Verortung & Perspektive _17

Spielstand 24. April 2022

Ágnes Heller
(1929 – 2019)

Der Dämon der Liebe
Die große Philosophin im Gespräch
mit Francesco Comina und Genny Losurdo.
Edition Konturen, Wien 2021

Originaltitel:
Francesco Comina e Genny Losurdo con Ágnes Heller,
Il demone dell’amore.
La grande filosofa al cospetto di un sentimento che infiamma.
Il Segno dei Gabrielli editori, San Pietro in Cariano (Verona) 2019
Übersetzt von Georg Hauptfeld

Jeder Philosoph, jede Philosophin, also auch ich, kommt nicht umhin, über verschieden Themen, Fragestellungen und Gebiete nachzudenken und sich Fragen zu stellen, über die er nie ein Buch schreiben wird. Da die Zeit begrenzt ist, muss jeder sparsam damit umgehen und daher den eigenen dringendsten Bedürfnissen den Vorrang geben. Manchmal jedoch bieten die Fragen anderer oder der Wunsch, ein bestimmtes Thema anzusprechen, eine goldene Gelegenheit, um Phänomene zu besprechen, die sonst übergangen würden, die aber deshalb nicht weniger bedeutsam sind.

Die Liebe ist vielleicht eines der komplexesten Phänomene, weil sie verschiedene Arten von Gefühlen, Urteilen, Handlungen und Interpretationen umfasst, die nicht alle katalogisiert werden können.
Wenn mich jemand fragen würde „Was ist Liebe?“, könnte ich nicht antworten. Oder, genauer gesagt, könnte ich Liebe so definieren:
„Es ist kein bestimmtes Gefühl, sondern eine Verbindung von Gefühlen gegenüber etwas oder jemandem, die uns je nach Umständen und Lage der Dinge Vergnügen, Freude, Glück, Wonne, Missvergnügen, Kummer, Zorn, Abneigung, Schmerz oder Verzweiflung bereitet.“

Diese „Definition“ schließt bereits Fälle von Liebe ein, die ansonsten völlig verschieden und einzigartig sind. Oft werden sie klassifiziert als: väterliche Liebe, brüderliche Liebe, sexuelle Liebe, Liebe zu einer Idee, einer Gemeinschaft, Liebe zum Bösen, Liebe zum Guten, Liebe zu Gott oder anderes mehr, aber wir haben immer noch keine Antwort auf die Frage: „Was ist Liebe?“ Doch genau dies sollte ich in den Gesprächen beantworten und ich habe versucht, aus all meinen Quellen zu schöpfen: aus Kunst, Literatur, Religion, Philosophie. Man kann sie nicht alle aufzählen, denn die Liebe ist überall.

Also lade ich die Leserinnen und Leser ein, sich mit mir, Francesco und Genny auf dieses Abenteuer einzulassen, um Antworten zu finden, was Liebe ist. Dies ist nicht nur ein Buch zum Lesen: Alle Leser und Leserinnen bringen nicht nur ihre eigenen Erfahrungen mit, sondern auch die eigenen Vorstellungen von der Liebe, und sie werden sich bei der Lektüre manchmal einbezogen fühlen, zufrieden oder enttäuscht sein, Ja oder Nein sagen zu können. Sie werden an unserem Dialog teilnehmen.

Kontrapunkt

György Kurtág (*1926) : 12 Mikroludien, V. Lontano, calmo, appena sentito

Perspektive 17

Ágnes Heller wurde in finsteren Zeiten geboren. In Budapest. In Ungarn
Ungarn. Welches sich ab 1933 dem nationalsozialistischen Deutschland zu nähern bemühte.
Ungarn. In welchem aus- & eingrenzende Pfeilkreuzler einen finster gestimmten Ton angaben. Zum Beispiel.
Ungarn. Welches ab 1941 als faschistische Achsenmacht in einen Krieg der Welten eintrat. Mit Absichten.
Ungarn. Welches ab 1944 von den deutschen Nazis quasi okkupiert wurde. Terror überall. Ohne Rücksichten.
Die  Verfolgung der Juden wurde intensiviert. Durch die SS. Mit Hilfe ungarischer Pfeilkreuzler. Zum Beispiel.
Ungarische Pfeilkreuzler errichteten eine nazigestützte Diktatur. Auch Großungarn glaubte an Endlösungen.
Ungarischer Antisemitismus forderte und zeitigte Verbote. Verrohung. Verlust. Vertreibung. Vernichtung.

