Verortung & Perspektive _12

Aufstand 20.3.2022

Alfred Döblin
(1887 – 1957)

Die drei Sprünge des Wang-lun
Chinesischer Roman
(Alfred Döblin war bis 1933 Autor beim Samuel Fischer Verlag)

Zueignung

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Ich will das Fenster schließen.

Ich weiß nicht, wessen Stimmen das sind,
wessen Seele solch tausendtönniges Gewölbe von Resonanz braucht.

Dieser himmlische Taubenflug der Aeroplane.
Diese schlüpfende Kamine unter dem Boden.
Dieses Blitzen von Worten über hundert Meilen.
Wem dient es?

Die Menschen auf dem Trottoir kenne ich doch.
Ihre Telefunken sind neu.
Die Grimassen der Habgier, die feindliche Sattheit des bläulich rasierten Kinns,
die dünne Schnüffelnase der Geilheit,
die Rohheit, an deren Geleeblut das Herz sich klein puppert,
der wässerige Hundeblick der Ehrsucht,
ihre Kehlen haben die Jahrhunderte durchkläfft und sie angefüllt mit – Fortschritt.

O, ich kenne das. Ich, vom Wind gestriegelt.

Daß ich nicht vergesse -.
Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr.
Gewinnen, Erobern; ein alter Mann sprach:
»Wir gehen und wissen nicht wohin.
Wir bleiben und wissen nicht wo.
Wir essen und wissen nicht warum.
Das alles ist starke Lebenskraft von Himmel und Erde:
wer kann da sprechen von Gewinnen, Besitzen?«

Ich will ihm opfern hinter meinem Fenster, dem weisen alten Manne,

Liä Dsi

mit diesem ohnmächtigen Buch.

Kontrapunkt

Kurt Weil (1900-1950) : Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit

Perspektive 12

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin wurde als viertes von fünf Kindern in Stettin geboren.
Sein Vater, der jüdische Schneidermeister Max Döblin, verließ Frau & Kinder. 
Unversorgt.
Floh mit einer jungen „Bügelmamsell“ über Hamburg nach Amerika.
Alfred Döblin war 10 Jahre alt.
Achtung & Verachtung, Zweifel & Mißtrauen prägten seither sein Vaterbild.
Und Mitleid.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?
Alfred Döblin und seine Geschwister zogen mit der Mutter, Sophie Döblin (geborene Freudenheim), nach Berlin.
Sophie Döblin versuchte ihre Familie verzweifelt allein zu ernähren.
Bittere Armut und ein „Pardon wird nicht gegeben“ prägten Kindheit & Jugend.
Eine Freistelle ermöglichte den Besuch eines treudeutsch preussischen Gymnasiums.
In der Hölle der verhassten „Schulanstalt“ begann Alfred Döblin zu lesen. Um zu schreiben. 
Und zu schreiben.
Achtung & Verachtung, Widerstand & Mißtrauen, Vor- & Drohbilder prägten seine Schul- & Lebenszeit.
Und Armut.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin maturierte. Zuvor erkundete er früh die Sünden- & Großstadt Berlin. 
Verwandte unterstützten finanziell ein Studium der Medizin in Berlin und Freiburg.
Der Besuch philosophischer Lehrveranstaltungen bereicherten seine Welt- & Absichten.
Nach der Promotion ermöglichte die Tätigkeit als Arzt eine besondere Welt- & Wahrheitsfindung:
Assistenzarzt an der Kreisirrenanstalt in Regensburg.
Assistenzarzt an der Irrenanstalt der Stadt Berlin.
Assistenzarzt am Städtischen Krankenhaus Berlin.
Nach der Geburt eines uneheliches Sohnes später dann die Heirat mit einer anderen Frau.
Die Medizinstudentin Erna Reiss aus bestem Hause.Zuvor Erwerb einer Kassenpraxis samt Wohnung in Berlin.
Tätigkeiten als praktischer Arzt, Geburtshelfer, Internist & Nervendoktor.
Zumeist für die Ärmsten der Armen in einer von Bismarck ge- & enttäuschten Gründerzeit.
Und nächtens: schreiben, schreiben, schreiben…
Geld- & Broterwerb, Not- & Ehestand, Empathie & Mißtrauen, Vor- & Drohbilder prägten Studien- & Arbeitszeit.
Und Ängste.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten. Den ersten.
Als Militärarzt begegnete er den sinnlosen Zerstörungen seiner Zeit.
Menschen & Tiere, Natur & Dinge, Geistes- & Glaubenswelten wurden geopfert.
Den sogenannten Vaterländern. 
Von besinnungslosen Vatermördern. Von eiteldreisten Vaterfiguren.
Von verantwortungslosen Vaterschaften. Von ehr- & würdelosen Stamm- & Landesvätern.
Es war ein Krieg der alten & kalten Männer. Junge Männer durften frontsterben.
Frauen durften Krieger heiraten. Um neue Krieger zu entbinden. 
Welche sie dann im Lazarett ver-, an- & abbinden konnten.   

