Von Schriften und Zeichen – Vom Zeichen als Schrift

Literatur ist zumeist (aber nicht nur) mit Verschriftung verbunden.

Prolog:

Lesen in Schriften.
Lesen in Handschriften. Zwischen den Zeilen.
Lesen mit Zeichen. 
Lesen mit Wasserzeichen. In den Zeilen.
Zeichen in Schriften.
Zeichen in Abschriften. Zwischen den Zeilen.
Schriften als Zeichen.
Schriften als Rauchzeichen. An den Zeilen.
Zeichen an Schriften.
Zeichen an Zuschriften. Zwischen den Zeilen.
Schriften ohne Zeichen.
Schriften ohne Lebenszeichen. Ohne Zeilen.

Schriften benennen.
Zeichen erkennen.
Erkanntes bekennen.

Kurzschriften – Klopfzeichen. 
Anklageschriften – Aktenzeichen. 
Denkschriften – Brandzeichen. 
Kinderschriften – Lesezeichen. 
Zierschriften – Pausenzeichen. 
Flugschriften – Rufzeichen. 
Schönschriften – Markenzeichen.
Geheimschriften – Briefzeichen 
Festschriften – Fragezeichen. 
Schmähschriften – Warnzeichen.

1001 Zeichen. Gedeutet.
1001 Schriften. Unzensiert.
1001 Geschichten. Bewahrt.
1001 Verortungen. Zum Betrachten.
1001 Perspektiven. Zum Lesen.
1001 Spuren. Zur Verbesserung der Lage.

(Renald Deppe)


Das Gedächtnis des Tons – Keilschrift

Das älteste bekannte Zeugnis einer Schrift.

Die Tradition ordnet die Bezeichnung »keilförmig« der Gesamtheit des wichtigsten graphischen Systems des alten westlichen Asiens zu.

Die Keilschrift taucht um 3300 v. Chr. in Mesopotamien (Irak) auf.
Die letzten bekannten Texte stammen aus dem Jahr 75 n. Chr. (Babylon).

Die alten piktographischen Buchstaben von Sumer gehen erst um 2800 v. Chr. in die echte keilförmige Schrift über.
Das Alphabet von Ras-Schamra-Ugarit (Syrien) ist das erste Alphabet der Geschichte der Menschheit.

Abbildung:

Abschrift von Inschriften auf Tonziegeln in Susa, Hauptstadt des Elam (Iran), unter der Herrschaft von Schilkak-Inschuschinak (1150-1120 v. Chr.) aus der Dynastie der Schutrukiden. 
Unter den Herrschern von Mesopotamien gab es eine bedeutende Tradition von Baumeistern.
Königliche Macht wurde durch Inschriften auf Tonziegeln hervorgehoben.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Shang Dynastie – Chinesische Schrift

Die ältesten Inschriften wurden auf Schildkrötenpanzern und Hirschschulterknochen gefunden.

Man nimmt an, dass die chinesische Schrift um 1400 v. Chr. entstand.
Sie stammt aus der Provinz Henan.

Es ist eine ideophonographische Geheimschrift, deren Beherrschung eine lange Übung voraussetzt
und umfasst 49905 Zeichen, von denen 3000 im alltäglichen Gebrauch sind.

Abbildung:

Hier eine der ältesten chinesischen Schrifttypen, eine Abschrift der Zeichen, die im 16. Jahrhundert v. Chr. in eine Bronzeglocke graviert wurden.
Die Glocke wurde in der Shang Dynastie (1766-1122 v. Chr.) als Lobpreisung des Frühlings gegossen.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Ahirom, König von Byblos – Phönizische Schrift

Schrift aus dem nahen Orient, die zwischen dem 13. und 11. Jahrhundert v. Chr. in Byblos und Tyr entstand, zwei phönizischen Städten (Libanon).

Das phönizische Alphabet (22 Zeichen) mit seinem konsonantischen System ist der Vorläufer fast aller westlichen Alphabete, vor allen des Griechischen.

Seine Kraft liegt in der Einfachheit und seiner leicht zu erfassenden Schrift.

Das Phönizische konnte in der Antike die wichtigsten Sprachen der umliegenden Regionen wiedergeben.

Die Existenz des Alphabets führte im Laufe der Zeit zum Verschwinden der Kaste der ägyptischen Schreiber.

Abbildung:

Abschrift der phönizischen Buchstaben auf dem berühmten Sarkophag von Ahirom, König von Byblos.

Dies sind die bis heute ältesten bekannten phönizischen Lettern.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Enkomi

Man weiß, dass die Insel Zypern ihre eigene Schrift hatte, deren System des »linearen kretischen A« ähnelt.

Die älteste bekannte Inschrift Zyperns wurde auf Tontafeln in Enkomi entdeckt und stammt aus dem Jahr 1500 v. Chr.

Die anderen in Enkomi gefundenen Tontafeln stammen aus einer späteren Epoche, Ende des 11. oder 12. Jahrhunderts v. Chr.

Abbildung:

Abschrift einer großen Tontafel von Enkomi aus den 12. Jahrhundert v. Chr.

Sie gehört zum Typus der großen dicken Schreibtafeln, die man im Mittleren Osten für Archivlisten und auch für literarische Texte verwendete.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Das Geschenk des Gottes Thot – Ägyptische Schriften

Entstanden um 3200 v. Chr. im Niltal. 

Die letzte bekannte Inschrift stammt aus dem Jahre 394 n. Chr.

Drei verschiedene Schrifttypen, die der mächtigen Minderheit der Schreiber vorbehalten waren:

Hieroglyphen – hieratische Schrift – demotische Schrift.

Abbildung:

hieratische Schrift, Schematisierung der Hieroglyphen, 19. Dynastie

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Die Sprache Christi – Aramäische Schrift

Dem phönizischen verwandt entstand sie 1000 Jahre v. Chr. in Aram (Syrien), zwischen Dama und Alep.

1000 Jahre land war dies die Sprache dieser Region.

Das Aramäische wurde vom Mittelmeer bis nach Indien gesprochen, ehe es die offizielle Sprache des persischen Reiches wurde.

Das Aramäische  wurde für den ältesten Abschnitt der Bibel verwendet.

Jesus spricht Aramäisch in seinen Predigten.

Abbildung:

Abschrift eines assyrisch-aramäischen Textes auf der Statue des Tell Fekherye aus dem Museum in Damas, 9. Jahrhundert v. Chr.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Die Reise von Kadmos – Griechische Schrift

Die ältesten griechischen Inschriften gehen auf die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. zurück.
Die Legende besagt, dass das Alphabet den Griechen durch den Phönizier KADMOS gebracht wurde. In der Folge wurden einige Konsonanten zu Vokalen, die es zuvor in keinem anderen Alphabet gegeben hatte.
Alpha, Epsilon, Iota, Omikron und Ypsilon sind die Vorläufer unserer Vokale a e i o u.

Allmählich befreiten die Griechen das Alphabet von den letzten Resten des Gegenständlichen und reduzierten die Buchstaben auf einfache harmonische geometrische Formen, so wie es ihrer Psychologie und ihrer spezifischen Kultur entsprach. Die Schrift wurde zur sichtbaren Übersetzung des Gedankens, geformt aus Wörtern.

Abbildung:

Die Tonscheibe, die man aus den Ruinen des Phaistos Palastes fand, ist der berühmteste Fund aus Kreta. Er geht auf das Jahr 1700 v. Chr. zurück. Ihr tatsächlicher Ursprung und auch die inhaltliche Bedeutung bleiben ein Geheimnis.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Christen in Ägypten – Koptische Schrift

Als die alten Schriften allmählich aus dem römischen und christlichen Ägypten verschwanden, wurden sie durch eine neue Schrift, das Koptische, ersetzt.

Seit 100 v. Chr. war das Koptische die gesprochene Sprache in Ägypten.

Es ist ein ägyptischer Volksdialekt, der im griechischen Alphabet geschrieben wird.

Dazu kommen einige Lettern aus den ägyptischen Demotisch, die das Griechische nicht kennt.

Abbildung:

»Liber gradum«, biblischer Teil, zweisprachiger Codex (Koptisch-Arabisch).

Glossar aus dem Buch des Propheten Jeremias.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Gebete vom Himalaja – Tibetanische Schrift

Die tibetanische Schrift, ein entfernter Vorläufer des Aramäischen und in der Folge der Brahmischrift (Indien) stammt aus dem 7. Jahrhundert.

Abbildung:

»Wiederholung und Unendlichkeit«, tibetanische Dhárani, gedruckt in Rot.

Der innerste nicht gedruckte Kreis wurde mit einer handschriftlichen chinesischen Inschrift gefüllt.

Um ihn herum ein erster Kreis aus Blütenblättern,

dann ein tibetanischer Text in zehn konzentrischen Kreisen. –

Blume und Drachen in Schildplatt.

Ende der Trauerzeremonie der tibetanischen Bon-po.

Manuskript, Tusche auf Papier (8./9. Jahrhundert).

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Der Gesang des Muezzin – Arabische Schrift

Ihr Ursprung ist syrisch nabatäisch.

Dazu kommt die Verwendung aramäischer Konsonanten.

Die ersten Inschriften in arabischer Schrift gehen auf das Jahr 500 n. Chr. zurück.

Das Arabische wird von den Moslems als »reine Sprache« Allahs betrachtet.

Abbildung:

Buchseite in maghrebinischer Kalligraphie aus dem sogenannten »Koran Karl V.«.

Es handelt sich hierbei um einen achtbändigen Koran, den Karl V. 1535 bei einer Expedition nach Tunis mitnahm.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


An den Ufern des Toten Meeres – Hebräische Schrift

Die hebräische Quadratschrift leitet sich aus dem Phönizischen und Aramäischen ab und erscheint im Nahen Osten um 600 v. Chr.

Es ist eine Majuskelschrift, sie wurde für die Abschrift der Schriftrollen des Moses verwendet. Seit der Bildung des israelischen Staates 1948 ist sie wieder verbreitet.

Abbildung:

Eine Seite in hebräischer Quadratschrift vom Beginn des 10. Jahrhunderts aus dem »Pentateuch« oder der »Thora«, so der Name für die fünf ersten Bücher der Bibel: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Kreise, Dreiecke und Kreuze – Kyrillische Schrift

Diese Schrift basiert auf der glagolitischen Schrift, die von den griechischen Slawenaposteln und Bibelübersetzern, den Brüdern KYRILLOS und METHODIOS, um 860 im Auftrag des byzantinischen Kaisers Michael III. entwickelt wurde.

Die Form der Buchstaben, die sich aus Dreiecken, Kreisen und Kreuzen zusammensetzt, soll Christus und die Dreifaltigkeit darstellen.

Die kyrillische Schrift diente in den folgenden Jahrhunderten der Abgrenzung des orthodoxen »Ostrom« gegenüber dem katholischen, lateinisch-schriftlichen Rom.

Abbildung:

Die großen Manuskriptseite von etwa 1450 stammt aus der Feder des Schreibers Gabriel Uric aus dem Kloster Neamtu in Moldawien.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Romulus – Lateinische Schrift

Das lateinische Alphabet als Erbe des Griechischen und Etruskischen entsteht um 400 v. Chr.

Die »Capitalis monumentalis«, Prototyp der universellen Schrift, die für die Inschriften der Monumente verwendet wurde, wird zum Sinnbild für die Schrift der römischen Expansion.

Abbild:

Stele des Romulus, des Gründers von Rom.

(GRAPHEIN, Schreiben-Malen-Zeichnen, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz-München 2002)


Haeckel (1834-1919) : Der Stammbaum des Menschen (1874)

Seit der Zeit, als die Spezies anfing, ihre ersten bedeutungstragenden Laute von sich zu geben, haben die Familien und Stämme die Alten gebraucht. Vielleicht waren die Alten vorher noch unnütz gewesen und wurden weggeworfen, wenn sie nicht mehr zur Nahrungsmittelbeschaffung taugten. Doch mit der Sprache wurden sie zum Gedächtnis der Spezies: Sie setzten sich in der Höhle ums Feuer und erzählten, was früher geschehen war, vor der Geburt der Jungen (oder wovon behauptet wurde, daß es geschehen sei – dies ist die Funktion der Mythen). 

Bevor die Menschen anfingen, dieses gesellschaftliche Gedächtnis zu pflegen, kamen sie ohne Gedächtnis zur Welt, hatten nicht genug Zeit, sich eins zu erwerben, und starben. Nach diesem epochalen Einschnitt war schon ein Zwanzigjähriger gleichsam wie einer, der bereits seit Jahrtausenden gelebt hatte. Was vor seiner Zeit geschehen war und was die älteren gelernt hatten, ging in sein Gedächtnis ein und wurde ein Teil davon.

Die Alten, die das Sprechen artikulierten, um den Jüngeren die Erfahrungen ihrer Vorgänger weiterzugeben, repräsentierten auf ihrer Entwicklungsstufe noch das animalisch-organische Gedächtnis, das von unserem Hirn registriert und verwaltet wird.

Umberto Eco (1932-2016)


Bibliothek des Aššurbanipal : Angelegt vom assyrischen König Aššurbanipal (669 v. Chr. – 627 v. Chr.) 
Tafel mit einem Teil des Gilgamesch-Epos : Tafel 11, die Sintflut-Erzählung (1800 bis 1595 v. Chr.)

Mit der Erfindung der Schrift kommt es zur Geburt des mineralischen Gedächtnisses.  Ich nenne es »mineralisch«, weil die ersten Schriftzeichen auf Tontäfelchen geritzt und in Stein gemeißelt wurden; deshalb gehört zum mineralischen Gedächtnis auch die Architektur, denn von den Pyramiden bis zu den gotischen Kathedralen war der Tempel auch immer ein Verzeichnis heiliger Zahlen und mathematischer Berechnungen, und durch seine Statuen oder Wandgemälde überlieferte er Geschichten und moralische Lehren, mit einem Wort, er bildete, wie gesagt worden ist, eine steinerne Enzyklopädie.

Und wie die ersten Hieroglyphen, Keilschriftzeichen, Runen und Alphabetbuchstaben eine mineralische Grundlage hatten, so hat es auch das aktuellste Gedächtnis, das der Computer, dessen Rohstoff ja Silizium ist. Dank der Computer verfügen wir heute über ein immenses gesellschaftliches Gedächtnis; es genügt, die Modalitäten des Zugangs für die Datenbanken zu kennen, und wir können zu jedem beliebigen Thema alles erfahren, was es darüber zu wissen gibt, zu einer einzigen Fragestellung eine Bibliographie von zehntausend Titeln. Aber es gibt kein größeres Schweigen als den absoluten Lärm, und das Übermaß an Information kann zu absoluter Ignoranz führen: überflutet von Millionen Einzelheiten, können wir jedes Auswahlkriterium verlieren.

Umberto Eco (1932-2016)


Hieratic papyrus of an Osiris ritual Circa 1st-2nd century (Kunsthistorisches Museum, Wien)

Doch mit der Erfindung der Schrift ist nach und nach jene dritte Art von Gedächtnis entstanden, die ich das pflanzliche Gedächtnis nennen möchte, denn mag auch das Pergament aus tierischen Häuten gemacht worden sein, Papyrus war pflanzlicher Herkunft, und mit dem Aufkommen des Papiers (im zwölften Jahrhundert) werden Bücher aus Flachsfasern, Bast und Leinen gemacht – und schließlich verweist die Etymologie sowohl von griechisch »byblos« als auch von lateinisch »liber« auf Baumrinde.

Bücher gab es schon vor der Erfindung des Buchdrucks, auch wenn sie zunächst die Form von Rollen hatten und erst allmählich zu dem wurden, was wir heute kennen. Das Buch, in welcher Form auch immer, hat der Schrift erlaubt, sich zu personalisieren: Es enthält eine Portion von kollektivem Gedächtnis, die jedoch unter einem persönlichen Gesichtspunkt ausgewählt worden ist. Wenn wir Obelisken, Stelen, Tafeln oder Grabsteine vor uns haben, versuchen wir sie zu entziffern; wir müssen also das verwendete Alphabet kennen und wissen, welche essentiellen Informationen es sind, die da überliefert werden sollen – hier liegt der Soundso begraben, dieses Jahr sind soundso viel Getreidegarben produziert worden, dieses und jenes andere Land hat König Soundso erobert. Wir fragen uns nicht, wer das eingemeißelt oder -geritzt haben mag. Wenn wir jedoch ein Buch vor uns haben, suchen wir nach einer Person, einer individuellen Sicht der Dinge. Wir versuchen es nicht bloß zu entziffern, sondern suchen auch einen Gedanken zu interpretieren, eine Absicht. Und wenn man nach einer Absicht sucht, befragt man einen Text, von dem es auch mehrere Lesarten geben kann.

Die Lesart wird zum Dialog, aber zu einem – und dies ist das Paradox des Buches – mit jemandem, der nicht anwesend ist, der vielleicht schon seit Jahrhunderten tot und nur als Schrift präsent ist. Es gibt eine Befragung der Bücher, die man Hermeneutik nennt, und wo es Hermeneutik gibt, da gibt es auch einen Kult des Buches. Die drei großen monotheistischen Religionen, das Judentum, das Christentum und der Islam, entwickeln sich als permanente Befragung eines heiligen Buches. Das Buch wird zum Symbol der Wahrheit, die es hütet und nur demjenigen offenbart, der es zu befragen weiß, daß man, um eine Diskussion zu beenden, eine These zu bekräftigen oder einen Gegner zu vernichten, einfach sagt: Hier steht es geschrieben!« Wir haben immer Zweifel an unserem animalischen Gedächtnis (»mir scheint, ich erinnere mich, aber ich bin mir nicht sicher…«), doch auf das pflanzliche Gedächtnis pochen wir gern und benutzen es, um alle Zweifel auszuräumen: »Wasser ist wirklich H2O, Napoleon ist wirklich auf Sankt Helena gestorben, so steht es im Lexikon!«

Umberto Eco (1932-2016)


Book of Lindisfarne (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert)

Holy Island, genannt Lindisfarne, befindet sich an der Nordostküste Northumberlands in England. Wissenschaftler vermuten, dass die Halbinsel in der Nordsee der Entstehungsort dieses lateinischen Evangeliars ist. Das Kloster Lindisfarne, das dort 635 gegründet wurde, war nicht nur ein Wallfahrtsort, sondern auch eine Stätte für Künstler und Schreiber, so daß das Buch von Lindisfarne ein herausragendes Beispiel insularer Buchkunst ist.

Im Kolophon der Handschrift selbst wird die Person genannt, die das komplette Buch geschrieben und illustriert hat: Eadfrith, 698-721 Bischof in Lindisfarne. Angefertigt wurde die Handschrift zu Ehren des heiligen Cuthbert, der im 7. Jahrhundert zahlreiche Wunder gewirkt haben soll.

Der lateinische Text der vier Evangelien ist auf 259 Folios aus Kalbspergament geschrieben. Vorangestellt ist den Evangelien eine ganzseitige Miniatur des jeweiligen Evangelisten, eine wegen ihres Musters sogenannte Teppichseite mit der Funktion eines Frontispizes sowie Incipitseiten mit kunstvollen Zierinitialien. Die enthaltenen Ornamente und Verzierungen weisen die außergewöhnliche Bandbreite von 45 verschiedenen Farbtönen auf, bestehend aus tierischen, pflanzlichen und mineralischen Farbstoffen. Nach Einschätzung heutiger Schreiber würde die Anfertigung einer solchen Handschrift mindestens zwei Jahre ganztägiger Tätigkeit in Anspruch nehmen, neben den Aufgaben eines Bischofs dürfte dies aber eher ein ganzes Jahrzehnt gedauert haben.

Am 8. Juni 793 wurde das Kloster Lindisfarne von Wikingern überfallen. Dieses Datum wird allgemein als Beginn der Wikingerzeit angesehen. Aus Furcht vor weiteren Überfällen verließen Bischof Eardulf und die Mönche das Kloster 875 und nahmen das Buch von Lindisfarne mit. Während dieser Zeit wurde das lateinische Evangeliar mit altenglischen Glossen versehen und enthält heute die älteste erhaltene Übersetzung ins Altenglische.

Die Originalhandschrift befindet sich im Besitz der British Library in London. Vom Faksimile Verlag Luzern wurde im Jahr 2003 eine Faksimile-Edition herausgebracht.

