Verortung & Perspektive _31

Annemarie Stoltenberg

Christian Reder

Sonnenstand (I) 31. Juli 2022

Annemarie Stoltenberg  
(*1957) 

Magie des Lesens
Die schönsten Geschichten über die Liebe zum Buch
Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2021

Viele Menschen lesen nur Abends vor dem Einschlafen.
Im Grunde bedeutet das, dass wir unser Gehirn dahin trainieren, dass Bücher eine Art Schlafmittel sind.

Das ist schade.

Die klaren, hellen Stunden des Tages wären viel besser zum Lesen geeignet.
Zumindest in den Ferien gelingt das vielen.
Wer allerdings zuvor wochenlang kein Buch zur Hand genommen hat und mit einem Bücherstapel in den Urlaub fährt, wird enttäuscht sein.
Lesen bedeutet auch Übung.

 Also, ich versuche die Bücher als Freunde zu betrachten, die ich mir unter vielen aussuche.
Ich kann nicht jedem Buch meine Zeit widmen, ebenso wie ich mich nicht mit jedem Menschen und dem dazugehörigen Lebenslauf und der Familie beschäftigen kann.
Wie bei Freunden lasse ich mich auf ihre besondere Geschichte ein, nehme sie mit in mein Leben und versuche dann, anderen davon zu erzählen – so wie ich hier Geschichten über die Magie des Lesens ausgesucht habe.
Warum und zur welchem Zweck lesen wir? Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut.

Paolo Conte (*1937) : Azzurro

&

Christian Reder 
(*1944) 

Mediterrane Urbanität
Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas
mandelbaum verlag wien • berlin, 2021

 Europas Perspektiven ohne das Mittelmeer und dessen Anrainer zu denken wäre absurd – hatte es doch seit den Phöniziern vom Mittelmeer aus Gestalt angenommen.
Von Krisenzonen umgeben wird seine beliebteste Feriendestination mittlerweile zum Schauplatz von Flüchtlingstragödien.
Dabei sind aus dem Mittelmeerraum, wie aus ganz Europa, generationenlang Millionen Menschen ausgewandert.
Dies ostentativ politisch auszublenden, provoziert eine kollektive Weltfremdheit.
Denn gerade hier gab es beständig weltoffenen Phasen akzeptierter urbaner Vielfalt.
Um dieser mediterranen Urbanität Kontur zu verleihen, wird die Geschichte von zwanzig signifikanten Hafenstädte am Mittelmeer und Schwarzen Meer skizziert – vor allem Perioden, in denen Menschen verschiedener Herkunft ein tolerantes Zusammenleben möglich war.

 Die zeitübergreifende Konzentration auf mediterrane Urbanität liefert Material zu Bedingungen für zivilisiertes Verhalten und dessen immer wieder akut werdende Bedrohung und Brutalisierung, bewusst lexikalisch, überall Einstiege ermöglichend, als Impulse für ein Weiterdenken komplexer Situationen – müsste es doch generell um weltoffene Städte mit einer aktiven Zivilgesellschaft gehen, die auf ihr Umland belebend ausstrahlen.

 Um die Verhältnisse in humanitär respektvoller Weise weiter zu verbessern, bräuchte es markante Perspektiven und Rahmenbedingungen für vielfältige Initiativen. Wie gegen Giftgas, Atomwaffen, Landminen oder Spekulationsexzesse und Steuerflucht der Finanzwirtschaft erzwingen ökologische Schäden, Plastik im Meer und Klimaerwärmung längst tatsächlich weltweit weltweit koordinierte Strategien.
Dient die Natur weiter bedenkenlos als bloßes Materiallager, wird sie immer weniger zum Gemeingut, ob als Wasser, Luft, Regenwald oder Landschaft.
Längst gehören andere Vorstellungen von Reichtum aktiviert, als Abkehr von der in Wohlstandsregionen gewohnten, aber global unhaltbaren IMPERIALEN LEBENSWEISE – zumindest als Konsum- und Produktionsweisenden verändernde Tendenz. Das ist für die Europäische Union so essenziell wie die politische Entwicklung ihrer Peripherie am Mittelmeer und Schwarzen Meer und die eigene Konsolidierung als stabile Wirtschafts- und Sozialunion mit durch ihre Programmatik wieder wirkungsvollerem weltpolitischen Einfluss.
Eben weil das heutige Europa durch Freizügigkeit und Migration entstanden ist und demographisch auf Zuwanderung angewiesen bleibt, müsste ein Selbstverständnis von Europäischem noch weit entschiedener auf Menschenrechten, Demokratieentwicklung, Gemeinwohl, öffentlichem Raum, plausiblen Asyl und Einwanderungsregeln, Aufnahmebereitschaft und akzeptierter urbaner Vielfalt aufbauen.
Gerade rund ums Mittelmeer gab es durchaus weltoffene Perioden, in denen sich manches davon bereits anzubahnen schien.