Daß ich nicht vergesse -.
Was blieb zurück?
Was denn?

Alfred Döblin wusste es:
Das Großwild in den Vorstandsetagen der Großkonzerne.
Die Großspekulationen von dickbäuchig verblieben Großbürgern.
Die Kleinwitwen als Großkatzen in den Bordellen der Groß- & Kleinstädte.
Die Kleingeister als Großbraune in den Parteilokalen der hirnlosen Groß- & Kleinhändler. 
Massenarbeitslosigkeit & Massenarmut.
Das kleine Glück und das Kleingeschriebene. Bestenfalls.
Die große Hoffnung. Immer.
Ehr- & Brotlosigkeit, Not- & Befehlsstand, Zerr- & Drohbilder prägten Döblins Welt- & Kriegszeit.
Und Ohnmacht.
Und Yolla. Fotografin. Keine Angetraute, aber Vertraute. 
Schreiben? Täglich.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin er- und überlebte eine Zwischenkriegszeit.
Er ahnte es. Gewusst hat er es nicht. Aber befürchtet.
Alfred Döblin er- und überlebte sie mit und durch die Feder.
Bücher mit wundersamen Titeleien entstanden:
Die Ermordung der Butterblume. 
Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine.
Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall.
Manas. Amazonas. Wallenstein. Das Land ohne Tod.

Und vieles, vieles, vieles mehr.

Auch, bitte nicht zu vergessen:
»Die drei Sprünge des Wang-lun«.
Eine zeitlose Parabel über Terror und Widerstand.
Veröffentlicht 1915/16.
Ein Buch, über das Günther Grass schrieb:
»Nimmt man es in der heutigen Zeit des Terrorismus in die Hand,
wirkt das Werk ungeheuer aktuell.«
Eine Parabel. Ein Gleichnis. Eine uralte Erzähltechnik.
»Ein chinesischer Roman«. Eine literarische Inszenierung des Fremdkulturellen.  
Ungeheuer aktuell. Weil aktuelle Ungeheuerlichkeiten schildernd.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin praktizierte nach dem Ende des alten und vor dem Beginn eines neuen Krieges weiterhin.
Als Kassenarzt.
Und schrieb seine Erfolgsgeschichte über eine folgenreiche Zeit:
»Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf.«
Mehrfach verfilmt & ausgezeichnet. Ein (damals) viel gelesenes Buch.
Der lang ersehnte, auch beanspruchte Erfolg.

Daß ich nicht vergesse -.
Was denn?

Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten. Den zweiten.
In der Emigration. Mit französischer Staatsbürgerschaft. In den USA.
Alfred Döblin war und blieb ein Berliner. Und liebte, lebte, dachte und litt als Berliner.
Praktizieren durfte er nicht. Aber schreiben konnte er. Schreiben musste er.
Sohn Wolfgang Döblin überlebte den Krieg der Welten nicht. Den zweiten. 
Er nahm sich als französischer Soldat sein noch junges Leben. 
Während einer drohenden Gefangennahme durch die Deutsche Wehrmacht.
Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten als elender Skribent.
Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten als kranker Skribent.
Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten als nie verstummender Skribent.
Alfred Döblin er- & überlebte den Krieg der Welten als Christ.
Alfred Döblin: in jener Zeit: als Menschen: die sich Christen nannten: Juden umbrachten: ließ er sich taufen.
Alfred Döblin kehrte nach Europa zurück. Trotzdem. Hoffnungsfroh.
Alfred Döblin kehrte nach Deutschland zurück. Trotzdem. Vergeblich.
Aber das ist eine andere Geschichte. Eine hier noch zu erzählende. Keine nachweltrühmliche. 
Vielleicht. Bestimmt. Mut- & wutbedingt. 

Alfred Döblin verlegte seinen Wohnsitz nach Paris. Dort verstarb er im Juni 1957.
Alfred Döblin war und blieb ein Berliner. Und fühlte, dachte und starb als Berliner.
Alfred Döblins Gattin Erna Reiss wählte den Freitod in Paris. Im September 1957.

Beenden wir, wertgeschätzte Leser und Leserinnen, unsere hier verortete Perspektive. 
Mit einem (mehr als frommen) Wunsch des Nobelpreisträgers Günther Grass:

»Ich möchte, daß Alfred Döblin eines Tages so zum Bildungsschatz
– um ein altmodisches Wort zu benutzen –
gehört wie Thomas Mann, wie Brecht, 
wie all die anderen Klassiker der deutschsprachigen Moderne.«

Das möchte ich auch.
Und wenn es denn so kommen sollte, würde ich drei Sprünge machen.
Mindestens.

(Renald Deppe)

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