(Universitätsbibliothek Tübingen)


Book of Lindisfarne (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert)

British Library, London

In der ältesten Evangelienübersetzung aus dem Lateinischen ins Altenglische verschmelzen mediterrane und keltische Einflüsse zu einem Formenreichtum, der das Fundament für die weitere abendländische Kunstentwicklung darstellte.

Trotz seines hohen Alters von beinahe 1300 Jahren befindet sich das Buch von Lindisfarne in einem außerordentlich guten Zustand, es ist sogar weltweit das einzige komplett erhaltene Evangeliar aus dem insularen Raum.

Fünf außergewöhnliche Teppichseiten präsentieren die ganze Palette insularer Ornamentik in all ihrem atemberaubenden Farben- und Formenreichtum. Kunstvoll in die Gesamtkomposition eingearbeitete Kreuzformen heben sich dank leuchtender Konturen plastisch aus dem dicht gewirkten Flechtwerk ab.

Mit den Kreuzteppichseiten zu Beginn jedes Evangeliums und einer weiteren am Anfang des Buches ist eine ebenso reich gestaltete Incipitseite kombiniert. Die großen Initialen erstrecken sich über die ganze Seite. Dabei verschmelzen die bis ins kleinste Detail von fließenden Ornamenten und Mustern ausgefüllten Zierinitialen mit den unmittelbar folgenden Buchstaben zu kunstvollen Monogrammen. Über 200 weitere, farbig ausgefüllte und zum Teil rot umpunktete Anfangsbuchstaben gliedern darüber hinaus den gesamten Text.

(Faksimile Verlag, Simbach am Inn)


Book of Lindisfarne (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert)

Wie soll man die illuminierten Seiten der Evangelien von Lindisfarne betrachten?
Naiv, indem man sie genießt, wie sie sich unseren Augen darbieten,
oder indem man das kulturelle Milieu zu verstehen versucht, in dem sie entstanden sind,
den Geschmack oder Schönheitsbegriff, auf den sie sich beziehen?
Thomas von Aquin hat die Prinzipien der mittelalterlichen Ästhetik in einer berühmt gewordenen Definition resümiert
(die unter anderem – wir sprechen ja hier von Irland – der junge Joyce aufgegriffen hat,
um seine eigene Kunstauffassung im »Porträt des Künstlers als junger Mann« zu begründen).
Frei übersetzt: »Dreierlei wird von der Schönheit verlangt.
Erstens Vollständigkeit oder Perfektion, denn was unvollständig ist, erscheint uns eben deswegen häßlich.
Zweitens die richtige Proportion oder Harmonie.
Und drittens Klarheit, denn was reine Farbe hat, nennen wir schön.«

Nun, die Miniaturen des Book of Lindisfarne sind ein Triumph der Farbe, in dem die einzelnen Töne zwar immer Grundfarben sind,
aber glänzend werden durch ihre Kombination, ihre Kontraste, ihre Komposition von Rot, Blau, Gelb, Weiß und Grün,
wobei der Glanz durch den Einklang des Ganzen entsteht, nicht durch ein Licht, das die Dinge von aussen umhüllt
oder die Farben über die Ränder der Figuren hinaustreten läßt.
Auf diesen Blättern scheint aus dem Innern der Seite zu strahlen, und es glänzt wie Edelsteine, die auf einem Bronzekelch funkeln,
wie die Schuppen eines prachtvoll schrecklichen Drachens.

Umberto Eco 


Book of Lindisfarne (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert)

Eine gute Spur lässt keinen Wanderer zurück.
Das Lindisfarne Evangeliar legt Spuren. 
Unterschiedliche Schrift- und Zeichenspuren, welche niemals als (künstlerischer) Selbstzweck ausgeführt wurden.
Diese Spuren sollen den Suchenden hin- und/oder verführen.
Zum Gotteslob. Zur spirituellen Erkenntnis und Meditation. Zum Sinnen.
Diese Spuren sind Mittel zum Zweck. Haben Funktion. 
Haben trotz (oder wegen) ihrer Pracht eine dienende Bescheidenheit. Demut. 
(Wie einst die Musik von Pérotin, Palestrina, di Lasso, J.S. Bach…)
Sie entstanden vor allen Bedingungen, Voraussetzungen, Konfessionen und Moden des modernen Kunstbetriebes.
Vor allen ökonomischen Strategien, Auktionsexzessen, Geniemanierismen, Museums-, Verlags- und Galeriegewalten.
Vor allen Akademien und Kunstuniversitäten mit ihren selbstverliebten Legitimationsstrategien.
Das darf, soll und kann nicht vergessen werden.
Eine gute Spur lässt keinen Wanderer zurück.
In unserer Gegenwart gibt es viele Reisende. 
Von einer Kunstmesse zur anderen. Von einem Strand zum anderen. Von einer Steilwand zur nächsten.
Das Lindisfarne Evangeliar ist ein Buch für Wanderer.
Legt Spuren zur Seelen- und Geisteserkundung. Jenseits aller Konfessionen, Obsessionen und Manifeste.
(Wie einst die Musik von Pérotin, Palestrina, di Lasso, J.S. Bach…)
Notwendig. Kostbar. Unersetzlich. Für unsere Gegenwart und Zukunft.

Renald Deppe


Book of Kells (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert, Weltkulturerbe)

Book of Kells

Ein Buch so schön und aufwändig verziert, dass es das Werk von Engeln sein müsse. So beschrieb vor vielen Jahrhunderten ein Reisender das Book of Kells. 

Das Buch der Kelten ist eines der bedeutendsten mittelalterlichen Bücher der Welt und das am besten erhaltene Zeugnis der irischen Buchmalerei. Noch heute beeindruckt es Forscher und Laien gleichermaßen. Zu bewundern ist es im Trinity College in Dublin. 

Als im 5. Jahrhundert nach Christus St. Patrick und andere christliche Missionare nach Irland kamen, begann eine Zeit der Synthese: Der keltische Naturglaube und die christliche Lehre trafen aufeinander und brachten circa drei Jahrhunderte später gemeinsam einen der wichtigsten irischen Kunstschätze hervor, das Buch der Kelten. 

Es enthält die lateinischen Texte der Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Doch zu einem Schatz machen das Buch, das vor allem für sakrale Zwecke gebraucht wurde, erst die kunstvollen und komplexen keltischen Malereien, die auf fast jeder seiner 680 Seiten zu finden sind.

„Schaust du ganz genau hin und dringst mit den Augen in die Geheimnisse der Kunstfertigkeit ein, dann entdeckst du Feinheiten so zierlich und zart, so eng beisammen und ineinander verwoben, so verschlungen und zusammengerankt und so frisch noch in der Färbung, dass du nicht zögerst zu erklären, dass all diese Dinge nicht das Werk von Menschen, sondern nur von Engeln sein können.“ So berichtet der Kirchenverwalter, Schriftsteller und Historiker Giraldus Cambrensis, hierzulande besser bekannt als Gerald von Wales, im 12. Jahrhundert über das Book of Kells.

(irish-net)


Book of Kells (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert, Weltkulturerbe)

Das Book of Kells wurde zweimal als gestohlen gemeldet. Das zweite Mal war das 1874 der Fall.
Der Bericht in der »Birmingham Daily Post and Journal« vom 5. November des Jahres ist typisch für viele andere über dieses Ereignis,
die in jener Woche überall in Großbritannien und Irland in der Presse erschienen.
»Am Trinity College, Dublin, ist man verzweifelt. Einer der größten Schätze ist weg – das Book of Kells, 
das 475 von Sankt COLUMBKIL geschrieben wurde, das älteste Buch der Welt und das vollkommenste Zeugnis irischer Kunst
mit üppigsten Illustrationen, dessen Wert auf 12000 Pfund geschätzt wird…«.
Diese Taxierung des Wertes ist interessant: Im Jahr davor hatte eine auf Pergament gedruckte Gutenberg-Bibel bei einer Auktion
im Hanworth Park bei London 3400 Pfund erzielt – der bei Weiten höchste Preis, der jemals für ein Buch bezahlt worden war.
Eine zweite auf Papier gedruckte Ausgabe hatte 2690 Pfund erzielt.
Wenn man den Wert des gestohlenen Book of Kells auf das Vierfache dessen schätzte, was für das bis dato teuerste Buch der Welt bezahlt worden war,
lag man am Trinity College vermutlich gar nicht so falsch.
Es hieß, das Verschwinden der Handschrift sei entdeckt worden, als der Dekan sie einigen Besucherinnen hatte zeigen wollen.
Niemand konnte sich erinnern, wann man das Buch zuletzt gesehen hatte; der Bibliothekar war abwesend und konnte nicht befragt werden.
Die Gerüchte schwirrten, wie nur an Universitäten möglich.
Die »Birmingham Daily Post« wusste noch etwas anderes Geheimnisvolles zu berichten:
»Eine Empfangsquittung für den Band, unterschrieben für einen gewissen Herrn BOND, einem angeblichen Mitarbeiter des British Museum, liegt dem Dekan vor.«
Innerhalb einer Woche gelang es, den Verbleib der Handschrift ausfindig zu machen.
J.A. Malet, der Bibliothekar von Trinity, hatte sie persönlich nach London ins British Museum gebracht, um dort Rat einzuholen,
wie man sie neu binden könnte.

Christopher de Hamel 
Pracht und Anmut
Begegnungen mit zwölf herausragenden Handschriften des Mittelalters C. Bertelsmann Verlag, München 2016

Bibliothek des Trinity College (1732)

Book of Kells (Lateinisches Evangeliar aus dem 8. Jahrhundert, Weltkulturerbe)

Die Malereien im Book of Kells

Tatsächlich ist die Kunstfertigkeit der Buchmaler, die in diesem Manuskript zu sehen ist, einzigartig. Mit einfachsten Mitteln erzielten die Künstler beeindruckende Resultate. Den Aufbau der Seiten legten sie mit Hilfe von Linealen, Kompassen und karierten Linien fest, die sie mit freier Hand zogen. Forscher identifizierten bisher drei Schreiber, die die Evangelien übertragen haben. 

An den Malereien dürften wesentlich mehr Künstler beteiligt gewesen sein, denn nur zwei Seiten des Manuskripts enthalten keine farbigen Abbildungen. Die übrigen Seiten sind reich verziert und lassen verschiedene Stile erkennen. Anfangsbuchstaben, aber auch Buchstaben innerhalb des Textes, sind liebevoll und mit teilweise winzigen Details ausgestattet. 

Mehr als 2.000 solcher verzierter Buchstaben gibt es im Book of Kells, jeder davon ist einzigartig. Die Illustrationen sind zum Teil so klein, dass man sie nur mit Hilfe einer Lupe genau erkennen kann. So ist zum Beispiel die Figur des Heiligen Lukas auf Seite 201 des Manuskripts nur unter einer 10-fachen Vergrößerung bis ins letzte Detail zu erkennen.

Besonders beeindruckend sind jedoch die ganzseitigen Illustrationen, die das Buch enthält. Dort finden sich verschlungene Ränder, endlose Spiralen und Knoten, magische Bestien und filigrane Naturmuster. Sie sind stark vom keltischen Stil der La-Tène-Kunst geprägt, die bereits 500 Jahre vor Christus entstand. Auch die Abbildungen von Christus oder den vier Evangelisten weisen Elemente dieser keltischen Kunst auf. 

Die Verbindung von keltischer Tradition und christlichen Inhalten macht das Book of Kells zu einem ganz besonderen Werk. Noch heute lassen sich Künstler und Kunsthandwerker von den detaillierten und wie magisch wirkenden Abbildungen aus dem Buch inspirieren.

Das Material und die Farben

Der Aufwand, der für die Herstellung des Buches betrieben wurde, war enorm. Die Seiten des Book of Kells wurden aus Vellum gefertigt, einem sehr feinen Kalbsleder, dessen Oberfläche feinstem Velours ähnelt. 

Sie nimmt Tinte und Farbpigmente optimal auf. Mehr als zehn verschiedene Farben wurden für Schriften und Malereien im Book of Kells verwendet, die noch heute kräftig und nur wenig verblasst sind. Für das Blau wurde mit Lapislazuli gearbeitet, die intensiven Purpur- und Pinktöne wurden aus Pflanzen gewonnen, der leuchtende Goldton stammt von Orpiment, einem gelben Mineral, und Grün wurde aus Kupferpigmenten hergestellt. Einige der Farben wurden von weither an den Entstehungsort des Buches gebracht, der Lapislazuli zum Beispiel stammte vermutlich aus dem Norden Afghanistans.

Herkunft und Entstehung

Über die Herkunft des Book of Kells, auch als Book of Columba bekannt, herrscht Uneinigkeit. Einige Wortspiele und Ornamente weißen jedoch auf die schottische Insel Iona und das Kloster St. Columba hin. 

Genau datieren lässt sich die Entstehung des Buches ebenfalls nicht. Experten zufolge kann es kaum später als um 800 nach Christus geschrieben worden sein. Nach dem Angriff der Wikinger flohen die Mönche um 806 nach Irland, in das Kloster Kells. Ob das wertvolle Buch in Kells fertig gestellt oder gänzlich in Iona produziert wurde, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.

Um 800 war Irland eine Hochburg der Schriftkultur und christlichen Religion; Irland galt als die Insel der Heiligen und Gelehrten. So entstanden im späten siebten und achten Jahrhundert vor dem Book of Kells noch weitere Werke insularer Buchkunst: das Book of Durrow, das heute ebenfalls in der Bibliothek des Trinity College aufbewahrt wird und das Book of Lindisfarne, das in der britischen Nationalbibliothek in London steht.

(irish-net)


Fragment einer Torarolle (Geniza-Dokument, Kairo, 12. Jahrhundert)

In den beiden Jahrhunderten der Fatimiden-Herrschaft von 996 bis 1171 wurde Kairo zum bedeutenden Umschlagplatz des Westens und zu einem wichtigen Player im Handel zwischen Indien und dem Mittelmeerraum.

Alle Welt – ihre Menschen und Waren – kam nach Kairo.

Die wohl faszinierendste Quelle aus jener Zeit ist die Sammlung der Geniza-Dokumente der jüdischen Gemeinde in Kairo, benannt nach ihrem Lagerraum (geniza) der Ben-Ezra-Synagoge, in dem Juden regelmäßig alle Papiere, auf denen der Namen Gottes genannt war, etwa 1000 Jahre lang aufbewahrten.

Es gibt über eine Viertelmillionen solcher Dokumente, von denen der Gelehrte Solomon Schechter 193000 nach Cambridge brachte, nachdem er sie 1896/1897 in Ägypten inspiziert hatte. Die meisten betreffen die Zeit von Anfang des 11. Jahrhunderts bis Ende des 13. Jahrhunderts und bieten außergewöhnliche Einblicke in die Welt mediterraner Juden im Mittelalter.

Neben den erwartbaren religiösen Werken wie der Bibel, Gebetbüchern und Büchern über jüdisches Recht finden sich dort Eheverträge, Scheidungsunterlagen, Traktate über sufistische und schiitische Philosophie, arabische Fabeln, medizinische Werke und zahlreiche Alltagsdokumente.

Aus den Geniza-Dokumenten geht auch hervor, dass Juden, Christen und Muslime in Kairo nicht in getrennten Vierteln oder Ghettos, sondern zusammenlebten.

Justin Marozzi


Golddinar (Geprägt zur Zeit des Fatimiden-Kalifen Hafiz (reg. 1130-1149) in Kairo)

(Der in Kairo geprägte fatimidische Golddinar wurde zur internationalen Standardwährung und behielt über zweihundert Jahre hinweg seinen Wert im gesamten Nahen und Mittleren Osten, in Europa und Afrika.)

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Wir sind überzeugt, dass wir den Mantel der Gerechtigkeit und des Wohlwollens weit ausbreiten und die verschiedenen Religionsgemeinschaften mit Gnade und Barmherzigkeit einschließen sollten.

Maßnahmen zur Verbesserung der Lage sollen Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen einbeziehen, denen alles, was sie an Frieden und Sicherheit erhoffen mögen, zu bieten ist.

Dekret des Kalifen Hafiz (1136)


L.E. Waterman-Patent für einen Füllfederhalter mit Pipettenfüllung (USA, 1884)

»Wir wünschen eine Feder zu entwickeln, die sich ohne Rückgriff auf ein Tintenfass zum Schreiben verwenden lässt und deren Tinte darin enthalten ist.
Eine Person kann sie mit Tinte füllen und schreiben, was die will.
Der Schreiber kann sie in seinen Ärmel stecken oder wohin er will und sie keine Flecken hinterlassen noch einen Tropfen Tinte heraussickern lassen.
Die Tinte soll nur fließen, wenn die Absicht zu schreiben besteht.«
(Kitab al-Majalis wa’l Musayat)

Muizz al Din Allah (930-975) 4. Fatimiden-Kalif in Kairo (Auftrag zum Bau eines Füllfederhalters, 953)


Maimonides (1135-1204 n.u.Z.) : Mischna Tora (1180 n.u.Z.) (Kopie um 1400 n.u.Z.)

Am Sabbat muss jede Tätigkeit ruhen.
Es darf keinem Geschäft nachgegangen werden.
Die Untätigkeit und die Aufhebung der Ökonomie sind wesentlich für das Sabbat-Fest.
Der Kapitalismus hingegen macht selbst das Fest zur Ware.
Aus dem Fest werden Events und Spektakel.
Diesen fehlt die kontemplative Ruhe.
Als Konsumformen des Festes stiften sie keine Gemeinschaft.
Im jüdischen Glauben sind zwei Begriffe Heilig: Gott und Sabbat.
Gott ist Sabbat.
Für einen frommen Juden ist das ganze Leben ein »Trachten nach dem Sabbat«.
Sabbat ist Erlösung.
Am Sabbat ist der Mensch unsterblich.
Die vergehende Zeit wird aufgehoben.
Der Sabbat ist ein »Palast der Zeit«, der die Menschen aus der vergänglichen Welt in jene kommende Welt erlöst.
Menucha (Ruhe) ist ein Synonym für die kommende Welt.
Der tiefe Sinn von Sabbat ist, dass die Geschichte in die beglückende Untätigkeit aufgenommen wird.
Die Erschaffung des Menschen ist nicht der letzte Schöpfungsakt.
Erst die Sabbatruhe vollendet die Schöpfung.
Daher schreibt Raschi in seinem Genesis-Kommentar:
»Was hat der Welt jetzt noch gefehlt?
Die Ruhe, mit dem Sabbat kam die Ruhe und mit ihr war das Schöpfungswerk beendigt und fertig.«
Die Sabbatruhe folgt nicht einfach der Schöpfungsarbeit.
Vielmehr bringt sie die Schöpfung erst zum Abschluss.
Die für sechs Tage geschaffenen Welt ist gleichsam das Brautgemach.
Diesem fehlt aber die Braut.
Erst mit den Sabbat kommt die Braut.
Das Sabbatfest ist eine Hoch-Zeit, eine Zeit die stillsteht.
Der Sabbat ist kein Ruhetag nach dem Schöpfungsakt, an dem sich Gott gleichsam von der mühsamen Schöpfungsarbeit erholt.
Die Ruhe ist vielmehr der Wesenskern der Schöpfung.
Erst der Sabbat verleiht der Schöpfung eine göttliche Weihe.
Göttlich ist die Ruhe, die Untätigkeit.
Ohne die Ruhe büßt der Mensch das Göttliche ein. 

Byung-Chul Han (*1959) 


Wassily Kandinsky (1866 – 1944): Linie : Linearerer Aufbau des Bildes Kleiner T r a u m in Rot ( 1 9 2 5 )

Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden — und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht.

Die Linie ist also der g r ö ß t e G e g e n s a t z zum malerischen Urelement — zum Punkt. (Kandinsky – Punkt und Linie zu Fläche – Bauhausbücher, 1926)

Wassily Kandinsky : Kleiner Traum in Rot (1925)

Firmensignet des Bertelsmann-Verlags auf der Grabstätte seines Gründers Carl Bertelsmann (1791 – 1850).

