Verortung & Perspektive _21

Leerstand 22. Mai 2022

Byung-Chul Han
(*1959)

Palliativgesellschaft
Schmerz heute
Matthes & Seitz, Berlin 2020

 Unser Verhältnis zum Schmerz verrät, in welcher Gesellschaft wir leben. Schmerzen sind Chiffren. Sie enthalten den Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Gesellschaft. So hat jede Gesellschaftskritik eine Hermeneutik des Schmerzes zu leisten.
Werden Schmerzen allein der Medizin überlassen, verfehlen wir ihren Zeichencharakter.

 Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide. Die Algophobie hat eine Daueranästhesierung zur Folge. Jeder schmerzhafte Zustand wird vermieden. Verdächtig sind inzwischen auch Liebesschmerzen.

 Konflikten und Kontroversen, die zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen können, wird immer weniger Raum gegeben. Die Algophobie erfasst auch die Politik. Konformitätszwang und Konsensdruck nehmen zu. Die Politik richtet sich in einer Palliativzone ein und verliert jede Vitalität.

 Zu Visionen oder einschneidenden Reformen, die schmerzen könnten, ist die palliative Politik nicht fähig.nLieber greift sie zu kurzwirkenden Analgetika, die systemische Dysfunktionen und Verwerfungen nur verschleiern. Die palliative Politik hat keinen Mut zum Schmerz. So setzt sich das gleiche fort.

 Die Palliativgesellschaft fällt mit der Leistungsgesellschaft zusammen. Der Schmerz wird als ein Zeichen der Schwäche gedeutet.
Er ist etwas, das es zu verbergen oder wegzuoptimieren gilt. Er verträgt sich nicht mit der Leistung.

 Die Passivität des Leidens hat keinen Platz in der vom Können beherrschten Aktivgesellschaft. Der Schmerz wird heute jeder Möglichkeit des Ausdrucks beraubt. Er ist dazu verurteilt zu verstummen. Die Palliativgesellschaft lässt nicht zu, den Schmerz zu einer Passion zu beleben, zu versprachlichen.

 Die Palliativgesellschaft ist ferner eine Gesellschaft des »Gefällt-mir«. Sie verfällt einem Gefälligkeitswahn. Alles wird geglättet, bis es Wohlgefallen auslöst. »Like« ist das Signum, ja das Analgetikum der Gegenwart.

 Es beherrscht nicht nur die sozialen Medien, sondern alle Bereiche der Kultur. Nichts soll wehtun. Nicht nur die Kunst, sondern das Leben selbst hat »instagrammable« zu sein, das heißt frei von Ecken und Kanten, von Konflikten und Widersprüchen, die schmerzen können. Vergessen wird, dass der Schmerz reinigt.

 Selbstverletzendes Verhalten nimmt heute rapide zu. »Ritzen« entwickelt sich zu einer globalen Epidemie. Bilder von tiefen Schnittwunden, die man sich selbst zugefügt hat, zirkulieren in den sozialen Netzwerken. Sie sind neue Schmerzbilder. Sie weisen auf die vom Narzissmus beherrschte Gesellschaft hin, in der jeder bis zur Unerträglichkeit mit sich selbst beladen ist. Ritzen ist ein vergeblicher Versuch, diese Ego-Last abzuwerfen, aus sich selbst, aus destruktiven inneren Spannungen auszubrechen. Diese neuen Schmerzbilder sind die blutenden Rückseiten der Selfies.

 Die Kultur der Gefälligkeit hat vielfältige Ursachen. Die Kulturprodukte geraten immer mehr unter den Zwang des Konsums. Sie müssen eine Form annehmen, die sie konsumierbar, das heißt gefällig macht. Diese Ökonomisierung der Kultur geht mit der Kulturalisierung der Ökonomie einher. Konsumgüter werden mit kulturellem Mehrwert versehen. Sie versprechen kulturelle, ästhetische Erlebnisse. So wird das Design wichtiger als der Gebrauchswert.