Kontrapunkt

The Lovin‘ Spoonful : Summer in the City (1966)

Perspektive 31

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
Auf den Bergen, an den Stränden, in den Wüsten, den Wohn-, Schlaf- & Traumwelten unseres Planeten. Und anderswo.

Autorin Annemarie Stoltenberg hat eine liebe- wie kunstvolle Verführung über Verführte zusammengestellt.
Autorin Annemarie Stoltenberg hat dazu liebe- wie kunstvolle Gebrauchsanweisungen und Einführungen verfasst. 
AutorInnen berichten über das Nach-, Vor- & Einlesen, über verstörende, magische, elende & beglückend tröstliche Lektüren.
AutorInnen berichten über Fremd- & Eigenwahrnehmung, Fremd- & Eigenverantwortung, Fremd- & Eigenverschuldung. 

Günther de Bruyn  Urs Widmer  J.W. Goethe  Siegried Lenz  Hans Fallada  Alfred Andersch • E. T. A. Hoffmann  Heinrich Heine  Peter Altenberg  Tatjana Hauptmann  Anna Achmatowa  Marcel Proust • Gustave Flaubert  Charlotte Brontë  Rainer Maria Rilke  Kurt Tucholsky  Virginia Woolf  Egon Friedell • Martin Walser  Michel de Montagne und weitere wertgeschätzte Skribenten berichten, reflektieren, träumen, klagen, jubeln, philosophieren & räsonieren u.a. über: 
Man liest nur aus Liebe. Flügel für die Phantasie. Nahrung fürs Gehirn. Lesen als Trostsuche. Bücher dürfen manchmal auch zwicken. 
Spannung zwischen zwei Buchdeckeln. Alleine beim Lesen laut Lachen. Wer lesen kann ist nie einsam.

Man sollte lieben können. (Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut.) 
Zum Beispiel Bücher.
Man muss Bücher nicht lieben.
Aber sie helfen u.a. Menschen zu lieben. (Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut.)

&

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
An den mediterranen Stränden unseres Planeten etwas über mediterrane Urbanität zu lesen. Aber auch anderswo.

Christian Reder: emeritierter Professor für Kunst- & Wissenstransfer an der Universität für Angewandte Kunst Wien.
Christian Reder: Verfasser von 20 auf-, an- & erregenden Städteportraits an den Küsten Europas und seiner Nachbarn.
Christian Reder: ein vollendeter Meister der Vermittlung von bekannten und unbekannten Geschichten, Fakten, & Daten.
Christian Reder: ein wach- & aufmerksamer Stadtschreiber über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgender Urbanitäten:
Palermo Alexandria  Istanbul  Odessa Sewastopol • Saloniki  Izmir  Dubrovnik  Triest  Venedig • Genua  Neapel  Beirut  Tel Aviv-Jaffa  Tripolis  Tunis  Algier Tanger  Barcelona  Marseille.

Stadtgeschichten über Toleranz, über den Verlust von toleranten Befindlichkeiten. Mord & Totschlag.
Stadtgeschichten über Diversität & Vielfalt, über den Verlust an polykulturellen Begegnungen. Schimpf & Schande. 
Stadtgeschichten über Minderheiten, über den Verlust an schöpferischen Kontrapunkten. Neid & Vertreibung.
Stadtgeschichten über Mehrheiten, über den allmählichen Verlust von Kompetenz der Dominanten. Korruption & Niedergang. 

Christian Reder schrieb ein ungeheuer aktuelles Buch. (Nicht nur für Europa)

Christian Reder erinnert z. B. (nicht nur) den Wiener an ein prosperierendes Wien mit 100.000 Einwohnern im 18. Jahrhundert, wo laut einer Encyclopédie meist „Italiener, Deutsche, Böhmen, Ungarn, Franzosen, Lothringer und Flamen leben, die zusammen mit den Juden Handel treiben und verschiedene Handwerkskünste ausüben.“

Christian Reder verweist auf die über 50 Millionen Menschen, welche im 19. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg Europa hoffnungsbeladen in Richtung Übersee verließen: 37 Millionen gingen nach Nordamerika, 11 Millionen nach Südamerika, 3,5 Millionen nach Australien und Neuseeland. Europa: DER Emigrationskontinent.

Christian Reder schreibt lesbar über unbedingt Lesenswertes: wie eine verantwortete Zukunft durch die Kenntnis des Vergangenen und Vergessenen vielleicht doch noch zu ermöglichen ist. 
Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut. (Nicht nur für Europa)

(Renald Deppe)

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