• Bertelsmann SE & Co. KGaA

Weltweit operierender Medienkonzern mit Sitz in Gütersloh; besonders in den Branchen Verlagswesen, Film, Fernsehen, Hörfunk und elektronische Medien tätig.
Das Unternehmen geht auf den 1835 von Carl Bertelsmann in Gütersloh gegründeten Verlag C. Bertelsmann zurück, zu dessen Themenschwerpunkten zunächst Theologie, Philologie und Pädagogik zählten, später kam die unterhaltende Literatur hinzu.

Geschäftsfelder (gegenwärtig) sind: 
1) Buch mit der internationalen Verlagsgruppe Penguin Random House (75 % Beteiligung) und der deutschsprachigen Gruppe Random House
(Penguin Random House umfasst alle Verlagseinheiten von Random House und Penguin Group in den USA, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Indien und Südafrika sowie die Random-House-Verlage in Spanien und Lateinamerika und die Penguin-Geschäfte in China. 
Mit 10 600 Mitarbeitern wird in knapp 250 Verlagseinheiten ein Umsatz von 3,36 Mrd. € (2017) in 100 Ländern erwirtschaftet.); 
2) Zeitungen und Zeitschriften mit Gruner + Jahr AG & Co. (100 % Beteiligung ab November 2014); 
3) Film, Fernsehen, Hörfunk mit der RTL Group S. A. (75,1 %);
4) Dienstleistungssparte Arvato, 
5) Druckereigruppe Bertelsmann Printing Group (BPG);
6) Musikrechte (BMG Rights Management), 
7) das Bildungsgeschäft (Bertelsmann Education Group),
8) globale Start-Up-Beteiligungen (Bertelsmann Investments).

Der Konzernumsatz lag 2017 bei 17,2 Mrd. €, die Mitarbeiterzahl bei rund 119 000. 
Gesellschafter sind die Bertelsmann-Stiftung (80,9 %) und die Familie Mohn (19,1 %).

(Brockhaus)

 Was sich ein großer Verlag an Gleichgültigkeit, Dummheit oder Phantasielosigkeit erlauben kann, bringt einen kleinen Verlag schnell um, weil er weder reich ist noch ein Dutzend unfähiger Leute entlassen kann – soviel Leute hat er gar nicht, ganz zu schweigen davon, daß auch der Verleger unfähig sein könnte…

(Börsenblatt des deutschen Buchhandels, 2001)

Die Buchkonzerne haben allerdings in der Tat die Welt der Bücher verändert, innen wie außen.
Einmal werden künftig keine Bücher mit einer Auflagenerwartung unter sechs- bis siebentausend Exemplare veröffentlicht.
Zweitens: Flurbereinigung – immer mit einem starren Blick auf die »Marktführerschaft« durch Ankauf von Verlagen, am besten gleich mit dem Verleger, der erst nach einer Schon- & Schamfrist gefeuert wird, weil er keine Rendite im Kopf hat, sondern ein Profil.
Kaufleute denken aber umgekehrt.
Sie kannibalisieren anschließend das Verlagsprofil und geben das Ganze als »Lauf der Zeit« aus.

(Klaus Wagenbach, Stuttgarter Zeitung, 2006)

 Das erste Buch von Franz Kafka verlegte Kurt Wolff im damals jungen Rowohlt Verlag.
Von der Erstauflage seiner 18 kurzen Prosatexte »Betrachtung« (1913) wurden nicht einmal 800 Exemplare verkauft.
Kurt Wolff ermutigte seinen Autor Franz Kafka zur Weiterarbeit.
Und es entstand Weltliteratur.
Denn:
Kurt Wolff war ein seine Bücher lesender Verleger.
Er hat sie nicht lesen lassen. Um z.B. mehr Zeit für Marketingkonferenzen zu haben. 
Zu einer Zeit, in der Verlage noch keine Milliarden-Umsätze machten. Machen mussten. Machen wollten.
Wozu auch?
Bleiben noch die Themen Medien & Macht. Kontrolle & Kannibalismus. Gehalt & Gehorsam.
Vielleicht gibt es nur deshalb Großverlage, Großkonzerne, Großbanken, Großstaaten und andere große Irrtümer.  

(Renald Deppe, Von Schriften und Zeichen, 2022)

Bruno Fuchs (1928-1977) : gezeichnetes Signet des Verlages Klaus Wagenbach

• Über den Wagenbach Verlag

»Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumsgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht – nicht wahr?«

Kurt Wolff    

Warum so verlegen?
Der Verlag ist unabhängig und macht davon Gebrauch, seine Meinungen vertritt er auf eigene Kosten. Er ist nicht groß, aber erkennbar.

Wir veröffentlichen Bücher aus Überzeugung und Vergnügen, mit Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Wir wollen unbekannte Autoren entdecken, an Klassiker der Moderne erinnern und unabhängigen Köpfen Raum für neue Gedanken geben. Es erscheinen Literatur, Geschichte, Kunst- und Kulturgeschichte, Politik aus den uns geläufigen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Englisch, Französisch und natürlich Deutsch. Und unsere Bücher sollen schön sein, aus Zuneigung zum Leser und zum Autor und als Zeichen gegen die Wegwerfmentalität.

Der Verlag wurde 1964 von Klaus Wagenbach gegründet.

(Webside des Verlages Klaus Wagenbach : der unabhängige Verlag für wilde Leser)

 Wie es mit uns und dem allseits halbgebildeten Leser weitergeht?
Da muss ich mal meine Regierung fragen, die letzthin den Ausdruck »Unterschicht« ersetzt hat durch das Wort »bildungsfern«.
Soll das heißen, die Oberschicht sei »bildungsnah«?
Da habe ich meine Zweifel und vertraue lieber auf den neugierigen »wilden« Leser, aus welcher Schicht auch immer.

Klaus Wagenbach : Dankesrede für den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels, 2006

 Dem (Jahres)Konzernumsatz von 17,2 Mrd. € der Bertelsmann SE & Co. KGaA € mit ihren rund 119 000 Mitarbeitern hat der Verlag Klaus Wagenbach stolztrotzige 2 Millionen € und 12 tapfere Angestellte entgegenzusetzen. 
Klaus Wagenbach war/ist ein »wilder« Verleger.
Stets auf der Suche nach »wilden« Lesern.
Klaus Wagenbach hatte/hat einen »wilden« Verlag.
Verlag, Leser & Autoren verteidigte der legendäre Verleger »wild«:  wachsam, widerständig, aufbegehrend, diskursfähig, weit-, um-, auch nach- & einsichtig.

Klaus Wagenbach ließ sich nicht (oder kaum) vereinnehmen.
Weder von Links noch von Rechts noch von Oben noch von Unten. Kannte er doch die Zeilen seines österreichischen Dichterfreundes Ernst Jandl sehr genau:

Lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum! 

Liest man die »wilde« Chronik des Verlagsgeschichte liest man (nicht nur) bundesdeutsches Nachkriegsgrauen: 

1965
Die ersten Quarthefte erscheinen im März: Zeitgenössische Literatur (von Johannes Bobrowski über Ingeborg Bachmann zu Wolf Biermann) in Erstausgaben (und im größeren Quartformat). Die Autoren haben gleiche Rechte, Einfluss auf Ausstattung und Informationstexte. Die Bilanz wird veröffentlicht. Die Leser werden durch Auszüge aus den Büchern informiert (kostenloser Jahresalmanach »Das schwarze Brett«, später »Zwiebel«).

1968
Erscheinen der ersten Quartplatten (Literatur auf Schallplatten für Erwachsene und Kinder), des ersten Jahrbuchs für deutsche Gegenwartsliteratur, Tintenfisch, und der ersten Rotbücher (»Texte der neuen Linken«). Gemeinsam mit Schülern entsteht als ›Gegeninformation‹ das Lesebuch: Deutsche Literatur der sechziger Jahre, mit über 200.000 Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher des Verlags.

1969
Erste Shakespeare-Übersetzungen von Erich Fried. Anfänge einer kollektiven Verlagsverfassung. Ermittlungsverfahren wegen Wolf Biermanns »Drei Kugeln auf Rudi Dutschke«.

1971
Ermittlungsverfahren wegen »Bambule«, dem Text eines Fernsehspiels von Ulrike Meinhof. Mehrfache Durchsuchung des Verlags wegen der Veröffentlichung eines Manifests der RAF und Beschlagnahme des Manifests. Beschlagnahme des »Roten Kalenders für Lehrlinge und Schüler«.

1972
Klage der Firma Siemens gegen die Festschrift »Unsere Siemens-Welt« von F.C. Delius. Beginn der Zusammenarbeit mit dem Grips-Theater.

1974
Prozess der Berliner Polizei wegen Ehrverletzung: Freispruch des Verlags. Verurteilung wegen des RAF-Manifests. Verurteilung wegen des »Roten Kalenders«.

1975
2. Prozess um die Ehre der Berliner Polizei (Erschießung von Georg von Rauch): Verurteilung des Verlags. Gesamtkosten der Prozesse weit über 150.000 DM. Gründung von Wagenbachs Taschenbücherei, WAT: Lasst uns Denken anstiften statt vorschreiben. Und den Kopf schütteln, d.h. lockern.

1976
Zensurversuch von links: Einstweilige Verfügung gegen Peter Brückners »Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse«. Zurücknahme durch eine gemeinsame Aktion des Verbands linker Buchhandel.

u.s.w.

Klaus Wagenbach liebte das Bücher machen.
Auch weil es stets politische Aktion waren/sein konnten/ sein wollten.
Niemals hat sich K. W. vor der Verantwortung seiner Handlungen & Wortbeiträge gedrückt. Verdrückt.
Auch nicht am 15. Mai 1976.
Damals wurde K. W. kurzfristig angefragt, ob er die Trauerrede für die in der Haft verstorbene Journalistin, Redakteurin, Aktivisten, Anarchistin & »Linksterroristin« Ulrike Meinhof halten könne.
K. W. fand erhellende Worte für damalig braunvernebelte Zu- & Umstände:
»Was Ulrike Meinhof umgebracht hat, waren die deutschen Verhältnisse.
Der Extremismus derjenigen, die alles für extremistisch erklären, was eine Veränderung der Verhältnisse auch nur zur Diskussion stellt.«
K. W. distanzierte sich von den Gewalttaten der »Roten Armee« heftig und deutlich.
Nicht aber verschwieg, verheimlichte, verharmloste K. W. die wahren Ursachen jener destruktiven Rote-Armee-Energie. 

K. W. liebte Italien. Und die Frauen. (Man beäuge bitte seine Verlagsschwerpunkte)
K. W. liebte das Leben. Und dafür kämpfte, stritt & arbeitete er. Unermüdlich.
1994, zum dreißigjährigen Verlagsjubiläum, verkündete der mittlerweile mehrfach geehrte (s)einer illustren Festgemeinde: 

»Der Verlag ist vor dreißig Jahren freiwillig, ohne Zuschüsse nach Berlin gekommen. Er ist ein Verlag in Berlin, aber kein Berliner Verlag. Er wird auch künftig ein internationaler Verlag bleiben. Der Verlag ist und bleibt ein Meinungsverlag. Da es aber auch bei uns in Deutschland viele trübe Tassen, Dunkelmänner und Schlafmützen gibt, ist der Import von Geschirr, Beleuchtungskörpern und Wachmachern aus dem Ausland notwendig. Ich denke dabei besonders an einen südlichen Nachbarn …«

Klaus Wagenbach setzte mutig Worte, Zeilen, Zeichen & Bilder.
Klaus Wagenbach verstarb am 17. Dezember 2021.
Klaus Wagenbach hinterläßt ein kostbares Erbe (viel wertvoller als besagte 17,2 Mrd. € Wertschöpfung):
Als liberaler Bürger ein unabhängiger Verleger eines unabhängigen Verlages zu sein. Und zu bleiben.
Als toleranter Bürger ein wilder Verleger eines wilden Verlages zu sein. Und zu bleiben.
Als demokratiemündiger Bürger ein intellektuell unbestechlicher Verleger eines hieb- & stechfesten Verlages zu sein. Und zu bleiben.

Danke. Herzlichst.

Renald Deppe : Von Schriften und Zeichen… : über Wut, Glut & Mut…, Juli 2022 


Meister Ichipel Iwanawa (90, »Lebender Nationalschatz Japans«) kontrolliert den Schöpfrahmen zur Herstellung von Papier (Washi).

Das Papier ist, so heißt es, eine Erfindung der Chinesen. Wenn wir westliches Papier vor uns haben, empfinden wir nichts, außer dass es sich um einen einfachen Gebrauchsgegenstand handelt. Wenn wir jedoch die Musterung von China- oder Japanpapier betrachten, so spüren wir darin eine Art Wärme, die unser Herz beruhigt.

Auch wenn alle Sorten weiß sind, so ist doch die Weiße des westlichen Papiers verschieden von der Weiße des dicken japanischen hõsho-Papiers oder des weißen China-Papiers. Die Oberfläche des westlichen Papiers scheint die Lichtstrahlen gleichsam zurückzuwerfen, während das hõsho- und das China-Papier wie eine Fläche weichen, frisch gefallenen Schnees die Lichtstrahlen satt in sich aufsaugt. Berührt man es, so ist es geschmeidig und erzeugt beim Falten und Zusammenlegen kein Geräusch. Es fühlt sich sanft und feucht an, als ob man ein Laubblatt anfasste.

Im allgemeinen werden wir von innerer Unruhe erfasst, wenn wir hell glänzende Dinge sehen.

Tanizaki Jun’ichiro (1886 – 1965), »Lob des Schattens«, Entwurf einer japanischen Ästhetik, 1933  


Meister Yasuhiro Sanemari bei der Herstellung von Kalligraphiepinsel in Kumano/Japan. (Eine Stadt mit 1500 Pinselhandwerker)

Charakteristisch für die Pinsel aus Kumano sind ihre Spitzen, deren Form nicht zugeschnitten, sondern mit natürlichen Tierhaaren gestaltet werden. Die Auswahl und Anordnung der Pinselhaare ist äußerst kompliziert und wird vollständig von Hand durchgeführt. „Wetter, Jahreszeit und das Geschlecht und Alter des Tieres sind entscheidend für die Beschaffenheit der Haare“, sagt Sanemori. Ebenso die Körperteile, von denen sie stammen. Die unterschiedlichen Haartypen werden von Hand sortiert und kommen später an verschiedenen Stellen des Pinselkopfes zu Einsatz.

Lange, feine Haare werden für die Pinselspitzen zur Seite gelegt. Kurze borstige Haare werden für den Pinselkern gesammelt.

Die einzelnen Pinselarten erfordern unterschiedliche Kombinationen aus Ziegen-, Pferde-, Wiesel-, Hirsch- und Waschbärhaar, um die richtige Federung und Leichtigkeit der Spitze zu erzeugen.

Das Streben nach Vollkommenheit, japanisches Handwerk zwischen Tradition und Moderne.

*****

Und dennoch beschäftigt mich immer wieder der Gedanke, inwiefern sich wohl unsere Gesellschaft von ihrem heutigen Zustand unterscheiden würde, wenn der Osten eine vom Westen völlig getrennte, eigenständige wissenschaftlich-technische Zivilisation hervorgebracht hätte. 

Um ein nahe liegendes Beispiel zu nehmen: Ich habe früher einmal in der Zeitschrift »Bungei shunjũ« einen Vergleich wischen dem Füllfederhalter und dem Pinsel gezogen. Wenn zufällig ein Japaner oder Chinese aus früherer Zeit sich den Füllfederhalter ausgedacht hätte, dann hätte er vermutlich die Spitze nicht mit einer Metallfeder, sondern mit Pinselhaaren versehen. Für die Tinte hätte er nicht jenes Blau, sondern eine der Reibetusche nahekommende Farbe gewählt, und er hätte die Tinte aus dem Halter in die Pinselhaare aussickern lassen. In diesem Falle hätte sich auch das westliche Papier nicht geeignet; am stärksten wäre wohl die Nachfrage nach einer in großen Mengen herstellbaren, aber dem Japanpapier ähnlichen Papierqualität gewesen. 

Wenn Papier, Tusche und Pinsel eine derartige Entwicklung genommen hätten, dann wären wohl Feder und Tinte nie so populär wie heute geworden, die Befürworter der römischen Schrift hätten wohl nie solches Gehör gefunden, und die allgemeine Vorliebe für die chinesischen Ideogramme und die japanischen Silbenschriftzeichen hätte sich unvermindert erhalten. Und nicht nur das, auch unser Denken und unsere Literatur hätte wohl nicht in diesem Ausmaß dem Westen nachgeeifert, wären vielleicht in neue, selbstständigere Sphären vorgestoßen.

Diese Überlegung zeigt, wie selbst ein unscheinbares Schreibgerät große, sich ins Unendliche fortsetzende Auswirkungen haben kann.

Tanizaki Junichiro (1886 – 1965) : »Lob des Schattens«, Entwurf einer japanischen Ästhetik, 1933.


Karlheinz Stockhausen (1928 -2007) : Aus den 7 Tagen ( Partitur, Auszug)

Liebe wertgeschätzte Jung_KollegInnen,

Zu meinen/unseren nächsten Vorlesungen an der BrucknerUniversitätLinz:

Erarbeitet werden diverse Partituren in variabler Besetzung.
An den Schnittstellen von Komposition : Konzeption : Improvisation.

Zum Beispiel:

Karlheinz Stockhausen: Aus den 7 Tagen (1968)

Die Partitur 
(es handelt sich um die erste „Notation“ ohne „Noten“ in der „Neuzeit“: sie besteht nur aus Textanweisungen)
und einige andere Informationen über den Ton- & Zeichensetzer findet ihr hier im Anhang.
(Die Beatles setzten den Karlheinz-Pionier der Elektronischen Musicke auf ihr Plattencover von Sg. Pepper Lonely Hearts Club Band)

Aus den 7 Tagen: ein eigenwilliges/ungewöhnliches/diskursives Werk eines eigenwilligen/ungewöhnlichen/diskursiven Komponisten.
Ich bitte jedes Wort dort genau zu bedenken, darüber nach- & vorzudenken…: es bitte so ernst als möglich zu nehmen…

Zum (nun kürzlich verstorbenen) Komponisten ein offener Brief:

»Ich bin auf Sirius ausgebildet worden und will dort auch wieder hin, obwohl ich derzeit noch in Kürten bei Köln wohne. Auf Sirius ist es sehr geistig. Zwischen Konzeption und Realisation vergeht fast keine Zeit. Was man hier als Publikum kennt, passive Beisitzer, gibt es dort gar nicht. Da ist jeder kreativ.« (K. Stockhausen, 1998)

Lieber Karlheinz Stockhausen, 
da will ich auch hin, auf den Sirius. Bist du schon dort, auf dem Stern ohne jedweden passiven Beisitzer…? Wenn nicht, dann schau doch mal im Dezember ins Wiener Lost & Found-Nest: Junge kreative Menschen gibt es nicht nur auf dem Sirius. 
Nein, nicht nur in Wien (obwohl sich hier z.B. das österreichische Parlament, das Rathaus, die Börse und viele Ministerien befinden, es folglich nicht stets sehr geistig zugehen kann) : auch in Linz (obwohl sich hier z.B. die AntonUniAnstalt, die Brucknerhütte, den Jahrmarkt in Urfahr und viele Ministranten befinden, es folglich nie sehr geistig zugehen kann) werden famose Musiker ausgebildet. 
Ehrlich. 
Und die schaffen mit Talent, Ausdauer, Fleiß und großem handwerklichen Können kompetentfamose Interpretationen deiner Werke. 
Und, ich hoffe du verzeihst es ihnen, sie führen auch edle Kompositionen von den nicht auf Sirius ausgebildeten Kollegen höchst wirkungsmächtig auf. 
Ehrlich. 
Also: Wenn du Lust & Laune & Zeit hast, lieber Karlheinz, wenn du deinen derzeitigen Aufenthaltsort sozusagen jederzeit freiwillig verlassen kannst, dann schau doch bitte in der Strengen Kammer des Porgy & Bess in Wien vorbei, einem Meisterwerk von Konzeption und Realisation. 
Ehrlich.
Deine 7 Tage finde ich echt cool, aber stimmt denn das, was die Leute hier sagen: Zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hätte unser Karlheinz sich wie folgt geäußert?…:

»Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben… Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. … Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen niemand angekündigt, ihr könntet dabei draufgehen.«

Also: Wenn das stimmt, also: Dann bleibe doch bitte lieber dort, wo du gerade bist.
Hier im Jazz & Music Club denken doch viele Menschen anders und anderes.
Auch sind hier die meisten Ohren nicht auf Sirius ausgebildet worden.
Ehrlich.