 Die Konsumsphäre dring in die Kunstsphäre. Konsumgüter präsentieren sich als Kunstwerke. Dadurch vermischen sich Kunst- und Konsumsphäre, was zur Folge hat, dass nun die Kunst sich ihrerseits der Konsumästhetik bedient. Sie wird gefällig.

 Auch der unbedingte Wille zur Schmerzbekämpfung lässt vergessen, dass der Schmerz gesellschaftlich vermittelt ist.
Analgetika, massenweise verordnet, verdecken gesellschaftliche Verhältnisse, die zu Schmerzen führen. Die ausschließliche Medikalisierung und Pharmakologisierung des Schmerzes verhindert,
dass der Schmerz Sprache, ja Kritik wird. Sie nimmt dem Schmerz den Objektcharakter. Mit medikamentös oder medial induzierter Abstumpfung immunisiert sich die Palliativgesellschaft gegen Kritik.

 Auch soziale Medien und Computerspiele wirken wie Anästhetika.
Die gesellschaftliche Daueranästhesie verhindert Erkenntnis und Reflexion, unterdrückt die »Wahrheit«.

 Wir sind heute so sehr vom Ego beherrscht, benommen, ja berauscht. Das erstarkende narzisstische Ego begegnet im Anderen vor allem sich selbst. Auch digitale Medien begünstigen das Verschwinden des Anderen. Sie reduzieren den » Widerstand des Anderen«, indem sie diesen »verfügbar« machen. Wir vermögen den Anderen immer weniger in seiner Andersheit wahrzunehmen. Wird der andere in seiner Andersheit beraubt, so läßt er sich nur konsumieren.

 Schmerz ist Bindung.
Wer jeden schmerzhaften Zustand ablehnt, ist bindungsunfähig.
Intensive Bindungen, die schmerzen könnten, werden heute gemieden. Alles spielt sich ab in einer palliativen Komfortzone.

 Die Palliativgesellschaft entpolitisiert den Schmerz, indem sie ihn medikalisiert und privatisiert. Unterdrückt und verdrängt wird dadurch die gesellschaftliche Dimension des Schmerzes. Kein Protest geht von jenen chronischen Schmerzen aus, die sich als »pathologische Erscheinungen der Müdigkeitsgesellschaft« interpretieren lassen.

 Die Pandemie verhält sich wie der Terrorismus, 
der ebenfalls dem nackten Leben einen nackten Tod entgegenschleudert und dadurch eine heftige Immunreaktion hervorruft. An Flughäfen wird jeder wie ein potentieller Terrorist behandelt. Widerstandslos lassen wir demütigende Sicherheitsmaßnahmen über uns ergehen. Wir lassen es zu, dass unser Körper nach versteckten Waffen abgetastet wird.
Das Virus ist ein Terror aus der Luft. Jeder wird als potentieller Virusträger verdächtigt, was eine Quarantänegesellschaft hervorbringt und ein biopolitisches Überwachungsregime zur Folge haben wird.
Die Pandemie stellt keine andere Lebensform in Aussicht. Im Krieg mit dem Virus ist das Leben mehr denn je ein Überleben. Die Hysterie des Überlebens verschärft sich viral.

 »Seelennacktheit« nennt Elias Canetti die Schutzlosigkeit gegenüber dem Anderen. Sie ist verantwortlich für die Unruhe, in die mich der Andere versetzt. Sie macht es unmöglich, gegenüber dem Anderen gleichgültig zu sein. Die Seelennacktheit äußert sich als Angst um andere. Erst diese Angst um andere lehrt mich, wer ich bin.

 Die Seelennacktheit, die Ausgesetztheit, der Schmerz zum Anderen kommt uns heute ganz abhanden. Unsere Seele ist gleichsam von einer Hornhaut überwuchert, die uns völlig unempfindlich, unempfänglich macht gegenüber dem Anderen. Auch die digitale Blase schirmt uns immer mehr vom Anderen ab. Die klare Angst um andere weicht komplett einer diffusen Angst um sich. Ohne den Schmerz zum Anderen haben wir keinen Zugang zum Schmerz des Anderen.

