebote. 
Keine Gebote. Keine Verbote. Keine Pflichtlektüre. Keine Prüfungskataloge. Keinen Bildungskanon. 

Und vielleicht ist es gar möglich, jene Dummheit der Mechanik als sinnlos rollender Stein zu vermeiden.
Wenn man sich (vielleicht nicht immer) folgende Ein- & Weitsicht eines Samuel Beckett zu eigen macht:

»Ich gab auf, ehe ich geboren wurde.«

Spätestens an dieser Stelle sollte eine längere Lesepause entstehen.

(Renald Deppe)


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