Trotzdem: Deine 7 Tage (und manches andere) finde ich echt cool. 
Und unser Klassik_Ensemble (dieses steht in keinerlei Zusammenhang mit Klassikfahrten, Klassikbesten, Klassikgesellschaften, Klassikzimmer und Ersteklassikabteilen) spielen deine Siebentage-Musicke (und auch die deiner Nicht_Sirius_Kollegen) echt supergeil.

Ehrlich.

Renald Deppe


Johann Vermeer (1632 – 1675) : Signatur an einer Wand : I. Ver Meer / MDCLXVIII (Der Geograph, 1669)

 Zu seinen Lebzeiten war Johannes Vermeer kaum über seinen Geburtsort Delft und einen kleinen Kreis an Mäzenen hinaus bekannt.

Nach seinem Tod geriet sein Name rasch in Vergessenheit, und einige seiner Werke wurden gar anderen Künstlern zugeschrieben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts rückte Vermeer in den Focus der internationalen Kunstwelt, die plötzlich die erzählerischen Details, die sorgfältig ausgearbeiteten Texturen und die grandiosen Lichtebenen seiner Werke wahrnahm und sein Genie entdeckte.

Karl Schütz : Delfter Illusionen : Das Gesamtwerk Johannes Vermeers, Taschen 2020

Johann Vermeer (1632 – 1675) : Der Geograph (1669) : Städel Museum, Frankfurt am Main

Seiten aus Nag-Hammadi-Codex II; linke Seite: p. 32 mit dem Ende des Apokryphons des Johannes, darunter folgt der Beginn des Thomasevangeliums; rechte Seite: p. 111 mit einem Abschnitt aus „Vom Ursprung der Welt“.
Koptisches Manuskript aus dem 4. Jahrhundert. (Coptic Cairo / The Coptic Museum)

 Das Volk der Kopten und sein aus der apostolischen Frühzeit getreu bewahrtes Christentum ist im Westen nur wenig bekannt. Wer heute von den Kopten spricht, meint meist die ägyptischen Christen im Gegensatz zu den ägyptischen Muslimen.
Das ist eine Bedeutungsverengung, die zwar überwiegend durch Tatsachen gedeckt ist, aber vernachlässigt, daß die Kopten nicht in erster Linie eine Glaubensgemeinschaft sind, sondern ein Volk, das Volk Ägyptens, das, mit Griechen gemischt, bis zur islamischen Eroberung in der Nachfolge des Pharaonen-Staates stand.
Die altkoptische Sprache ist die letzte Gestalt, welche die Sprache der Pharaonen unter hellenistischer Herrschaft angenommen hatte, und so ist sie denn bis heute auch die Sprache der Liturgie und lebt in ihr, und nur in ihr, fort.
Hinzu trat das Griechische, die Sprache des Neuen Testaments und der »Septuaginta«, der unter den Ptolemäern in Alexandria geschaffenen Übersetzung des alten Testaments.
Im zweiten nachchristlichen Jahrtausend wurde dann auch das arabische Liturgiesprache, vor allem für Schriftlesungen, so daß die koptische Liturgie in drei Sprachen gesungen wird.
Man kann also sagen: Die ganze Geschichte des Landes ist in diesem Gottesdienst anwesend.

Martin Mosebach : Die 21 : Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer (2018)


Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) : Pappkuvert, eigenhändig von Goethe mit arabischen Schriftzeichen versehen, Behältnis für Manuskripte zum »West-östlichen Divan« (1818).
J. W. v. Goethe : Arabische Schreibübungen aus der Zeit des ›West-östlichen Divans‹ (1816).
Carl Ermer (1786 – 1855) : Schmucktitel zum »West-östlicher Divan«, nach der Vorlage von Johann Wolfgang von Goethe.

Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts. 

Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. 

In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.

Johann Georg Hamann (1730 – 1788) : Aesthetica in nuce (1760)

Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen.

Johann Wolfgang von Goethe : West-östlicher Divan


Joan Miró (1893-1983) : Constellationes (1941)
Anfang eines Liedes Frauenlob mit Neumen (14. Jahrhundert).

Was ich eigentlich suche, ist bewegungslose Bewegung, etwas wie ein Äquivalent zu der Beredsamkeit des Schweigens, oder zu dem, was der heilige Johannes vom Kreuz »schweigende Musik« nannte.

Joan Miró

Wer die zarten Zeichen, die Miró auf diesen elf Blättern (Constellationes) hinterlassen hat, betrachtet, der kann nicht umhin, an die Neumen, die frühmittelalterliche Notenschrift, in der die Choräle ursprünglich festgehalten sind, zu denken.

Diese frühen Noten ahmen eher die Bewegung der melodischen Phrase nach, als sie in exakte Schriftzeichen zu transponieren und damit im Grunde bereits zu zergliedern.

Bögen, Zickzackformen, Schneckenformen, Kreise – es ist die Sprache der Constellationes, die sich hier mit dem Erlebnis der Gregorianik verbindet und dadurch einen neuen Sinn erhält.

Einsamkeit und Meditation gaben diesen Blättern ihre Kraft.

Martin Mosebach (*1951) : Du sollst dir ein Bild machen (2011)


Armenisches Tetraevangelium der Blütezeit der armenischen Buchmalerei (1278).
Zweiteilige armenische Handschrift, bestehend aus Brevier und Messliturgien (Erste Hälfte 15. Jahrhundert).
 

Armenische Apostolische Kirche, orthodox, die christliche Kirche der Armenier. 

Sie führt ihren Ursprung auf die Apostel Bartholomäus und Thaddäus zurück. Zum eigentlichen Begründer und Organisator der armenischen Kirche wurde jedoch der Missionar Armeniens, Gregor der Erleuchter (daher auch gregorianische Kirche). Unter seinem Einfluss nahm König Tiridates III. das Christentum an und proklamierte es zur Staatsreligion (nach der armenischen Geschichtsschreibung im Jahr 301), womit die armenische Kirche die erste christliche Staatskirche wurde. Die Bibelübersetzung des armenischen Kirchenvaters Mesrop förderte den nationalen Charakter der armenischen Kirche. Seitdem verkörpert sie für die Armenier die nationale Identität ihres Volkes. Seit 1989 erfolgten die Wiedereinsetzung der Kirche in ihre traditionellen Rechte, die Rückgabe großer Teile ihres Eigentums und die Wiedereröffnung von Kirchen und Klöstern; 1990 begann die kirchliche Reorganisation Bergkarabachs, dessen kirchliche Strukturen in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik unter staatlichem Druck aufgelöst worden waren. (Brockhaus)


Tughra (Insignien) von Sultan Süleiman dem Prächtigen (reg. 1520-66) ca. 1555-60
Divan (Gedichtsammlung, 1554) des Muhibbi (Süleiman I., der Prächtige)

Süleiman  I., der Prächtige, Sultan (seit 1520), * 6.11.1494 (oder 27.4.1495) in Trapezunt (heute Trabzon), † 6./7.9.1566 bei Szigetvár (bei Fünfkirchen).
Unter ihm als Sultan erreichte das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung.
Einziger Sohn Selims I.; während seiner Herrschaft erreichte das Osmanische Reich den Höhepunkt seiner Macht und Kultur. 
Süleiman erweiterte das Reich durch die Eroberung von Belgrad (1521), Rhodos (1522), Ungarn (entscheidende Schlacht bei Mohács, 29. 8. 1526) und Mesopotamien (Bagdad 1534), ließ von September bis Oktober 1529 vergeblich Wien belagern und beherrschte durch seine Flotte  das Mittelmeer und das Rote Meer. Er organisierte das Heer neu, regelte das Lehnswesen und das Strafrecht und entfaltete mithilfe des Baumeisters Sinan eine reiche Bautätigkeit. 1562 nahm er Siebenbürgen in Besitz.
Auf seinem 13. Feldzug starb Süleiman kurz vor dem Fall der Festung Szigetvár. Sein Tod konnte von Großwesir Mehmed Sokollu verheimlicht werden, bis die Thronfolge Selims II. in Konstantinopel gesichert war. 
Als Dichter trat Süleiman u. a. unter dem Namen Muhibbi hervor; er verfasste etwa 3000 lyrische Gedichte, v. a. Ghasele.


Ägyptische Merenptah-Stele (1208 v. Chr.) : ältester Beleg für das Wort „Israel“.

 Und im Grunde bin ich ein Antizionist.
Ich will es Ihnen erläutern – auch auf die Gefahr hin, dass alles, was ich jetzt sage, falsch verstanden, falsch interpretiert werden wird.
Mehrere Jahrtausende lang, etwa seit der Zerstörung des großen Tempels in Jerusalem, besaßen die Juden nicht die Macht, wen auch immer zu mißhandeln, zu foltern, zu enteignen.
Für mich stellt das die höchste Form des Adels dar.
Wenn man mir einen englischen Herzog vorstellt, sage ich mir im Stillen: »Der höchste Adel besteht darin, einem Volk anzugehören, das kein anderes gedemütigt oder gefoltert hat.
Heute muss aber Israel notwendigerweise (wenn ich könnte, würde ich diesen Begriff zwanzigmal unterstreichen und wiederholen), notwendigerweise also, unausweichlich, unvermeidlich, töten und foltern, um zu überleben; Israel muss sich verhalten wie der Rest der sogenannten normalen Menschheit.
Und da lege ich immensen ethischen Snobismus, eine absolute ethische Anmaßungen an den Tag: als es ein Volk wie viele andere wurde, hat Israel seinen Adelstitel verloren.
Israel ist nun eine Nation unter anderen Nationen, bewaffnet bis an die Zähne.
Und wenn man von der Mauer herab auf die lange Schlange palästinensischer Arbeitnehmer schaut, die täglich in der glühenden Hitze versuchen, zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, und wenn man zwangsläufig die Demütigung dieser in der Schlange wartenden Menschen sieht, sage ich mir: »Dieser Preis ist zu hoch.«
Woraufhin Israel mir antwortet: »Schweigen Sie, Idiot! Dann kommen Sie doch hierher! Leben Sie mit uns! Teilen Sie die Gefahr mit uns! Wir sind das einzige Land, das ihre Kinder willkommen heißt, wenn sie fliehen müssen.
Mit welchem Recht erzählen Sie uns also diese hübschen moralischen Geschichten?«
Und darauf habe ich keine Antwort.
Um antworten zu können, müsste ich dort sein, müsste ich meine absurde Rede an den Straßenecken halten, müsste ich die Risiken des israelischen Alltags durchleben.
Das tue ich aber nicht, weshalb ich nur meine Auffassung einer gewissen jüdischen Mission erläutern kann: jene Gast zu sein unter den Menschen.
Ein noch schwerwiegenderes Paradox (das mir wirklich das Kainsmal auf die Stirn zeichnet) besteht wohl darin, dass es ein Satz Heideggers war, der mir diese Richtung vorgab: »Wir sind Gäste des Lebens.«
Heidegger fand fand diese Wendung außerordentlich; weder Sie noch ich haben uns unseren Geburtsort, die Umstände, die Epoche, der wir angehören, unser Handicap oder die gute Gesundheit aussuchen können…
Wir sind geworfen, ins Leben geworfen.
Und wer ins Leben geworfen wurde, ist meiner Ansicht nach dem Leben gegenüber verpflichtet, sich als Gast zu verhalten.
Worin besteht die Pflicht des Gastes?
Er muss unter den Menschen leben, wo auch immer er sich befindet.
Und ein guter Gast, ein verdienstvoller Gast, hinterlässt seine Herberge ein wenig sauberer, schöner, interessanter, als er sie vorgefunden hat.
Und muss er aufbrechen, packt er seine Koffer und geht.
Die Welt ist von unendlichem Reichtum.
Wenn die Menschen nicht lernen, sich als Gäste und Gastgeber zu begegnen, werden sie sich zerstören, wird es zu schrecklichen ethischen Konflikten und Religionskriegen kommen.
Ich glaube, dass in der Diaspora die Aufgabe des Juden darin besteht, Gast anderer Männer und Frauen zu sein.
Israel ist nicht die einzig mögliche Lösung.

George Steiner : Ein langer Samstag : Ein Gespräch mit Laure Adler, 2014 (Auszug) 


Platon (427 v. Chr. – 348 v. Chr.) : Timaios : Mittelalterliche Handschrift von Calcidius‘ lateinischer Übersetzung. 
Erste Hälfte des zehnten Jahrhunderts.

Körperlich, sichtbar und fühlbar muß nun aber das Gewordene sein. 

Ohne das Feuer aber kann schwerlich je etwas sichtbar werden, noch fühlbar ohne etwas Festes und fest wiederum nicht ohne Erde: daher bildete Gott den Körper des All, als er ihn zusammenzusetzen begann, zunächst aus Feuer und Erde. 

Zwei Dinge allein aber ohne ein Drittes wohl zusammenzufügen ist unmöglich, denn nur ein vermittelndes Band kann zwischen beiden die Vereinigung bilden. 

Von allen Bändern ist aber dasjenige das schönste, welches zugleich sich selbst und die durch dasselbe verbundenen Gegenstände möglichst zu einem macht. 

Dies aber auf das schönste zu bewirken, ist die Proportion da. 

Denn wenn von drei Zahlen oder Massen oder Kräften von irgend einer Art die mittlere sich ebenso zur letzten verhält wie die erste zu ihr selber, und ebenso wiederum zu der ersten wie die letzte zu ihr selber, dann wird sich ergeben, daß, wenn die mittlere an die erste und letzte, die erste und letzte dagegen an die beiden mittleren Stellen gesetzt werden, das Ergebnis notwendig ganz dasselbe bleibt; bleibt dies aber dasselbe, so sind sie alle damit wahrhaft untereinander Eins geworden. 

Wenn nun der Leib des Alls eine bloße Fläche ohne alle Höhe hätte werden sollen, dann würde ein Mittelglied genügt haben, das andere unter sich und sich selber mit ihm zusammenzubinden; nun aber kam es ihm zu, ein Körper zu sein, und alle Körper werden nie durch ein, sondern stets durch zwei Mittelglieder zusammengehalten, und so stellte denn Gott zwischen Feuer und Erde das Wasser und die Luft in die Mitte, indem er sie so viel als möglich unter einander in dasselbe Verhältnis brachte, so daß sich das Feuer ebenso zur Luft wie die Luft zum Wasser, und wie die Luft zum Wasser so das Wasser zur Erde sich verhalten sollte, und verband und fügte auf diese Weise das Weltall zusammen, so daß es sichtbar und fühlbar wurde. 

Und so wurde denn zu diesem Zwecke und aus diesen also beschaffenen und ihrer Zahl nach auf vier sich belaufenden Wesenheiten der Körper der Welt geschaffen, so daß er vermittelst der Proportion innerlich zusammenstimmte, und besaß dadurch eine solche Anhänglichkeit seiner Teile unter einander, daß er sich mit sich selber in Eins zusammenzog und unauflöslich für jeden anderen ward als für den Urheber der Verbindung.

Platon : Timaios : Entstanden etwa zwischen 369 und 366 v. Chr.


Georgische Schrift : eine der ältesten Inschriften in Bolnissi, Georgien (5. Jahrhundert)
Armenische Schrift : Alphabetstein in Nicosia, Zypern

Im Zuge der von Syrien aus betriebenen Christianisierung des Kaukasus kam es zur Entfaltung regionaler Schriftkulturen in Armenien (seit Anfang des 5. Jahrhunderts) und in Georgien (seit Mitte des 5. Jahrhunderts).

Die Schriftschöpfung des armenischen Alphabets mit seinen 38 Buchstaben geht auf Mesrop zurück, den ersten Bischof des Landes und Initiator der altarmenischen religiösen Literatur.

Nach armenischer und georgischer Überlieferung soll Mesrop auch die georgische Schrift geschaffen haben. Dies betrifft die ältere der beiden georgischen Alphabetvarianten, die Hutsurischrift (>Schrift der Priester<), mit ebenfalls 38 Buchstabenzeichen.

Die Mhedrulischrift (>Schrift der Krieger<) ist eine jüngere Entwicklung, die erst seit dem 13. Jahrhundert in Gebrauch ist.

Harald Haarmann (*1946) : Geschichte der Schrift : C.H. Beck Wissen, 2002


Etoro : Ethnie in Papua-Neuguinea

Die Etoro sind Meister traditioneller Lebensweisen, die uns Menschen der Schriftlichkeit beweisen, dass Kultur auch ohne Schrift funktionsfähig ist.

Dort, wo keine Schrift verwendet wird, glaubt der Europäer »Primitivität« zu erkennen.

Bei genauerem Hinsehen muss man staunend zugestehen, dass es vielerlei Fertigkeiten und Techniken bedarf, um ohne die Errungenschaften der Industriegesellschaft das Leben in einer Dorfgemeinschaft zu organisieren.

Die Etoro sind ein gutes Beispiel dafür, wie eine traditionelle Kultur mit jahrtausendealten Wurzeln im Einklang mit der natürlichen Umwelt bis heute funktionstüchtig geblieben ist.

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses :  C.H. Beck Wissen, 2002


Digitale Datenbank : Festplatte – Platine

In unsere Zeit wird das Wissen über unsere Welt – wie seit Jahrhunderten – in enger Bindung an die Technologie »Schrift« akkumuliert.

Selbst wenn der größte Teil aller Informationen, die in Datenbanken gespeichert werden, digitalisiert ist, werden diese Daten bei Abruf in Schrift umgesetzt, damit der Mensch in der Lage ist, sie zu verwenden.

Schrift wird also in unserem digitalen Zeitalter nicht mehr hauptsächlich dafür verwendet, Informationen zu speichern.

Um aber digital gespeicherte Daten verfügbar zu machen, ist die Schrift auch heute ein unverzichtbares Medium, mit dem Wissen unserer Welt umzugehen.

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses :  C.H. Beck Wissen, 2002


Merinde – anim : Ethnie in Westneuguinea (1920)

• In einem Milieu der Literalität, wo Analphabetismus eine Marginalie ist, besteht kaum Anlaß, über Alternativmodelle von Gesellschaften nachzudenken, die ohne Schrift funktionieren.

Anders ist die Situation in Entwicklungsländern, wo Literalität ein Privileg der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Elite ist, Analphabetentum dagegen ein Charakteristikum der Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten. 

Was diese Welt trotz ihres Literalitätsgefälles allerdings mit den entwickelten Staaten und ihrer allgemein verfügbaren Schriftlichkeit gemein hat, ist das alternativlose zivilisatorische Idealbild von Schriftkultur.

Es gibt jedoch zahlreiche Kulturen, die bis heute ohne Schriftgebrauch existieren: in der Regenwaldzone Brasiliens, Venezuelas, in der Sahelzone Afrikas, im Dschungel Malaysias, in den unzugänglichen Bergtälern Papua-Neuguineas und im Outback des australischen Kontinents.

Harald Haarmann (*1946):  Geschichte der Schrift : Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses :  C.H. Beck Wissen, 2002


Zulu : Größte Ethnie Südafrikas (Untergruppe der Bantu)
Navaho Indianer beim Erstellen eines rituellen Sandbildes.

Selbst in den einfachsten traditionalen Kulturen finden wir eine lebendige orale Erzähltradition mit vielerlei Erzählstoffen und -formen.

Wir treffen auf eine vielschichtige visuelle Symbolik, die uns in den narrativen Zeichensequenzen von Bilderzählungen entgegentritt, beispielsweise in Form von Wandmalereien in den Felshöhlen des Ayers Rock (Uluru) in Zentralaustralien, in den rituellen Sandbildern der Navaho in Arizona, im farbigen Perlenschmuck der Zulu in Südafrika, dessen Arrangements sowohl den Sozialstatus des Trägers bzw. der Trägerin anzeigen als auch kommunikative Funktionen besitzen (z.B. in den Botschaften des aus Perlen gefertigten »Liebesbriefs«).

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses :  C.H. Beck Wissen, 2002


Vertragsversion von William Penn mit den Delaware-Indianern über den Erwerb von Ländereien (1682)
Vertragsversion der Delaware-Indianer mit William Penn über den Verkauf von Verkauf von Ländereien.

