
Abstand 27.2.2022
Haiku
Gedichte aus fünf Jahrhunderten
Japanisch/Deutsch
Ausgewählt, übersetzt und kommentiert
von Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller
Unter Mitwirkung von Kaneko Tōta und Kurodo Momoko
Phillip Reclam, Ditzingen 2017
Glanz des Mondes
aus dem Wasserbecken geschöpft
zerspritzt, verschüttet
Nonoguchi Ryūho (1595 – 1669)
*****
Es dunkelt das Meer,
der Ruf der Wildenten scheint
weißlich zu schimmern.
Matsuo Bashô (1644 – 1694)
*****
Einzig der Fuji
bleibt übrig in den Fluten
des jungen Laubes
Yosa Buson (1716 – 1783)
*****
Ich, die Vogelscheuche
Stets zu ihren Diensten
Herr Spatz!
Natsume Sōseki (1867 – 1916)
*****
Der Juli ist da!
Den Apfel wasche ich
unter der Dusche
Minayoshi Tsukasa (1962)
*****
Glossar:
Haiku
Der Begriff ist eine Neubildung aus »Haikai no Hokku«, eingeführt von Masaoka Shiki (Ende 19. Jh.).
Haiku bezeichnet das Kurzgedicht mit 5-7-5 »Moren«, meistens mit einem Jahreszeitwort versehen,
und ersetzt den vorher geläufigen Begriff »Hokku«.
Im Verlauf des 20 Jh.s hat sich die Bezeichnung sowohl in Japan wie besonders auch international
zur umfassenden Gattungsbezeichnung entwickelt, unter die das ganze Genre seit seiner Entstehung subsummiert wird.
Mora (Plural: Moren)
Metrische Einheit, entspricht der Zeitdauer eines kurzen Sprechtakts, einer kurzen offenen Silbe.
Das Japanische kennt nur solche Einheiten.
Langvokale (Doppelvokale), Diphthonge und Doppelkonsonanten sind zweimorig.
Auch das auslautende »-n« wird als Mora gezählt.
Nach westlicher Zählweise zweisilbige Ausdrücke wie Hokku (»Ho-k-ku«) haben 3 Moren,
das Wort ippan (»i-p-pa-n«) sogar 4 Moren.
Eine japanische Mora kann also nicht einfach mit einer deutschen Silbe gleichgesetzt werden, wie das meistens geschieht.
Kontrapunkt
Perspektive 09
Jede Sprache hat etwas nicht zu Übersetzendes.
Jede gesprochene Sprache kennt etwas nicht Auszudrückendes.
Jede verschriftete Sprache besitzt etwas nicht zu Verschriftendes.
Jede Sprache hat ihr Enigma.
Ein japanisches Haiku in eine andere Sprache zu übersetzen ist kaum zu bewältigen.
Ein japanisches Haiku in eine andere Schrift zu setzen ist kaum zu meistern.
Und dann sind da noch die vieldeutigen Entgrenzungen der Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle.
Trotz der strengen Form. Wegen der strengen Form. Durch die strenge Form.
Ein Haiku fokussiert, komprimiert Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle.
Zum Beispiel.
Die kostbare »Wünschelrute« von Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
würde ein Haiku mit dieser poetischen »Magie des Möglichen« umschreiben:
(Der geneigte Leser verzeihe bitte dem Autor dieser Zeilen dieses Unterfangen.)
Heb an zu singen!
Nur DU triffst das Zauberwort
in allen Dingen
Umgekehrt könnte ein Haiku von Matsuo Bashô:
Krank auf der Reise
Auf leeren Feldern der Traum
irrt ziellos umher
folgenden brisanten Prosa-Diskurs zeitigen:
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
Die Erde ist klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben:
denn man braucht Wärme.
Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher.
Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert.
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume.
Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn die Arbeit ist Unterhaltung.
Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife…
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Also sprach der Zarathustra des Friedrich Nietzsche (1883).
Auswahl, Übersetzung, Kommentare und Herausgabe dieser umfangreichen Haiku-Anthologie sind eine große Leistung.
Danke.
Auswahl, Übersetzung, Kommentare und Herausgabe dieser umfangreichen Haiku-Anthologie zeitigen „transdisziplinäre Kulturvermittlung“.
Danke.
Ermöglicht doch das Fremde eine andere Sicht auf das (vermeintlich) Eigene.
Ermöglicht doch das Ferne eine andere Wertschätzung des (vermeintlich) Nahen.
Ermöglicht doch Abstand (…) Wesentliches:
Die Wertschätzung für die Poesie der Form einer Ballade, Elegie, Hymne, Ode,
eines Sonettes, Epigramms, eines Liedes.
Die Wertschätzung für die Klänge ihrer Metren & Rhythmen:
Amphibrachys, Amphimakros, Anapäst, Bacchius, Choreus, Choriambus, Daktylus,
Dibrachys, Didymäus, Dijambus, Dispondeus, Ditrochäus, Dochmius, Epitrit, Hypobacchius,
Jambus, Jonikus, Kretikus, Molossus, Orthius, Päon, Prokeleusmatikus, Pyrrhichius,
Spondeus, Tribrachys, Trochäus…
So viel vermeintlich Eigenes ist fremd geworden.
So viel vermeintlich Nahes ist fern verloren.
So viel vermeintlich Unnötiges hat unbedingte Notwendigkeit bekommen.
So viel vermeintliches Glück ist Last, Bedrohung, Gift, Kaltglanz, ist taube wie stumme Lust geworden.
Es sei an dieser Stelle bitte noch der Hinweis auf ein weiteres Buch gestattet:
Richard Ovenden (*1964)
Bedrohte Bücher
Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
Titel der Originalausgabe:
Burning the Books
A History of Knowledge under Attack
Hohn Murray (Publishers), Great Britain 2020
Ein wunderbares Buch über bedrohtes Lesen.
Ein wunderbares Buch über bedrohtes Schreiben.
Ein wunderbares Buch über bedrohtes Sammeln von Sprache, Schrift & Zeichen.
Ein wunderbares Buch über bedrohte Denk-, Sprech-, Sprach-, Lese-, Schreib-, Schrift-, Zeichen- & Bewahrungssysteme.
Ein wunderbares Buch über bedrohtes Leben.
Danke.
(Renald Deppe)