Ágnes Heller (über)lebte die finsteren Zeiten. Trotz jüdischer Her- & Abkunft. Gemeinsam mit ihrer Mutter. In Ungarn.
Ihr Vater und viele Familienangehörige nicht. 
Über 550 000 jüdische Mitbürger ebenfalls nicht.
Ágnes Heller immatrikulierte sich 1947 an der Universität Budapest. Für Physik & Chemie. Später dann Studium der Philosophie.
Ihre Großmutter war die erste Frau, welche an der Universität Wien studieren durfte. Um 1900. Nicht zu vergessen.

Á. H. studierte in einem streng stalinistisch regierten Ungarn. Ab 1953 erregte sich Widerständiges. Revolutionäres.
Á. H. beteiligte sich 1956 am Aufstand gegen die kommunistischen Fuß- & Kopffesseln. Vergeblich.
Á. H. blieb in Ungarn. Trotz Unterdrückung. Trotz Denk-, Lenk- & Atemnot. Heimat bist du großer Töchter.
Á. H. emigrierte 1977 nach Australien. Als Professorin für Soziologie. Eine neue Heimat. Vielleicht.
Á. H. wurde dann 1986 als Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie berufen. In New York.

Á. H. hatte Heim- & Fernweh. Pendelte nach ihrer Emeritierung zwischen ihren alten & neuen Welten.
Á. H. kritisierte Entwicklung & Positionierung Ungarns unter Orbán & Fidesz. Mutig & klug.
Á. H. 2013 in der ZEIT: „Orbán ist ein Diktator, aber Ungarn ist keine Diktatur“. Noch nicht.

Ágnes Heller verstarb 2019 im Plattensee. Beim Schwimmen. Mit 90 Jahren.

Á. H. konnte & wusste über vieles zu berichten.
Über Grenzen. Über das eigene Talent. Zum Beispiel.

»Jede persönliche Fähigkeit hat ihre Grenzen, ob man nun Gewichte stemmt, schreibt oder philosophiert.
Man braucht Zeit, um diese Grenze zu erreichen, wenn man das überhaupt schafft.
Man muss dafür und daran arbeiten; man muss die Leiter zu sich selbst heraufsteigen.
An einem Punkt erreicht man dann die höchste Sprosse der eigenen Leiter.
Man kann sich weiterhin Kenntnisse aneignen, belesener, ja sogar klüger oder weiser werden,
aber das eigene Talent kann man nicht überschreiten.«

Á. H. konnte & wusste über vieles zu berichten.
Über das Lesen. Über das Erinnern. Über gelesene Bücher. Zum Beispiel.
»Zwischen achtzehn und sechsundzwanzig ähnelt unser Geist einer leeren Wachstafel,
auf der jedes gelesene Buch Spuren hinterlässt, die währen unseres gesamten Lebens nicht mehr verlorengehen.
Das ist bestimmt kein ungetrübter Segen.
Wir werden ein Buch immer so in Erinnerung halten, wie wir es beim ersten Lesen verstanden haben.
doch sollten wir lernen, dasselbe Buch mit neuen Augen zu lesen, mit einem offenen Geist,
und das ist keine allzu leichte Aufgabe.«

Á. H. konnte & wusste über vieles zu berichten. 
Über die Nächstenliebe. Über Freunde & Feinde. Zum Beispiel.

»Jesus lebte in Übereinstimmung mit der Tora, ja, er hob sie hervor und stärkte sie…
Die Lehren Jesus richten sich an das Individuum, das die Pflicht hat, sich dem Leben zu öffnen,
indem es alle Unreinheiten auflöst, die die Liebe daran hindern, Widersprüche zu überwinden,
einschließlich des Freund-Feind-Gegensatzes.
Jesus kämpfte mit dem Establishment der Zeit, mit den Beamten des Tempels, der Priesterkaste,
den Kaufleuten, den Mächtigen, dem Imperium, 
und er wurde zu einem Bezugspunkt für verzweifelte Menschen: Kranke, Arme, Unterdrückte, Sünder…«

Wir sollten Ágnes Heller aufmerksam zuhören.
Weil wir Gegenwart verantworten sollen. Müssen…
Damit wir Zukunft erleben, gestalten und ertragen können. Dürfen.

(Renald Deppe)

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