Der Erfindungsreichtum der Menschen in traditionalen Kulturen, Informationen ohne Schrift, aber mit visuellen Mitteln für den Wiedergebrauch zu fixieren, ist beeindruckend.
Die Kulturgeschichte der nordamerikanischen Indianer bietet besonders interessante Beispiele für Mnemotechniken, bei denen visuelle Mittel und mündliche Textüberlieferung in symbiotischer Verflechtung zum Einsatz kommen.
Eines von zahlreichen Beispielen in der Kolonialgeschichte, das den großen Kulturkontrast der Welt der Schriftlichkeit und der Welt der visuell-oralen Mnemotechniken veranschaulicht, ist der Vertrag, den William Penn im Jahre 1682 mit den Delaware-Indianern über den Erwerb von Ländereien in der Region aushandelte, die später nach ihm Pensylvania benannt wurde.
Penn setzte einen entsprechenden Text in englischer Sprache auf.
Das Stück Papier mit den schwarzen Strichen darauf hatte für die an der Verhandlung beteiligten Indianer wenig Bedeutung.
Um das denkwürdige Ereignis des Vertragsabschlusses für ihre Nachkommen festzuhalten, fertigten die Delawaren ihre Vertragsversion aus.
Dieses Dokument wiederum sagte den Weißen wenig, für sie waren das drei Gürtel mit schmückenden Mustern.
Mit einem Algonkin-Wort werden diese Gürtel mit mnemotechnischer Funktion wampun genannt.
Sie bestehen aus mehreren zusammengesetzten Schnüren, an denen ovale Scheiben farbiger Muscheln aufgereiht sind.
Auf dem ersten Wampun des Vertrags mit Penn sind die Vertragspartner in Gestalt eingestickter Figuren dargestellt.
Die geometrischen Motive auf den beiden anderen Gürteln symbolisieren Berge und Flussläufe.
In den Gürteln wird die Farbe Rot nicht verwendet, denn sie symbolisierte den Begriff <Krieg>.

Harald Haarmann (*1946):  Geschichte der Schrift : Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses :  C.H. Beck Wissen, 2002


Karelischer Runensänger in Uthua (Finnland), 1894

In der Geschichte der kulturellen Evolution des Menschen bedeutet Schriftgebrauch eine echte Revolution für die Informationsspeicherung und Datenwiederverwendung.

Das menschliche Gedächtnis hat eine recht begrenzte Speicherfähigkeit. Diese Feststellung gilt ganz allgemein, selbst wenn in einigen Kulturen Ausnahmefälle von extremen Gedächtnisleistungen zu finden sind.

Bekannte Beispiele sind etwa das Memorieren jahrhundertealter Genealogien durch Spezialisten der oralen Tradition in Westafrika oder die zum Teil bis heute erhaltene Erzählkunst karelischer Barden, die Tausende von Strophen des finnischen Nationalepos »Kalevala« rezitieren konnten.

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : Schrifttechnologie und die Welt der Zeichen :  C.H. Beck Wissen, 2002


Höhlenmalerei :  Grotte von Lascaux im französischen Département Dordogne (ca. 36.000 – 19.000 v. Chr.).

Es ist naheliegend, dass der Mensch durch alle Perioden hindurch solche Materialien zum Auftragen von Schrift verwendet hat, auf denen er sich bereits seit Zehntausenden von Jahren – also lange vor der Entstehung von Schrift – mit seiner visuellen Kreativität verewigt hat.

Der mit Sicherheit älteste Träger des visuellen Kulturschaffens ist Stein. Der Beständigkeit dieses Materials ist die Erhaltung der ältesten Spuren menschlichen Kunstschaffens zu verdanken, der Felsbilder in den paläolithischen Höhlen Europas und Afrikas und an den Felsüberhängen Australiens.

Bis heute ist Stein als Schriftträger in Gebrauch, sei es für Gedenkinschriften auf Grabsteinen oder Monumenten, für Reklamebeschriftungen oder in Form von Grafitti an Häuserwänden.

Harald Haarmann (*1946) : Geschichte der Schrift : Schreibtechniken und Schriftträger : C.H. Beck Wissen, 2002


Orakel-Schriftzeichen auf einem Schildkrötenpanzer (China) : Shang-Dynastie (ca. 1600–1000 v. Chr.) 
Orakelknochen mit den ältesten chinesischen Schriftzeichen (frühes 12. Jahrhundert v. Chr.) : 1899 entdeckt bei Anyang.

 Der größte Teil der Schriftträger in der Kulturgeschichte des Schreibens besteht aus organischen Materialien. Zu den ältesten organischen Stoffen gehört Knochen.

Auch dies ist eines der Materialien, die schon lange vor dem Schriftgebrauch von Menschen bearbeitet und mit Ornamenten verziert wurden. Auf Knochen sind auch die frühesten, aus der Periode des Paläolithikums stammenden numerischen Markierungen erhalten, vielleicht Tageszählungen von Intervallen zwischen den Vollmondphasen.

In Altchina waren Schulterblattknochen von Hirschen und Schildkrötenpanzer die ältesten Materialien, auf die geschrieben wurde.

Zwar findet man einzelne Zeichen mit vermutlich magischer Symbolfunktion, die wie entwicklungsmäßige Vorstufen späterer chinesischer Schriftzeichen aussehen, bereits auf den Tongefäßen des neolithischen Siedlungsplatzes von Bampo (Provinz Gansu) aus dem 5. Jahrtausend v. chr., Zeichensequenzen in Form vollständiger Inschriften sind aber erst auf Orakelknochen gemalt worden.

Jahrhundertelang wurden die Fügungen des Schicksals aus den Rissen interpretiert, die die Knochen im Feuer erhielten, und die Inschriften sollten den Geistern und Ahnen mit magischer Kraft die lebenswichtigen Fragen derjenigen nahebringen, die das Orakel anriefen.

Harald Haarmann (*1946) : Geschichte der Schrift : Schreibtechniken und Schriftträger : C.H. Beck Wissen, 2002


Die Goldbleche von Pyrgi (5. Jahrhundert v. Chr.) : Santa Marinella (Italien) : Von grundlegender Bedeutung für die Kenntnis der Geschichte und Sprache der Etrusker.
Bleiplatte mit südostiberischer Schrift aus Castellet de Bernabè, Valencia (5. bis 1. Jahrhundert v. Chr.)

 Zu den Innovationen der frühen Zivilisationen gehört die Verarbeitung von Metallen. Die ältesten Metalle, die noch kalt bearbeitet wurden (durch Hämmern), waren Kupfer und Gold. Später kamen Schmelztechniken in Gebrauch, die auch die Herstellung von Legierungen ermöglichten (z. B. Bronze).

Auf praktisch alle Metallsorten, die in der Antike in Gebrauch waren, ist auch geschrieben worden. Metall teilt zwar mit Stein dessen Beständigkeit, viele Metallgegenstände sind aber im Laufe der Zeit dadurch zerstört worden, dass sie eingeschmolzen und ihr Material erneut verarbeitet wurde. Eine Vielzahl von Skulpturen und Schmuckgegenständen ist dem Prozess der materiellen Wiederverwertung zum Opfer gefallen.

Dies gilt auch für die Beschriftung, die solche Gegenstände einmal trugen. Andererseits hat die moderne Archäologie viele beschriftete Metallobjekte ans Licht gebracht, die als stumme Zeugen teilweise Jahrtausende im Verborgenen lagen.

In einigen Regionen mit reichen Metallvorkommen waren bestimmte Metalle sogar ein bevorzugter Beschreibstoff, so auf der iberischen Halbinsel. Viele der Inschriften in iberischer und Keltischer Sprache finden sich auf Bleiplatten.

Auch die Etrusker verwendeten Bleiplatten als Schriftträger; daneben findet man Inschriften in etruskischer Sprache auch auf Gegenständen aus Gold, so etwa die berühmte Inschrift aus den Goldblechen aus Pyrgi (%. Jahrhundert v. Chr.)

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : Schreibtechniken und Schriftträger : C.H. Beck Wissen, 2002


Ägyptischer Schreiber : Neues Reich im Alten Ägypten (1550 bis 1070 v. Chr. – 18. bis 20. Dynastie).
Buchdruckmaschine : Heidelberger Tiegel (Baujahr 1970) : Diese Maschine wurde unverändert von 1926 bis 1985 am Fließband gefertigt

 Die längste Zeit der Schriftgeschichte blieb die Schrifttechnologie ein Instrument elitärer Gruppen.

In Mesopotamien und Ägypten waren die Mitglieder der Schreiber-Kaste hoch angesehene Spezialisten, Hüter des Wissens. Diese Zivilisationen waren skribale Gesellschaften. Dies gilt auch für das antike Griechenland und die römische Ära. Die Experten, die das Schriftmonopol kontrollierten, waren entweder professionelle Schreiber (lat. sriba <Schreiber, Schriftkundiger>) oder Angehörige der sozialen und politischen Elite im Staat.

Solche Verhältnisse sind noch aus den Nachfolgestaaten des Römischen Reiches bekannt. Genau genommen änderte sich am elitären Schriftgebrauch in der skribalen Gesellschaft nichts Wesentliches, solange die Hauptquelle für die Informationsspeicherung Handschriften waren. Von Handschriften konnten zwar Kopien angefertigt werden – bestimmte klassische Texte wurden auf diese Weise stark vervielfältigt -, aber die Kosten dafür waren erheblich, so dass das Lesen und Schreiben ein Privileg der Reichen war. Außerdem blieb die Zirkulation von Handschriften begrenzt und berührte das kulturelle Leben der breiten Masse der Bevölkerung kaum.

Erst der Buchdruck schuf technische Voraussetzungen für eine Verbreitung von Texten und stärkte damit die Motivation von Nichtexperten der skribalen Gesellschaft, am Informationszuwachs teilzunehmen. Je mehr gedruckte Texte zugänglich wurden, desto stärker die Notwendigkeit, mit dem neuen Medium umzugehen.

Insofern stehen zur Beginn der Neuzeit die technischen Möglichkeiten des Buchdrucks, Texte (nahezu) unbegrenzt zu vervielfältigen, der zunehmende Gebrauch der Muttersprache in der Schriftproduktion und die Motivation, Zugang zum technologisierten Informationsfluss zu bekommen (d. h. lesen zu lernen), in einem ursächlichen Zusammenhang.

Harald Haarmann (*1946): Geschichte der Schrift : 7000 Jahre Schriftgeschichte in Europa : C.H. Beck Wissen, 2002


Abdülkadir Şükri Efendi : Hilye-i Şerif (Porträt des Propheten, 1806) : Tusche, Farben und Gold auf Papier
Chikuso (1763-1830) : Pilze und ein Haiku-Gedicht : Tusche auf Papier

Schreiben war zu keiner Zeit und in keiner Kultur reine Technik zur Fixierung von Informationen, es hat immer auch die visuelle Kreativität und den ästhetischen Sinn der Menschen herausgefordert. Es gibt Kulturen mit langer Tradition, wo sich Schreiben zu einer Kunstform entwickelt hat.

In einer Welt wie der arabisch-islamischen mit ihrem Verbot, lebende Wesen direkt abzubilden, werden Schriftzeichen zum Instrument der bildenden Kunst und zum visuellen Material für die Produktion von Pseudobildern.

In China und Japan ist die Zeichenkunst seit Jahrhunderten geschätzt und hoch angesehen. Europäischen Beobachtern mag es merkwürdig anmuten, wenn ein chinesischer oder japanischer Kalligraph sein Können daran misst, ob ihm nach Jahrzehnten des Trainings mit Tusche und Pinsel die Produktion eines ästhetisch perfekten Schriftzeichens gelingt. Für Ostasiaten ist die kalligraphische Ästhetik eine selbstverständliche Komponente ihrer traditionsreichen Schriftkultur und ihres kulturellen Gedächtnisses.

Harald Haarmann (*1946):  Geschichte der Schrift : Schreibtechniken und Schriftträger : C.H. Beck Wissen, 2002


Codex Nuttall (14. Jahrhundert) : 11 Meter langes Faltbuch aus Hirschleder : Bilderhandschrift der Mixteken (Mexiko)
Codex Madrid (16. Jahrundert) : 7 Meter langes Faltbuch aus Amati-Papier : Bilderhandschrift der Maya (Halbinsel Yukatan)

 Die Geschichte der Verbreitung von Papier und Buch außerhalb Europas kennt allerlei eigenwillige Wendungen und bietet auch so manche überraschende Konfrontation der Zivilisationen.

Dies gilt etwa für die Begegnung der Welten in Amerika. Nachdem die spanischen Konquistadoren unter Führung von Hernando Cortés Mexiko erobert hatten, lernten sie dort viele Dinge kennen, die es nach Auffassung der Europäer bei den »Wilden« nicht geben durfte: eine hoch entwickelte Architektur, Schrift, Bücher und Bibliotheken. Diese Konfrontation der Europäer mit der indianischen Zivilisation löste offensichtlich eine Art Kulturschock aus, der sich in sinnloser Aggression und Brutalität äußerte. Die Bibliotheken gingen in Flammen auf, Kultstätten wurden demoliert, Kulturschaffende ermordet, die Schriftkultur wurde erstickt.

In Amerika hatte es, als die Spanier kamen, eine blühende Schriftkultur und eine Literatur in zahlreichen Gattungen gegeben. Die berühmteste Gattung der Maya-Literatur sind wohl die sogenannten Faltbücher (Codices), die auf einheimischen Papier geschrieben wurden. Diese Papierart wurde aus dem mit Gummisaft getränkten Bast einer wilden Feigenart (Ficus cotonifolia) hergestellt.

Lediglich vier der vielen Tausend Codices aus präkolumbischer Zeit sind der Zerstörungswut der spanischen Invasoren und ihrer Helfer, der Priester, entgangen.

Die Papierherstellung war nicht nur den Maya, sondern auch den Mixteken im Südwesten Mexikos und den Azteken im Tal von Mexiko vertaut. Faltbücher sind ebenfalls im mixtekischen und aztekischen Kulturkreis entstanden.

Harald Haarmann (*1946):  Geschichte der Schrift : Schreibtechniken und Schriftträger : C.H. Beck Wissen, 2002


Francis Bacon (1909 – 1992) : Study for a Head (1952)

Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.
Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.
Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.
Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.
Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.

Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.

Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.

Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken, … Leitet den Lauf der Kanäle um, um die Museen zu überschwemmen! … Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!

Wir werden die großen Menschenmengen besingen, welche die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einher stampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.

Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944) :  Futurismus-Manifest (1909) : Auszug …  


Bücherverbrennung : Berlin, Opernplatz (10. Mai 1933)

12 Thesen wider den undeutschen Geist

Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke. Das deutsche Volk trägt die Verantwortung dafür, daß seine Sprache und sein Schrifttum reiner und unverfälschter Ausdruck seines Volkstums sind.

Es klafft heute ein Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum. Dieser Zustand ist eine Schmach.

Reinheit von Sprache und Schrifttum liegt an Dir! Dein Volk hat Dir die Sprache zur treuen Bewahrung übergeben.

Unser gefährlichster Widersacher ist der Jude und der, der ihm hörig ist.

Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter. Der Student, der undeutsch spricht und schreibt, ist außerdem gedankenlos und wird seiner Aufgabe untreu.

Wir wollen die Lüge ausmerzen, wir wollen den Verrat brandmarken, wir wollen für den Studenten nicht Stätten der Gedankenlosigkeit, sondern der Zucht und der politischen Erziehung.

Wir wollen den Juden als Fremdling achten und wir wollen das Volkstum ernst nehmen. Wir fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. Schärfstes Einschreiten gegen den Mißbrauch der deutschen Schrift. Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt.

Wir fordern vom deutschen Studenten Wille und Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis und Entscheidung.

Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Reinerhaltung der deutschen Sprache.

Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Überwindung des jüdischen Intellektualismus und der damit verbundenen liberalen Verfallserscheinungen im deutschen Geistesleben.

Wir fordern die Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens im deutschen Geiste.

Wir fordern die deutsche Hochschule als Hort des deutschen Volkstums und als Kampfstätte aus der Kraft des deutschen Geistes.

Paul Karl Schmidt (1911 – 1997) : Diplomat, Journalist & Sachbuchautor
Leiter des »Kampfbundes wider den undeutschen Geist« : 12 Thesen wider den undeutschen Geist : Flugblatt (April 1933)
Nach 1945 musste sich Schmidt niemals vor einem bundesdeutschen Gericht für seine umfangreiche Tätigkeit im NS-Staat verantworten.


A. Paul Weber (1893 – 1880) : Der Denunziant : Lithographie (1934 / 1947)

Seid vorsichtig gegen die Obrigkeit, denn sie zieht den Menschen nur aus Eigennutz an sich heran;
sie erscheinen als Freunde, jedoch nur dann, wenn dies zu ihrem Nutzen geschieht, zur Zeit der Not aber stehen sie dem Menschen nicht bei.
Talmud: Sprüche der Väter

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Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.

Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) : Sudelbücher


Paul Valéry (1871 – 1945)

Man muss die Mängel seines Verstandes und seines Charakters so klar wie möglich erkennen, einkreisen, umstellen.
Mit ihnen rechnen.
Den eignen wunden Punkt erkennen.

Paul Valéry : Cahiers (Hefte), Paris 1926

• Sieben Sünden ergeben einen Gerechten.

Die sieben Todsünden sind die sieben reinen Farben im Seelenspektrum der Gerechten. Die Seele des Gerechten ist das weiße Licht, das sich aus den sieben Energien unserer Urtriebe zusammensetzt. 

Der Geiz, welcher der Trieb zum besitzen und aufspeichern an sich ist, hält im Gerechten die Unkeuschheit und die Völlerei, die viel Geld verbrauchen, allein in Schach, dazu noch die Trägheit, der es widerstrebt, sich auszugeben, um zu erwerben. 

Diese Trägheit ist aber andererseits auch Freundin des Zorns, denn nichts ist ermüdender als Ärger und Haß, als die Anstrengung, einem anderen zu schaden. Bleiben das Grün und das Rot, die der Neid und die Hoffart sein müssen, Chlor und Purpur. Diese Farben schaffen ein Gleichgewicht untereinander. Unnötig zu erklären, dass die hohe Vorstellung, die wir von uns selber haben, von Zeit zu Zeit ein allzu kräftiger Strahl durchdringt, der von einem anderen kommt und ihn so glücklich und so schön erscheinen läßt, dass uns die Lust selbst zu leben vergeht.

Paul Valéry : Autre Rhumbs (Weitere Windstriche), Paris 1927


Hochleitungsmast an dem der Verleger Giangiacomo Feltrinelli 1972 tödlich verunglückte.
Giancgiacomo Feltrinelli und Fidel Castro

• Giangiacomo Feltrinelli, Italien. Verleger, * 15. 6. 1926 Mailand, † 14. 3. 1972 bei Segrate in der Nähe von Mailand; Besitzer zahlreicher Handelsfirmen u. des Verlages Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand (Erstveröffentlichungen der weltbekannten Romane „Der Leopard“ von G. Tomasi di Lampedusa u. „Dr. Schiwago“ von B. Pasternak); gründete 1958 ein Institut für Wirtschafts- und Sozialstudien. F. engagierte sich seit den 1960er Jahren zunehmend für linksextreme Gruppen. 
Er kam bei einem fehlgeschlagenen Versuch, einen Hochleitungsmast zu sprengen, ums Leben.