 Das schmerzlose Leben mit permanentem Glück wird kein menschliches Leben mehr sein. Das Leben, das seine Negativität verfolgt und austreibt, hebt sich selbst auf. Tod und Schmerz gehören zusammen. Im Schmerz wird der Tod antizipiert.
Wer jeden Schmerz beseitigen will, wird den Tod abschaffen müssen.
Aber das Leben ohne Tod und Schmerz ist kein menschliches, sondern ein untotes Leben. Der Mensch schafft sich ab, um zu überleben. Er wird womöglich die Unsterblichkeit erreichen, aber um den Preis des Lebens.

Kontrapunkt

Giovanni Battista Pergolesi (1710 – 1736) : I. Stabat Mater Dolorosa

Perspektive 21

Byung-Chul Han. Geboren in Seoul. Aufgewachsen in Südkorea.
Byung-Chul Han. Studium in Freiburg und München. Philosophie. Deutschsprachige Literatur. Katholische Theologie.
Byung-Chul Han. 2012-2017 Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin.
Byung-Chul Han. Kann mit wenigen Sätzen Gewissheiten, Gewohnheiten, Verbindlichkeiten grundlegend erschüttern. 
Byung-Chul Han. Kann Bücher schreiben. Hat ein Buch geschrieben. Über den Schmerz. Heute. Gestern. Und morgen.

Ein Buch zum An- & Verzweifeln.
Ein Buch zum Fürchten.
Ein Buch zum Nach- & Vordenken.

Ein ehrliches Buch.
Ein schmerzhaftes Buch.
Ein unverzichtbares Buch.

Ein Buch der Verluste.
Ein Buch der Trauer. 
Ein Buch der Hoffnung.

80 Seiten Bestandsaufnahme.
80 Seiten Gänsehaut.
80 Seiten zur Verbesserung der Lage.

Ungeheuerliches. Über die Verschlechterung der Lage. Auf 80 Seiten. 
Scharfblick. Für die Vermessung der Lage. Auf 80 Seiten.
Angebote. Zur Verbesserung der Lage. Auf 80 Seiten.

In 80 Tagen um die Welt. (Jules Verne)
80 Seiten. Zur Verortung von Welt. (Byung-Chul Han)
160 Angebote. Zur Wahrnehmung der Welt. (Institut zur Verbesserung der Lage) 

Kein Kochbuch. Kein Bilderbuch.
Kein medizinischer Ratgeber.
Kein Gesangbuch. Kein Sparbuch.

Byung-Chul Han kann andere Bücher schreiben. Zum Beispiel:

Ein Dschungelbuch. Über Verwachsungen in & an & über & unter & um uns.
Ein Adressbuch. Für das Auffinden von Verantwortungs- & Verursacherpalästen. 
Ein Kursbuch. Zur Orientierung in Intensiv-, Polizei-, Durchgangs & Endstationen.

Ein Buch für Einsteiger. Aussteiger. Aufsteiger. Absteiger. Umsteiger. Und Bergsteiger.
Ein Buch mit verständlich formulierten Haupt-, Neben-, Frage-, Kausal- & Finalsätzen.
Ein Buch ohne Ablauf- & Verfallsdatum. Ohne Um-, Ab-, Schön- & Kleinschreibung.

Byung-Chul Han erinnert am Anfang seine Buches an Walter Benjamin:  

»Der Schmerz allein unter allen Körpergefühlen
ist für den Menschen ein schiffbarer Strom mit nie versiegendem Wasser, der ihn ins Meer führt.
Die Lust erweist sich überall da, wo der Mensch ihr Folge zu geben trachtet, als eine Sackgasse.«

Byung-Chul Han erinnert am Anfang seine Buches an Ernst Jünger:

»Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!«

Nenne mir deinen Schmerz über die Verhältnisse, und ich…

Auch eine Möglichkeit. Zur Verbesserung der Fragen. Heute. Gestern. Und morgen.

(Renald Deppe)

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