© wissen-de / bildung

 Giangiacomo Feltrinelli war Verleger, Lebemann, Kommunist, Millionär – und möglicherweise Terrorist. Am 15. März 1972 wurde er tot an einem Hochspannungsmast aufgefunden. Was tags zuvor passiert war, bleibt mysteriös.
Es war eine der kompliziertesten Phasen der italienischen Nachkriegszeit. Seit dem Attentat an der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969, das von Rechtsextremen verübt worden war, aber der Linken angelastet wurde, driftete eine ganze Generation in den bewaffneten Kampf ab. Feltrinelli hatte im Jahr darauf die gruppi d’azione partigiana gegründet, die zu den ersten paramilitärischen linksextremistischen Aktionsbündnissen gehörte.
In den 60er-Jahren setzte Feltrinellis Radikalisierung ein.
An seinen Sohn Carlo schrieb er 1971 zum Geburtstag:
„Am allermeisten wünsche ich für Dich, Carlino, dass, wenn Du groß bist, alle diese Kämpfe, all diese Leiden nicht wie heute eine Realität sind, gegen die, glaub mir, jeder ehrliche Mensch kämpfen muss.“
Giangiacomo Feltrinelli, der vom italienischen Geheimdienst und von der CIA beobachtet wurde, war damals seit anderthalb Jahren im Untergrund. Wie sein Sohn Carlo später in seinem Buch Senior Service rekonstruiert, plante sein Vater mit seiner Zelle einen Anschlag auf die Hochspannungsmasten. Am 14. März 1972 endete Feltrinellis Leben mit 15 Stangen Dynamit. In der außerparlamentarischen Opposition kam der Verdacht auf, man habe den charismatischen Anführer eliminieren wollen. Für den zuständigen Staatsanwalt blieb der Tod Feltrinellis bis zum Schluss ein Rätsel. Er markierte die anni di piombo, die bleiernen Jahre. 
Der Feltrinelli Verlag ist bis heute eine italienische Institution.

Maike Ahlbath : Deutschlandfunk, 14.03. 2022


Euro (€)

• Es ist ein Trugschluss zu glauben, aus gemeinsamen ökonomischen Interessen erwachse automatisch politische Einheit. 

Gemeinsame ökonomische Interessen haben nicht einmal in unserer Zeit zwei grauenhafte europäische Kriege verhindert. Beide male ist das komplizierte Geflecht der internationalen europäischen Wirtschaftsbeziehungen ohne ein Wimpernzucken zerrissen worden. 

Eine die Welt verändernde historische Revolution wie die Vereinigung Europas kann nicht durch die Hintertür der Ökonomie erreicht werden.

Sebastian Haffner (1907 – 1999) : Observer, London 1948


DIEGO RODRÍGUEZ DE SILVA Y VELÁZQUEZ (1599 – 1660) : PORTRAIT OF POPE INNOCENT X (1650)

Die Inquisition blieb bis 1834 in Kraft. Die Erlasse, auf die man die Inquisition gründete, sind nie aufgehoben worden. Sie bilden »offiziell einen festen Bestandteil des katholischen Glaubens« und wurden noch 1969 zur Rechtfertigung bestimmter Praktiken herangezogen.

Barbara G. Walker
(Aus: »The Woman’s Encyclopedia of Myths and Secrets«, New York 1983)

FRANCIS BACON : STUDY AFTER VELÁZQUEZ’S PORTRAIT OF POPE INNOCENT X (1953)

„Ich bin ein tiefer Schatten: hört auf, mich zu quälen. „

Giordano Bruno zum Inquisitionstribunal.

(vor der Urteilsverkündigung)

„Vielleicht hattet ihr größere Furcht, da ihr euer Urteil verkündetet, als ich, da ich es hörte.“

Giordano Bruno zum Inquisitionstribunal.
(nach der Urteilsverkündigung)


Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606 – 1689) : Das Gastmahl des Belschazzars (1636)

• BELSCHAZZARS GASTMAHL. 

1 König Belschazzar gab ein großes Gastmahl für seine tausend Großen und vor den Tausend trank er Wein. 
2 In seiner Weinlaune nun ließ Belschazzar die goldenen und silbernen Gefäße holen, die sein Vater Nebukadnezzar aus dem Tempel in Jerusalem mitgenommen hatte. Jetzt sollten der König und seine Großen, seine Frauen und Nebenfrauen daraus trinken. 
3 Man holte also die goldenen Gefäße, die man aus dem Tempel des Gotteshauses in Jerusalem mitgenommen hatte, und der König und seine Großen, seine Frauen und Nebenfrauen tranken daraus. 
4 Sie tranken Wein und lobten die Götter aus Gold und Silber, aus Bronze, Eisen, Holz und Stein. 
5 In derselben Stunde erschienen die Finger einer Menschenhand und schrieben gegenüber dem Leuchter auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes. Der König sah den Rücken der Hand, die schrieb. 
6 Da erbleichte er und seine Gedanken erschreckten ihn. Seine Glieder wurden schwach und ihm schlotterten die Knie. 
7 Der König schrie laut, man solle die Wahrsager, Chaldäer und Astrologen holen. Dann sagte er zu den Weisen von Babel: Wer diese Schrift lesen und mir deuten kann – was er auch sei: er soll in Purpur gekleidet werden, eine goldene Kette um den Hals tragen und als der Dritte in meinem Reich herrschen. 
8 Da kamen alle Weisen des Königs herbei; aber sie waren nicht imstande, die Schrift zu lesen oder dem König zu sagen, was sie bedeutete. 
9 Darüber erschrak König Belschazzar noch mehr und sein Gesicht wurde bleich. Auch seine Großen gerieten in Angst. 
10 Da die Rufe des Königs und seiner Großen bis zur Königin drangen, kam sie in den Festsaal und sagte: O König, mögest du ewig leben. Lass dich von deinen Gedanken nicht erschrecken; du brauchst nicht zu erbleichen! 
11 In deinem Reich gibt es einen Mann, in dem der Geist der heiligen Götter wohnt. Schon zu deines Vaters Zeiten fand man bei ihm Erleuchtung und Einsicht und Weisheit, wie nur die Götter sie haben; deshalb hat König Nebukadnezzar, dein Vater, ihn zum Obersten der Zeichendeuter, Wahrsager, Chaldäer und Astrologen ernannt, dein eigener Vater, o König! 
12 Bei diesem Daniel also, dem der König den Namen Beltschazzar gegeben hat, fand man außergewöhnlichen Geist sowie Erkenntnis und Einsicht und die Gabe, Träume auszulegen, Rätsel zu erklären und schwierige Fragen zu lösen. Darum lass jetzt Daniel herrufen; er wird die Deutung geben! 
13 Daniel wurde vor den König gebracht und der König sagte zu ihm: Du also bist Daniel, einer von den Verschleppten aus Juda, die mein Vater, der König, aus Juda hierher gebracht hat. 
14 In dir, so habe ich gehört, ist der Geist der Götter und bei dir fand man Erleuchtung und Einsicht und außergewöhnliche Weisheit. 
15 Man hat die Weisen und die Wahrsager vor mich gebracht, damit sie diese Schrift lesen und mir deuten. Sie konnten mir aber nicht sagen, was das Geschriebene bedeutet. 
16 Doch du, so habe ich gehört, kannst Deutungen geben und schwierige Fragen lösen. Wenn du nun die Schrift lesen und mir deuten kannst, sollst du in Purpur gekleidet werden, um den Hals eine goldene Kette tragen und als der Dritte in meinem Reich herrschen. 
17 Daniel gab dem König zur Antwort: Behalte deine Gaben oder schenk sie einem andern! Aber die Schrift will ich für den König lesen und deuten. 
18 O König! Der höchste Gott hat deinem Vater Nebukadnezzar Herrschaft und Macht, Herrlichkeit und Majestät gegeben. 
19 Vor der Macht, die ihm verliehen war, zitterten und bebten alle Völker, Nationen und Sprachen. Er tötete, wen er wollte, und ließ am Leben, wen er wollte. Er erhöhte, wen er wollte, und stürzte, wen er wollte. 
20 Als aber sein Herz überheblich und sein Geist hochmütig wurde, stürzte man ihn von seinem königlichen Thron und er verlor die Herrscherwürde. 
21 Aus der Menschheit wurde er ausgestoßen. Sein Herz wurde dem der Tiere gleichgemacht. Er musste bei den wilden Eseln hausen und Grünzeug wie die Stiere fraß er und vom Tau des Himmels wurde sein Leib benetzt, bis er erkannte: Der höchste Gott gebietet über die Herrschaft bei den Menschen und gibt sie, wem er will. 
22 Und du, Belschazzar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dies alles weißt. 
23 Du hast dich gegen den Herrn des Himmels erhoben und dir die Gefäße aus seinem Tempel herbeischaffen lassen. Du und deine Großen, deine Frauen und Nebenfrauen, ihr habt daraus Wein getrunken. Du hast die Götter aus Gold und Silber, aus Bronze, Eisen, Holz und Stein gepriesen, die weder sehen noch hören können und keinen Verstand haben. Aber den Gott, der deinen Lebensatem in seiner Hand hat und dem all deine Wege gehören, den hast du nicht verherrlicht. 
24 Darum hat er diese Hand geschickt und diese Schrift geschrieben. 
25 Das Geschriebene lautet aber: Mene mene tekel u-parsin. 
26 Diese Worte bedeuten: Mene: Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. 
27 Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. 
28 Peres: Geteilt wird dein Reich und den Medern und Persern gegeben. 
29 Da befahl Belschazzar, Daniel in Purpur zu kleiden und ihm eine goldene Kette um den Hals zu legen, und er ließ verkünden, dass Daniel als der Dritte im Reich herrschen sollte. 
30 Aber noch in derselben Nacht wurde Belschazzar, der König der Chaldäer, getötet.

Buch Daniel : Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 2016


Symbol der Freimaurerei (Zirkel & Winkel)

Freimaurerei [von englisch Freemasonry], eine international verbreitete, in den einzelnen Ländern in Logen organisierte Bewegung (Bruderschaft), die sich einer humanitären, auf Toleranz und Achtung vor der Menschenwürde beruhenden Geisteshaltung verpflichtet fühlt, die in den Logen in rituellen »Arbeiten« vermittelt wird. 

Auf dieser Grundlage treten die Logenmitglieder (Freimaurer) für freie Entfaltung der Persönlichkeit, Hilfsbereitschaft, Brüderlichkeit und ein friedliches, sozial gerechtes Zusammenleben der Menschen ein. Grundlage freimaurerischen Selbstverständnisses ist die Überzeugung, dass alle Konflikte ohne zerstörerische Auswirkungen ausgetragen werden können, wenn ein ausreichendes Vertrauensverhältnis zwischen allen Menschen geschaffen werden kann. 

Die in der brüderlichen Gemeinschaft in Tempelarbeiten gewonnene Selbsterkenntnis soll zugleich Gewissen und Verantwortungsgefühl gegenüber Staat und Gesellschaft schärfen. Das (außerhalb der Freimaurerei nicht bekannte eigentliche) Ritual der Freimaurer, das in seinen wesentlichen Bestandteilen überall auf der Erde gleich ist, kann als ein dynamisches Symbol des kosmischen Geschehens gedeutet werden. Das teilnehmende Logenmitglied ordnet sich mithilfe der Symbolik der rituellen Handlungen bewusst in die Gesetzmäßigkeit des Universums ein und soll durch diese lebendige Beziehung lernen, sein Leben in immer zunehmenderem Maß aus einem übergeordneten Bewusstsein heraus zu gestalten. 

Besonderer Wert wird dem individuellen Erleben des Rituals beigemessen, das sich allgemeinen Festlegungen entzieht. Um Fehleinschätzungen oder Missdeutungen vorzubeugen, verpflichten sich die Brüder zur Verschwiegenheit. Jede Arbeit besitzt den Charakter einer Feier; zu Beginn wird ein Gebet oder ein Sinnspruch gesprochen und zum Ausklang symbolisch die Kette gebildet. 

Das Brauchtum der Freimaurer wurzelt in den mittelalterlichen Bauhütten. Die Freimaurerei stellt im Verständnis der Freimaurer eine sinnbildliche Baukunst dar; Gegenstand dieses Bauens ist der einzelne Mensch und über ihn hinaus die gesamte Menschheit. 

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Heiliger Stuhl : Kathedra des Papstes als Bischof von Rom in Lateranbasilika.

Heiliger Stuhl, (Völkerrecht): Bezeichnung des Oberhaupts der katholischen Kirche in seiner Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt.

Die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls ist nur historisch zu erklären, und zwar aus der Rolle, die das Oberhaupt der katholischen Kirche im Mittelalter spielte. 

Solange die Kirche auch über eine weltliche Macht in Form des Kirchenstaates verfügte, trat die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls nicht in Erscheinung. Sie zeigte sich aber in der Zeit, in der dem Papst kein Staatsgebiet zur Verfügung stand (1870–1929), in der aber dennoch zahlreiche Staaten diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl unterhielten. Durch die am 11. 2. 1929 zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien abgeschlossenen Lateranverträge wurde der Staat der Vatikanstadt geschaffen, der als souveräner Staat eigene Völkerrechtssubjektivität besitzt. Sein verfassungsmäßiges Oberhaupt ist ebenfalls der Papst. Trotz dieser personellen Verbindung ist die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls streng von der Völkerrechtssubjektivität des Staates der Vatikanstadt zu unterscheiden. 

Nicht alle Staaten erkennen die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls an. Der Heilige Stuhl ist daher nur ein partikulares Völkerrechtssubjekt. Im Rahmen seiner traditionellen, durch das Kirchenrecht umschriebenen Aufgabe nimmt er am völkerrechtlichen Verkehr teil. Wie andere Völkerrechtssubjekte unterzeichnet und ratifiziert er völkerrechtliche Verträge, besonders Konkordate.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Charging Bull : Bronzeskulptur in der Nähe der Wall Street (1989) : symbolisiert den Optimismus der Börse.

New York Stock Exchange, Abkürzung NYSE, zentrale Wertpapierbörse der USA und weltweit größte Börsen (auch »Big Board« genannt). Häufig wird der Sitz an der Wall Street als Synonym für die NYSE verwendet. 

Ihre Entstehung geht auf formlose Treffen von Wertpapierhändlern gegen Ende des 18. Jahrhunderts zurück. 1792 gründeten 24 von ihnen eine Gesellschaft (Buttonwood Tree Agreement), die in rasch wachsendem Umfang und nach immer strengeren Regeln den Börsenhandel organisierte. 1863 erhielt sie ihren heutigen Namen. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg die NYSE zur weltweit wichtigsten Börse auf. Im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise und den Zusammenbruch des Wertpapierhandels (1929) wurde 1934 der Handel erstmals einer staatlichen Aufsicht durch die Securities and Exchange Commission (SEC) unterstellt. Träger der NYSE ist ein privatrechtlicher Verein, dem v. a. die Broker (Makler) und Dealer (Börsenhändler) angehören. Seit 2006 ist die NYSE börsennotiert und firmiert als NYSE Group, Inc. Im April 2007 entstand durch den Zusammenschluss mit der Euronext N. V. die NYSE Euronext, Inc., die erste transantlantische Börse der Welt.

Die Kundenaufträge werden grundsätzlich im Börsensaal (Börsenzeit: 15.30–22.00 Uhr MEZ) nach dem Auktionsprinzip abgewickelt. Für kleine oder limitierte Aufträge wird einer der Specialists unter den Börsenmitgliedern eingeschaltet, die verpflichtet sind, für jeweils bestimmte Papiere für einen geregelten Markt zu sorgen, wenn erforderlich durch Selbsteintritt. Die Specialists sind über das Intermarket Trading System (ITS) mit den Specialists an anderen Börsen verbunden, was bei an mehreren Börsen notierten Papieren den für Kunden jeweils günstigsten Abschluss ermöglicht. Der älteste und bekannteste Aktienindex der NYSE ist der Dow-Jones-Index.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Die hölzernen Druckplatten der Tripitaka Koreana 

Die Tripitaka Koreana, eine Sammlung von 81.258 hölzernen Druckplatten, wird im Haeinsa-Tempel (erbaut im Jahr 802) in Hapcheon-gun, Provinz Gyeongsangnamdo, aufbewahrt. Die Druckplatten entstanden während der Goryeo-Zeit (918-1392) im Rahmen eines staatlichen Projekts, das 1236 begonnen und erst 15 Jahre später abgeschlossen wurde. Die Sammlung ist auch unter dem Namen Palman Daejanggyeong bekannt, was wörtlich übersetzt heißt: „die Tripitaka von achtzigtausend Holzblöcken“.

Mit der Herstellung der Tripitaka Koreana wollte man Buddhas Kräfte zur Abwehr mongolischer Eindringlinge erflehen, die das Land im 13. Jahrhundert erobert und verwüstet hatten. Die Tripitaka Koreana wird oft mit anderen Tripitaka-Ausgaben der Song-, Yuan- und Ming-Dynastien verglichen, aber als viel umfassender und aufschlussreicher angesehen. Die Art der Anfertigung hatte Einfluss auf spätere Druck- und Publikationstechniken in Korea.

(UNESCO Welterbe in Korea)


Die Weisen aus dem Morgenland mit den Stern von Bethlehem. (Mosaik aus Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna, um 565)
Das 1896/97 in Oxyrhynchos (Ägypten) gefundene Papyrusblatt 1 (frühes 3. Jahrhundert) gehört als „ständiger Zeuge erster Ordnung“ zu den wichtigsten Handschriftfragmenten des Matthäusevangeliums

1 Da Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: 

2 Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten. 

3 Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, 

4 und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. 

5 Und sie sagten ihm: Zu Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten: 

6 »Und du, Bethlehem im Lande Juda, bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« 

7 Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, 

8 und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr’s findet, so sagt mir’s wieder, dass auch ich komme und es anbete. 

9 Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. 

10 Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut 

11 und gingen in das Haus und sahen das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. 

12 Und da ihnen im Traum befohlen wurde, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem andern Weg wieder in ihr Land.

(Matthäusevangelium : Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung)


Eingangstor im KZ Dachau

Konzentrationslager, Abkürzung KZ, Massenlager, die Elemente des Arbeits-, Internierungs- und Kriegsgefangenenlagers sowie des Gefängnisses und Ghettos vereinigen, dienten ab dem 20. Jahrhundert in diktatorischen Staaten der Unterdrückung und Ausschaltung politischer Gegner, vor allem in Deutschland während der nationalsozialistischen Diktatur (1933–45).

Vorläufer waren u. a. die von der spanischen Kolonialmacht während des kubanischen Unabhängigkeitskampfes (1895) und von der britischen Armee unter H. H. Earl Kitchener im Burenkrieg (1899–1902) errichteten Massenlager für Gefangene (englische Bezeichnung concentration camp, ab 1901 belegt). Ab 1917/23 richtete Sowjetrussland in seinem Herrschaftsgebiet Zwangsarbeitslager zur Verfolgung der politischen Opposition ein (ab Beginn der 1930er-Jahre im Rahmen des GULAG).

Während des Nationalsozialismus in Deutschland (1933–45) hatten die Konzentrationslager (offizielle Abkürzung KL) unter der Herrschaft der SS unterschiedliche Funktionen: zunächst Internierungslager für politische Gegner, dann zusätzlich Zwangsarbeitslager (ab 1941/42 auch im Rahmen der Kriegswirtschaft) und Stätten der Ermordung besonders von Juden, Sinti und Roma sowie anderen (systematisch) verfolgten Personengruppen. 

Zu den Methoden gehörte das Prinzip »Vernichtung durch Arbeit«.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Max Beckmann (1884 – 1950) : Die Granate (Kaltnadelradierung, 1914)

Schon immer war Krieg mit Lärm verbunden: mit den stampfenden Marschtritten und dem Gejohle von Soldaten, mit den Rattern und Rollen von Lafetten, mit dem Pfeifen und Explodieren von Geschossen, mit dem Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden.

Jeder Krieg besitzt eine eigene Klangsignatur, die ihn von früheren oder späteren militärischen Auseinandersetzungen unterscheidet, so auch der Erste Weltkrieg.

Dessen spezifische Soundkulisse bestand aus einer Abfolge von Phasen der Stille und tagelangem höllischen Lärm infolge des Trommelfeuers.

Wie kein militärischer Konflikt zuvor war der Erste Weltkrieg so auch ein Angriff auf das Trommelfell und auf die Psyche der Soldaten.

Gerhard Paul : Trommelfeuer aufs Trommelfell : Der Erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand (2014)


Max Beckmann (1884 – 1950) : Hölle der Vögel (1938)

Malerei ist eine schwere Sache und fordert den Menschen mit Haut und Haaren. So bin ich vielleicht blind an vielen Dingen des realen und politischen Lebens vorbeigegangen. 

Allerdings nehme ich an, daß es zwei Welten gibt. Die Welt des Geistes und die der politischen Realität. Beide sind streng gesonderte Funktionen der Lebensmanifestation, die sich wohl manchmal berühren, aber im Prinzip grundverschieden sind.

Welche wichtiger sind, muß ich dem Zuhörer überlassen. Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die Idealität, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum Unsichtbaren — ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat: «Willst du das Unsichtbare fassen, dringe so tief du kannst ein — in das Sichtbare». 

Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen. — Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. — Das mag vielleicht paradox klingen — es ist aber wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet.

Max Beckmann : Über meine Malerei (Auszug) : Vortrag, gehalten in den New Burlington Galleries, London 1938


Wände mit 78 000 Namen tschechischer Schoah-Opfer : Prag : Pinkas Synagoge (16. Jahrhundert) : Gedenkstätte (seit 1954)

»Jeder kehre vor seiner Tür!« Es ist wahrhaftig die Hausmeister-Philosophie, die seit einigen Jahrzehnten die Welt bestimmt. 

Vielmehr sollte jeder vor der Tür des andern kehren. 

Es kann keine europäische und auch keine europäisch-christliche Moral geben, solange der Grundsatz der »Nichteinmischung« besteht. 

Weshalb denn maßen sich die europäischen Staaten an, Zivilisation und Gesittung in fernen Erdteilen zu verbreiten? Weshalb nicht in Europa? 

Eine jahrhundertealte Zivilisation eines europäischen Volkes beweist noch lange nicht, dass es durch einen unheimlichen Fluch der Vorsehung wieder barbarisch wird.

Joseph Roth (1894 – 1939) : »Juden auf Wanderschaft«, 1927 (Auszug)


Bayer AG (Logo) : Weltweit tätiger Konzern mit Schwerpunkt auf der chemischen und pharmazeutischen Industrie. 
Hauptsitz des 1863 gegründeten Unternehmens ist Leverkusen. Umsatz : 44,08 Milliarden EUR (2021)
Die Bayer AG ist die Holdinggesellschaft des Bayer-Konzerns, zu dem über 400 Gesellschaften gehören. Das bekannteste Produkt von Bayer ist das Schmerzmittel Aspirin.
Bayer AG. Das Bayer Kreuz leuchtet über der Firmenzentrale in Leverkusen.
Amerikanische Bayer-Werbung für Aspirin, Heroin, Lycetol, Salophen und andere (1911)

• Unternehmensprofil

Bayer ist einer der weltweit führenden Konzerne im Bereich Chemie und Pharmazie mit Ausrichtung auf Gesundheit und Agrarwirtschaft. Der Konzern ist in den Bereichen Pharmaceuticals, Consumer Health und Crop Science tätig. Im umsatzstärksten Bereich Pharmaceuticals fokussiert sich Bayer auf die Erforschung, Entwicklung und Vermarktung von verschreibungspflichtigen Produkten und Spezial-Medikamenten. Zu diesem Bereich zählt auch das Geschäftsfeld Radiologie mit Medizingeräten. Das Segment Consumer Health bietet überwiegend rezeptfreie Medikamente an. Crop Science ist auf den Gebieten Saatgut, Pflanzenschutz und Schädlingsbekämpfung tätig.

Große Bekanntheit erlangte Bayer u.a. durch die Entwicklung von Arzneimitteln (seit 1887; z.B. Aspirin, Luminal, Resochin, Adalat, Ciprobay) und des ersten synthetischen Kautschuks (1910). Das Unternehmen ist auch im Sportsponsoring aktiv (Bayer 04 Leverkusen).

Bayer ist eines der größten Unternehmen Deutschlands. Neben dem Hauptwerk in Leverkusen verfügt der Konzern über zahlreiche weitere Produktionsstandorte. Weltweit beschäftigt er rund 100 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon ca. 25 000 in Deutschland.

Der Konzern ist seit 1988 im DAX gelistet. Das Bayer-Kreuz ist nicht nur Markenzeichen des Konzerns, sondern auch weithin sichtbares Wahrzeichen der Stadt Leverkusen. Es wurde 1904 erstmalig als Firmenzeichen verwendet.

Herausforderungen

Die Pharmaindustrie zeichnet sich durch eine hohe Patentabhängigkeit (Patent) aus. Der Patentschutz ermöglicht es den Unternehmen, die immensen Investitionskosten, die für Forschung und Entwicklung notwendig sind, zu tragen. Das Auslaufen des Patentschutzes, »Patent Cliff« genannt, geht in der Regel einher mit stark sinkenden Umsätzen.

Im Jahr 2018 kaufte Bayer seinen US-amerikanischen Konkurrenten Monsanto. Seitdem beschäftigen den Leverkusener Konzern tausende Klagen wegen des mutmaßlich krebserregenden Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat. Der US-Konzern ließ Glyphosat in den 1970er-Jahren patentieren. Monsanto steht in Europa zudem wegen seiner gentechnisch veränderten Produkte in der Kritik. Die Übernahme des US-Unternehmens entwickelte sich für Bayer zu einer schweren Hypothek.

Geschichte

Die Bayer AG schaut auf eine lange Unternehmensgeschichte zurück. Der Konzern wurde im Jahr 1863 als Friedrich Bayer & Co. in Barmen (heute zu Wuppertal) von Friedrich Bayer (* 1825, † 1880) gegründet. Seit 1891 hat er seinen Sitz in Wiesdorf am Rhein (heute Leverkusen). 1925 fusionierte die Bayer AG mit der BASF AG und anderen deutschen Chemieunternehmen zur I. G. Farbenindustrie AG, die nach 1945 enteignet und entflochten wurde.

Im Jahr 1951 erfolgte die Neugründung als Farbenfabriken Bayer AG. Seit 1972 firmiert der Konzern als Bayer AG. Er baute das Auslandsgeschäft kontinuierlich aus und entwickelte sich zu einem integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen mit Geschäftstätigkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Das DAX-Unternehmen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch Zu- und Verkäufe stark gewandelt. So wurde Anfang 2005 die Trennung vom Teilkonzern Lanxess AG vollzogen. 2006 erfolgte der Erwerb der Schering AG, die bis 2011 als Bayer Bayer Schering Pharma AG firmierte und später im Bayer-Konzern aufging. Der Polymer-Werkstoffhersteller Covestro AG war bis 2015 eine Tochtergesellschaft der Bayer AG. 2018 übernahm Bayer den amerikanischen Agrochemie- und Saatgutkonzern Monsanto. Mit rund 60 Milliarden Dollar war es die bis dahin größte Übernahme in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. 2020 trennte sich der Konzern vom Tiermedizin-Geschäft.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Apollontempel : Hauptheiligtum des Orakels von Delphi (ab dem 8. Jahrhundert vor Chr.)
Themis in der Rolle der Pythia prophezeit dem Aigeus einen Sohn : Attisch-rotfigurige Kylix (um 435 v. Chr.)

Delphi war bereits seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. wichtigster Kultort Apollons, »Nabel der Welt« und Anlaufstelle für Ratsuchende aus der ganzen antiken Welt. Pythia verkündete als Orakel von Delphi den Fragenden die Antworten. Der heilige Bezirk verteilte sich auf vier Terrassen und war mit zahlreichen Tempeln, Schatzhäusern und Denkmälern gespickt. Zu den wichtigsten Bauwerken der Ruinenstätte zählen neben dem Apollontempel die Heilige Straße mit den Schatzhäusern, das Stadion, das Theater sowie das Heiligtum der Athene Pronaia.

Die eigentliche Weissagung erfolgte im Apollontempel. 

Bereits in seiner Vorhalle waren an den Wänden die Sinnsprüche der »Sieben Weisen«, wie »Nichts zu sehr« und »Erkenne dich selbst«, zu lesen. Die Zeremonie der Weissagung selbst muss ein eindrucksvolles Schauspiel gewesen sein. Mit lauter Stimme musste zunächst das Anliegen vorgetragen werden. Die oberste Priesterin, die Pythia, verkündete dann den »Willen des Zeus«; sie saß dabei auf einem Dreifuß über einem Erdspalt, aus dem berauschende Dämpfe aufstiegen, die die Auserwählte in Ekstase versetzten. Dabei berührte sie den so genannten Nabelstein, einst der von Zeus ermittelte Mittelpunkt der Welt, Schnittstelle zwischen Himmel und Erde. Die »Auslegung« und »Übersetzung« der Weissagungen erfolgte dann durch männliche Priester des Heiligtums. 

Dank dieser Weissagungen wurde Delphi zu einem geistigen Zentrum der griechischen Welt, und seine Schutzherren verfügten über einen nicht unerheblichen Einfluss auf Kultur und Politik im östlichen Mittelmeerraum.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Die Milchstraße (Infrarotbild des Spitzer-Weltraumteleskops der NASA)

 Gott erschuf die Welt aus dem Nichts.
Doch das Nichts schimmert durch.

Paul Valéry (1871 – 1945)

Firmenlogo (Größter Rüstungs- & Technologiekonzern der Welt, 2023)

Lockheed Martin Corp., amerikanischer Luft- und Raumfahrtkonzern, entstanden 1995 durch Fusion der Lockheed Aircraft Corp. (gegründet 1932) mit der Firma Martin Marietta, Sitz: Bethesda (Maryland). Hergestellt werden v. a. Militärflugzeuge und -hubschrauber, Raketen, Informations-, Radar- und Feuerleitsysteme; Umsatz (2021): 67,00 Mrd. US-$, Beschäftigte (2021): 114 000.

Lockheed-Affäre, die Bestechung von ausländischen Politikern durch die amerikanische Lockheed Aircraft Corp., um den Absatz v. a. ihrer militärischen Luftfahrzeuge (u. a. »Starfighter«, »Hercules C-130«) zu fördern. Nach Aufdeckung dieser Vorgänge wurden Mitte der 1970er-Jahre zahlreiche Politiker der Korruption verdächtigt. Nach Ermittlungen des US-Senates zahlte der Lockheed-Konzern etwa 24,4 Mio. US-$. In die Lockheed-Affäre verwickelt, wurden der frühere italienische Verteidigungsminister M. Tanassi 1979 und der frühere japanische Ministerpräsident Tanaka Kakuei 1983 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Im Zusammenhang mit der Lockheed-Affäre trat Bernhard, Prinz der Niederlande, 1976 – nach Aufdeckung von Unkorrektheiten im Zusammenhang mit der Beschaffung von »Starfightern« – von fast all seinen Ämtern zurück und 1998 wurde der frühere Generalsekretär der NATO, der Belgier W. Claes, wegen Bestechlichkeit zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. (Brockhaus, Enzyklopädie)


Firmenlogo : Istituto per le Opere di Religione (Vatikanbank)

Gianluigi Nuzzi (geboren 1969) ist Journalist beim italienischen Magazin »Panorama«, zuvor war er für die Tageszeitungen »Corriere della Sera« und »Il Giornale« tätig. Seit 1994 verfolgt Nuzzi die Polit- und Finanzskandale in seiner Heimat. 

Gianluigi Nuzzi
»VATIKAN AG«
Deutsche Ausgabe: © 2010 Ecowin Verlag, Salzburg
Italienische Ausgabe: © 2009 »Vaticano S.p.A.« bei Chiarelettere editore srl, Mailand

ND: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur katholischen Kirche? Nuzzi: Ich bin ein optimistischer Katholik und ich habe beim Schreiben dieses Buches absolut gelitten – als Mensch, als Christ, ganz einfach, weil ich den Glauben achte. Worauf es ankommt, ist Transparenz. Die tatsächliche Bilanz des IOR, also der Vatikanbank, ist nach wie vor völlig geheim. Man muss bedenken, dass der Reingewinn des IOR direkt in die Verfügbarkeit des Papstes fällt. Aber faktisch ist es so, dass wir über 90 Prozent der finanziellen Tätigkeiten des Vatikans überhaupt nichts wissen.
ND: Welche Mitschuld trägt Papst Johannes Paul II. an den illegalen Geschäften der Vatikanbank?
Nuzzi: Johannes Paul II. wurde erst aktiv, als von außen durch die Staatsanwaltschaft die Dinge in Fluss kamen und die Ermittler sozusagen an die bronzenen Tore des Vatikans klopften. Aber der Papst war sicherlich kein Komplize. Man muss ja bedenken, dass diese obskuren Geschäfte gut verschleiert wurden, so gut, dass sie auch Leuten, die es von ihrer Funktion her wirklich hätten wissen müssen, entgangen sind.
ND: Hat sich das unter Papst Benedikt XVI. geändert?
Nuzzi: Nach Erscheinen meines Buches in Italien hat Benedikt im Herbst 2009 IOR-Präsident Angelo Caloia anderthalb Jahre vor Auslaufen seines Mandats in den Ruhestand geschickt. Der Vatikanstaat schloss ein Währungsabkommen mit der Europäischen Zentralbank, das unter anderem vorsieht, dass der Vatikan die Geldwäschebestimmungen der EZB übernimmt. Allerdings kann das IOR weiter eine eigene Rechtsetzung verfügen. Es ist also nicht sicher, dass die Vatikanbank diese Geldwäschebestimmungen auch tatsächlich anwendet.
(Neues Deutschland, 01.04.2010 / Auszug)


Blindenschrift

Blindenschrift wird heute gleichgesetzt mit dem 1825 von L. Braille geschaffenen System. Auf Barbiers »Nachtschrift« aufbauend, entwickelte er eine aus nur 6 Punkten bestehende Buchstabenschrift, die sich inzwischen weltweit durchgesetzt hat (1829 erstes Buch in Brailleschrift; 1879 Einführung der Brailleschrift in Deutschland). Um den Platzbedarf weiter zu reduzieren, wurde die Braille-Vollschrift später durch eine Kurzschrift ergänzt. Auf der Grundlage der Brailleschrift gibt es außerdem eine Schrift für Mathematik, Chemie, Stenografie sowie eine Lautschrift für Blinde und eine Blindennotenschrift.

Im Blindenschriftalphabet besteht jeder Buchstabe aus Teilen der Grundform, die aus zwei senkrechten Reihen mit je drei Punkten zusammengesetzt ist. Für die Darstellung von Buchstaben, Satzzeichen und Ziffern werden lediglich Zahl und Folge der Punkte verändert. Unter Berücksichtigung der Unverwechselbarkeit sind insgesamt 63 Punktkombinationen möglich; nicht alle werden für die Vollschrift benötigt, kommen aber z. B. in der Kurzschrift zur Anwendung. Die Blindenschrift wird gewöhnlich durch Abtasten mit den Kuppen der Zeigefinger von links nach rechts gelesen; der linke Zeigefinger erleichtert jeweils das Auffinden der nächsten Zeile. Geübte Blinde erreichen die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit eines sehenden Vorlesers.
(Brockhaus, Enzyklopädie)


Tafel mit Gilgamesch-Epos (Auszug)

Gilgamesch, Gilgamesh, ursprünglich Bilgamesch, sumerischer König der 1. Dynastie von Uruk, der um 2700/2600 v. Chr. gelebt haben soll. 

Gilgamesch ist der Held der in der altorientalischen Literatur weitverbreiteten Gilgameschdichtungen, deren Stoff vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. in sumerischer, akkadischer, hurritischer und hethitischer Sprache überliefert worden ist.

Das sumerische Erzählgut besteht aus noch voneinander unabhängigen Einzeldichtungen: 

1) Das Kurzepos »Gilgamesch und Agga von Kisch« berichtet von dem Konflikt zwischen Uruk und der nordbabylonischen Stadt Kisch. 

2) Gilgamesch und Huwawa; mehrere Versionen beschreiben den Zug des Gilgamesch und seines Freundes Enkidu gegen Huwawa, den Dämon und Hüter des Zedernwaldes im Libanon; 

3) Gilgamesch, Enkidu und der Himmelsstier; 

4) Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt; 

5) Krankheit und Tod des Gilgamesch; schildert Krankheit und Tod des Helden sowie dessen Ankunft in der Unterwelt.

Wohl im 18. Jahrhundert v. Chr. entstand aus den Einzeldichtungen ein einheitliches Epos in akkadischer (altbabylonischer) Sprache, das bis zum 13. Jahrhundert v. Chr. auch in Hattusa und Megiddo verbreitet war. 

Das eigentliche »Gilgamesch-Epos« (um 1000 v. Chr.) ist überliefert in der jungbabylonischen Literatursprache auf elf Tafeln mit etwa 3 600 Verszeilen aus der Bibliothek Assurbanipals in Ninive. Als Autor oder dichterischer Bearbeiter wird – ungewöhnlich bei den meist anonymen altorientalischen Literaturwerken – der Priester Sin-leqe-unuini genannt. 

Dieser Fassung wurde als zwölfte Tafel eine Teilübersetzung des sumerischen »Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt« angefügt. Proömium und Epilog des Epos führen nach Uruk, der Geburtsstätte des Gilgamesch, der zu zwei Drittel Gott und zu einem Drittel Mensch ist. Um Gilgamesch, den König von Uruk, von der Knechtung seiner Untertanen abzulenken, erschaffen die Götter den behaarten »Urmenschen« Enkidu, der nach einem Zweikampf mit Gilgamesch zu dessen Freund und Begleiter wird. 

Ihr erstes Abenteuer ist der Zug zum Zedernwald, der mit der Tötung des Huwawa endet. Wieder in Uruk, wird Gilgamesch zum Objekt der Begierde der Liebesgöttin Inanna; er weist sie ab; aus Rache fordert die Göttin von ihrem Vater die Herausgabe des Himmelsstieres, dessen Herabsteigen für Uruk sieben Hungerjahre bedeutet; Gilgamesch und Enkidu erschlagen den Stier. Hier schließt das Motiv vom Tod des Enkidu an, den Gilgamesch nicht hinnehmen will. Er begibt sich auf eine (Jenseits-)Reise zu dem von den Göttern an das Ende der Welt entrückten Sintfluthelden Utnapischtim. 

Der Weg dorthin führt über mehrere Jenseitsstationen, nämlich dem von einem Skorpion-Menschenpaar bewachten Gebirge Maschu, wo die Sonne aus der Tiefe aufsteigt und wieder in sie versinkt, dem mit Edelsteinbäumen bewachsenen Garten und dem »Grenzwirtshaus« (Nobishaus, Nobiskrug) der Schankwirtin Schiduri. Von hier aus überquert er mithilfe des Fährmanns Urschanabi das »Wasser des Todes« und gelangt zu Utnapischtim, der ihm trotz einer nicht bestandenen Probe das Geheimnis der Lebenspflanze enthüllt. In diese Episode des Epos ist die dem alttestamentlichen Bericht ähnliche Erzählung der elften Tafel von der Sintflut eingegliedert. Gilgamesch gelangt schließlich in den Besitz der Pflanze, die ihm jedoch von einer Schlange wieder entwendet wird. Erfolglos kehrt Gilgamesch nach Uruk zurück. Hier bricht die Überlieferung ab.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Piet Mondrian (1872 – 1944) : Composition en rouge, jaune, bleu et noir (1921)
Yves St Laurent (1936 – 2008) : Haute Couture Collection : Paris (1966)

 Mondrian, Piet, eigentlich Pieter Cornelis Mondriaan, niederländischer Maler, * Amersfoort 7. 3. 1872, † New York 1. 2. 1944; bedeutender Vertreter des Konstruktivismus und der konkreten Kunst.

Mondrian begann als Landschaftsmaler; setzte sich mit Symbolismus und Pointillismus auseinander. 

1911–14 hielt er sich in Paris auf. Nach einer deutlich vom Kubismus bestimmten Phase entstanden 1914 die ersten abstrakten Kompositionen auf der Grundlage linearer und geometrischer Elemente. 

1917 gehörte er zu den Begründern der Stijl-Gruppe. In der von T. van Doesburg herausgegebenen Zeitschrift »De Stijl« erläuterte er seine Theorie des Neoplastizismus. 

1919–38 lebte er wieder in Paris, wo er zur Gruppe Abstraction-Création gehörte, anschließend bis 1940 in London, danach in New York. 

Mondrians Werk besteht seit 1920 aus Gemälden, deren Spannung auf den Formbeziehungen zwischen rechteckigen, sparsam verteilten Farbflächen in reinen Farben und dem sie überlagernden System horizontaler und vertikaler Linien beruht. Plastische Werte sind zugunsten des Gleichgewichts reiner Flächenbeziehungen eliminiert. Die Kunst von Mondrian ist einer der konsequentesten und einflussreichsten Beiträge im Bereich der gegenstandslosen Malerei, mit der er in erheblichem Maße auch auf die Architektur wirkte. 

1994 wurde in Amersfoort das restaurierte Geburtshaus des Künstlers als Studien- und Dokumentationszentrum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

(Brockhaus, Enzyklöpädie)

Das Plagiat ist kaum zu vermeiden. 

Es ist fast immer die Basis jeglicher Weiterentwicklung kunst-kultureller Traditionen. 

Es analysiert, benutzt und zitiert die Inventionen eines Künstlers, bedient sich seiner Techniken, negiert einen fragwürdigen Impuls, ersetzt ihn oftmals durch ungewohnt formulierte Innovationen, Funktionen, Positionen und Weltsichten. 

Renald Deppe


Königliches Spiel von Ur : Würfelbrettspiel für 2 Spieler (frühes 3. Jahrtausend v. Christus)

Ur, sumerische Stadt in Südmesopotamien, 150 km westlich von Basra, Irak. 

Die Stadt lag einst am Euphrat und besaß zwei Häfen; heute liegt sie unter dem Ruinenhügel Tell Mukajir, der v. a. von L. Woolley 1922–34 ausgegraben wurde. Seit 2016 gehört die Stätte zum UNESCO-Welterbe.

Schon in der Obeidzeit (Tell Obeid) besiedelt, erlebte Ur eine kulturelle Blütezeit unter der 1. Dynastie von Ur (um 2400 v. Chr.). Davon zeugen Schachtgräber des »Königsfriedhofs« mit kostbaren Beigaben, besonders kunstvolle Metall- und Edelsteinarbeiten (Instrumente mit Tierfiguren, Kopf- und Halsschmuck, kultische und Herrschaftsinsignien, z. B. goldener Helm und Goldgefäße) sowie Einlegearbeiten (sogenannte Ur-Standarte) in den Königsgräbern und Gefolgschaftsbestattungen. 

Unter der 3. Dynastie von Ur (um 2112–2004 v. Chr.) erlebte die Stadt einen weiteren kulturellen Aufschwung mit bedeutender Bautätigkeit; es entstand über Vorläuferbauten die Zikkurrat für den Mondgott Nanna, den Stadtgott von Ur, die im 6. Jahrhundert v. Chr. von Nebukadnezar II. und Nabonid erneuert wurde und der besterhaltene Tempelturm Mesopotamiens ist (restauriert). Südlich der Zikkurrat sind Reste weiterer Baukomplexe freigelegt: Tempelhof (mit oberirdischem Gebäude) und -bereich des Nanna und seiner Gemahlin Ningal mit dem Wohnsitz der Priesterinnen (Gipar), Gerichtsbau, Schatzhaus, Palast und Friedhof der 3. Dynastie. 

Aus dem späten 3./frühen 2. Jahrtausend v. Chr. stammen eng besiedelte Wohnviertel. 

Nach 1. Mose 1, 28, 31 war Ur (»Ur in Chaldäa«) die Heimat Abrahams. Der Platz blieb bis in achaimenidische Zeit besiedelt.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Diskos von Phaistos : Seite A : um 1700 vor Chr.
Diskos von Phaistos : Seite B : um 1700 vor. Chr.

 Der legendäre Diskos von Phaistos aus Kreta mit seiner spiralförmigen Inschrift blieb bis heute unentziffert.


Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) : Ölgemälde von Joseph Karl Stieler (1828)

… die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag;

Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig;

Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war.

Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.

Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache meiner Erhaltung gewesen sein: 

denn durch die Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte es man dahin, daß ich das Licht erblickte.

Johann Wolfgang von Goethe : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1808 – 1831)


Tanzende Derwische : Muhammad Tabadkani : Shiraz / Iran (c.1560)
 

Sufi-Bruderschaften, Sufi-Orden, Bezeichnung im persisch- und turksprachigen Raum Derwischorden, islamische religiöse Bruderschaft, die dem Ziel folgt, mystische Gotteserkenntnis und -erfahrung zu erlangen (Sufismus). Nach traditionellem, nicht mehr durchweg befolgtem Brauch leben die Mitglieder ständig oder zumindest zeitweilig gemeinsam unter Leitung eines Ordensmeisters (arabisch Scheich, persisch Pir) in Klöstern, die oft aus frommen Stiftungen (Wakf) unterhalten werden. Sufi-Bruderschaften gibt es im gesamten Islam, unter Sunniten wie unter Schiiten; im sunnitischen Bereich zeigen sie oft schiitische Neigungen. Einige Sufi-Bruderschaften fühlen sich an Kultvorschriften und Alkoholverbot des islamischen Rechts (Scharia) nicht gebunden. Sie haben eigene Trachten und unterscheiden sich u. a. durch die Art ihrer geistlichen Übungen, die das litaneiartige Gebet (Dhikr) mit spezifischen Körperhaltungen und Bewegungen, gelegentlichem Sichzurückziehen in die Einsamkeit mit Fasten und wenig Schlaf, das Musikhören und ekstatische Tänze (so den bekannten Wirbeltanz der türkischen Mewlewije-Bruderschaft) umfassen. Lehre und geistliche Übungsmethoden werden den Novizen durch Initiation vermittelt.

Die Sufi-Bruderschaften sammelten über den Mitgliederkreis hinaus zahlreiche Sympathisanten um sich, denen sie religiöse Unterweisung und oft auch Seelsorge boten. Damit und durch Förderung von Heiligenkulten prägten sie die islamische Volksfrömmigkeit, den sogenannten Volksislam, nachhaltig. Häufig waren sie karitativ tätig (Betreibung von Armenküchen). Ihr sozialer und politischer Einfluss war (und ist zum Teil noch) beträchtlich. Mehrfach wirkten sie staatsbildend, so um 1500 die Safawije-Bruderschaft in Persien (Safawiden) und im 19. Jahrhundert die Bruderschaft der Senussi in Libyen. In der Türkei wurden die Sufi-Bruderschaften 1925 verboten, gewannen aber wieder an Einfluss (Bektaschi). In Ägypten brachte man sie durch staatliche Anerkennung und die gesetzliche Unterstellung unter ein staatliches Gremium zum großen Teil unter Regierungskontrolle.

Entstehungszeit und Verbreitung wichtiger Sufi-Bruderschaften: Qadirija, 12. Jahrhundert, von Indien bis West- und Ostafrika; Rifaija, 12. Jahrhundert, vorwiegend arabisch; die Badawija (früher auch Ahmadija genannt) des Ahmad al-Badawi, 13. Jahrhundert, in Ägypten; Schadhilija, 13. Jahrhundert, ursprünglich Ägypten, Nord- und Ostafrika; Mewlewije, 14. Jahrhundert, vorwiegend türkisch; Naqshbandija, 14. Jahrhundert, Mittelasien, Osmanisches Reich und Nachfolgestaaten; Chalwetije, 15. Jahrhundert, Osmanisches Reich und Nachfolgestaaten, besonders Albanien; Tidjanija, 18. Jahrhundert, Nordafrika.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Malmaterialien : Atelier Giorgio Morandi (1890 – 1964) : Bologna
Malmaterialien : Atelier Francis Bacon (1909 – 1992) : London

Die Gesetze des Materials gelten für alle Maler, gleichviel welcher Richtung sie angehören.

Erst die freie Beherrschung des Materials gibt die feste Grundlage, die eine Steigerung persönlicher Ausdrucksweise erlaubt und die Dauer und Unveränderlichkeit der Bilder gewährleistet.

Das Handwerk muß wieder feste Grundlage der Kunst werden. Anders kommen wir aus dem Chaos nicht heraus.

Dieses Buch soll das gesicherte Wissen auf dem Gebiet der Maltechnik dem Praktiker vermitteln. Es soll keine Anleitung zum Malen sein, denn aus Büchern kann man das Malen ebensowenig lernen, wie auf dem Sofa das Schwimmen. Praxis ist hier alles.

Max Doerner (1870 – 1939) : Malmaterial und seine Verwendung im Bilde : Vorwort zur ersten Auflage : München 1921


Carta marina : Olaus Magnus (1490 – 1557) : Landkarte Nordeuropas : Die Überschrift lautet : 
Seekarte und Beschreibung der nördlichen Lande und der dort vorkommenden wunderlichen Dinge, höchst sorgfältig gezeichnet in Venedig im Jahre 1539 mit großzügiger Unterstützung des Patriarchen von Venedig, des höchst ehrenwerten Herrn Geronimo Querini.

• Magnus, Olaus, schwedischer Kartograf und Geschichtsschreiber, * Linköping Oktober 1490, † Rom 1. 8. 1557.

Seine »Carta marina et descriptio septentrionalium terrarum ac mirabilium rerum« stellt die erste detaillierte Karte von Nordeuropa dar (neun Holzschnittkarten, 1539 in Venedig erschienen, 1572 in Rom in Kupfer gestochen). In seiner »Historia de gentibus septentrionalibus« (Rom 1555; deutsch »Historien der mittnaechtigen Laender …« bietet Magnus eine Geschichte dieses Raumes.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Plinius der Ältere (23 – 79 n. Chr) : Naturalis historia : Handschrift (Kopie) : Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana (15. Jahrhundert).
Eine Seite der „Naturalis historia“ : von Johann von Speyer in Venedig gedruckte Inkunabel (1469).

Plinius der Ältere, Gaius Plinius Secundus, römischer Schriftsteller, * 23 oder 24 n. Chr. in Comum (heute Como), † 79 beim Ausbruch des Vesuvs in Stabiae (heute Castellammare di Stabia). 

Plinius der Ältere lernte als Offizier u. a. Gallien, Germanien, Spanien und Afrika kennen und stand zu Vespasian und Titus in engen Beziehungen. Zuletzt war er Befehlshaber der kaiserlichen Flotte in Misenum.

Plinius der Ältere war ein Vertrauter der Kaiser Vespasian und Titus. Er starb beim Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr.

Plinius‘ kriegswissenschaftliche, biografische, historische, rhetorische und grammatische Schriften sind bis auf geringfügige Reste verloren gegangen. Erhalten ist seine Naturgeschichte (»Naturalis historia«) in 37 Büchern, in der er als Erster in enzyklopädischer Kompilation alle Erscheinungen der Natur dargestellt hat: Kosmologie (Buch 2), Geografie, Ethnografie (3–6), Anthropologie (7), Zoologie (8–11), Botanik (12–19), pflanzliche und tierische Heilmittel (20–32), Mineralogie, Verwendung der Metalle und Steine, besonders in der Kunst (33–37; wichtige Quelle der modernen Archäologie). Das erste Buch enthält Inhalts- und Quellenverzeichnisse der einzelnen Bücher. Das Werk hatte im Altertum und Mittelalter eine starke Nachwirkung. (Brockhaus, Enzyklopädie)


Logo : Fridays for Future : globale soziale (Jugend)Bewegung.

Thunberg, Greta Tintin Eleonora Ernman, schwedische Klimaschutzaktivistin, * 3.1.2003 in Schweden.

Am 20.8.2018 stand die 15-jährige Greta vor dem schwedischen Parlament anstatt zum ersten Schultag zu gehen. Sie demonstrierte und hielt in den Händen ein Schild mit der Aufschrift: »Skolstreijk for klimatet« (deutsch: Schulstreik für das Klima). Die Nachricht über ihre Aktion, die sie bis zur Wahl zum Schwedischen Reichstag am 9.9.2018 täglich wiederholte, verbreitete sich schnell. Sie wollte damit erreichen, dass Schweden den Anforderungen aus dem Pariser Abkommen gerecht wird. Im Dezember 2018 sprach sie auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Kattowitz, Polen. Anschließend wurde sie zu einem Treffen unter anderem mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, J.-C. Juncker, und Papst Franziskus eingeladen. Im September 2019 reiste sie mit einem Segelboot in die USA, um an der UN-Klimakonferenz in New York teilzunehmen und eine Rede zu halten. Während ihres Aufenthalts traf sie den ehemaligen US-Präsidenten B. Obama. 

Am 25.9.2019 wurde bekanntgegeben, dass sie den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) erhält.

Bis heute fehlt Greta immer noch jeden Freitag in der Schule. Sie demonstriert vor dem Reichstag in Stockholm für den Klimaschutz oder ist international aktiv. In anderen Ländern wie Deutschland löste sie damit die Jugendbewegung »Fridays for Future« aus. Seit Herbst 2018 gehen in mehreren Ländern viele tausend Schülerinnen und Schüler jeden Freitag auf die Straße, um für eine bessere Umwelt- und Klimapolitik zu demonstrieren. Dass die Demonstrationen auf einen Schultag fallen, findet nicht nur Befürworter.

Greta Thunberg hat das Asperger-Syndrom, eine spezielle Form von Autismus, mit dem sie offen umgeht. Sie nimmt das Asperger-Syndrom und die damit verbundene entschlossene Haltung zu Sachverhalten nicht nur als Teil von sich an, sondern sieht es als den Hauptantrieb für ihren Protest.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Tagebuchnotizen : Harry Graf Kessler (1868 – 1937)

Berlin, 10 Januar 1920, Sonnabend

Heute ist der Frieden in Paris ratifiziert worden; der Krieg ist zu Ende.

Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vergangenheitsschwüle, die in einer wahrscheinlich noch furchtbareren Explosion als Weltkrieg enden wird. Bei uns sind alle Anzeichen für ein fortgesetztes Anwachsen des Nationalsozialismus.

Paris, 1. April 1933, Sonnabend

Der abscheuliche Judenboykott im Reich.

Dieser verbrecherische Wahnsinn hat alles vernichtet, was in vierzehn Jahren an Vertrauen und Ansehen für Deutschland wiedergewonnen worden war. Ich weiß nicht, ob man mit diesen strohdummen, bösartigen Menschen mehr Ekel oder mehr Mitleid empfindet.

Harry Graf Kessler : Tagebücher (1880 – 1937)

 Keßler, Harry Graf, Schriftsteller und Diplomat, * Paris 23. 5. 1868, † Lyon 30. 11. 1937; studierte 1888–91 in Bonn und Leipzig Kunstgeschichte und Jura; 1895–1900 Mitherausgeber der Zeitschrift »Pan«, 1902–06 Leiter des Weimarer Museums, 1903 Mitbegründer des Deutschen Künstlerbundes, engagiert für Künstler des Impressionismus und des Jugendstils. 

1913 gründete Keßler in Weimar die Cranach-Presse. Zusammen mit H. von Hofmannsthal verfasste er das Libretto zur »Josephslegende« (1914) von R. Strauss. 1916–18 war Keßler Diplomat in der Schweiz, danach als Gesandter in Warschau; 1919–29 im Präsidium der Deutschen Friedensgesellschaft. 1933 Emigration nach Frankreich, lebte abwechselnd dort und auf Mallorca. 

Keßler hat umfangreiche autobiografische Aufzeichnungen hinterlassen (herausgegeben unter dem Titel »Das Tagebuch. 1880–1937«).

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) : Die Welt als Wille und Vorstellung : Erstausgabe (1819)

 Philosophie, hat Egon Friedell einmal sinngemäß gesagt, sei Reichtum an Problemen. Den aufgedeckten Problemen, nicht irgendwelchen Lösungen, verdanke sich ihr Fortleben.

Mit der Philosophie Schopenhauers verhält es sich anders. Sie beansprucht kühn und geradezu grimmig, das Lösungswort auf die Frage aller Fragen gefunden zu haben: Was ist die Welt, was hat es mit dem Sein auf sich? Schopenhauers Antwort ist so kurz wie der Titel seines Hauptwerkes: Die Welt ist unsere »Vorstellung«, und darüber hinaus, ihrer eigentlichen Substanz nach, ist sie »Wille«.

»Vorstellung« ist sie im Medium unseres Bewußtseins.

»Wille« ist sie als innere Erfahrung, als Realität, die wir am eigenen Leibe spüren und von der wir annehmen müssen, daß sie in der gesamten Natur wirkt, der belebten und unbelebten. 

Die Vorstellungen betreffen die Außenseite, der gespürte Wille die Innenseite der Welt. Dieser Wille ist aber auf kein Ziel gerichtet, er will nur sich selbst. Er ist blind und manifestiert sich in der Gestaltenreihe der Natur, nicht friedlich, sondern im Streit, im Fressen und gefressen werden, im Erwachen und Erlöschen. Im Menschen hat dieser Wille sich »ein Licht aufgesteckt«, um die Objekte seiner Begierde besser sehen zu können.

Am dunklen Treiben der Welt hat sich dadurch im Prinzip nichts geändert.

Rüdiger Safranski (*1945) : Schopenhauer (Auszug) : Frankfurt am Main, 2010


Otto Muehl (1935 – 2013) : Lot I (1984)

Es gibt wohl keinen umstritteneren österreichischen Künstler: Sonntagfrüh ist der Aktionist und Maler Otto Muehl im Alter von 87 Jahren „friedlich im Kreis seiner Freunde in Portugal gestorben“, wie das Muehl Archiv bekanntgab. Er war einer der Mitbegründer des Aktionismus und Herr über die Friedrichshof-Kommune. Sechs Jahre lang saß er wegen Unzucht mit Minderjährigen und Drogendelikten in Haft. Während sein Kommunenprojekt gescheitert war, erlangte Muehl in späteren Jahren Anerkennung als Maler.

1991 wurde Muehl wegen Sittlichkeitsdelikten, Unzucht mit Minderjährigen, Vergewaltigung, Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung schuldig gesprochen und zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Sechseinhalb Jahre verbrachte er in Österreich in Haft. Später erhoben ehemalige Mitglieder der von Muehl mitbegründeten Kommune, die damals Kinder waren, weitere Missbrauchsvorwürfe gegen den Künstler. Muehl lebte seit seiner Entlassung gemeinsam mit einigen Künstlerfamilien in der „Art & Life Family“-Kommune in Portugal.

Bis heute entstehen Debatten, wenn das Werk Muehls losgelöst von seinen Verbrechen betrachtet wird. Immer wieder stand bis zuletzt Muehls gesamtes Lebenswerk zur Diskussion, das sich eben nicht auf ein reines Kunstwerk reduzieren lässt.

ORF, Mai 2013 (Auszug)

 In der Presse einiges bemüht Verständnisvolle anläßlich des gestern gemeldeten Tods von Otto Muehl.

Er sollte auf seine älteren Tage im portugiesischen Exil halbwegs verstanden haben, daß er kein Erlöser war, sondern ein Gewaltmensch, der sich zu sehr an seine Privilegien gewöhnt hatte, um auf sie zu verzichten. Folglich habe er, wie man hört, in Portugal dort weitergemacht, wo er in Österreich aufgehört hatte.

Er hatte alle Kunst- und Revolteausreden des 20. Jahrhunderts zusammengerafft, um Widerstände gegen den Auslauf seines meistbeschäftigten Körperteils beiseite zu räumen. An seiner Existenz haftete ein tragischer Zug, da er sich selbst vormachte, ein Maler zu sein, ja sogar einer von Rang, obschon er der erste sein mußte, der an sich und seiner Produktion zweifeln sollte. Sein Geschäftsmodel war das libertäre Arbeitslager. Dort durften kahlgeschorene Freiwillige sich ausleben, solange sich aus ihren sexuellen Überstunden keine Bindungen ergaben. Gebundene Mitglieder der Kommune hätten das Risiko dargestellt, den Dienst am Herrn der Fliegen zu versäumen.

Peter Sloterdijk (*1974) : Neue Zeilen und Tage : Notizen 2001 – 2013


Piktogramme zu Bewegungsabläufen

Nun ist gewiß, daß zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt, als Reichtum, und nichts mehr, als Gesundheit: in den niedrigen, arbeitenden, zumal das Land bestellenden Klassen sind die heitern und zufriedenen Gesichter; in den reichen und vornehmen die verdrießlichen zu Hause. Folglich sollten wir vor allem bestrebt sein, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüte die Heiterkeit sich einstellt. 

Die Mittel hierzu sind bekanntlich Vermeidung aller Exzesse und Ausschweifungen, aller heftigen und unangenehmen Gemütsbewegungen, auch aller zu großen oder zu anhaltenden Geistesanstrengung, täglich wenigstens zwei Stunden rascher Bewegung in freier Luft, viel kaltes Baden und ähnliche diätetische Maßregeln. Ohne tägliche gehörige Bewegung kann man nicht gesund bleiben: alle Lebensprozesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Teile, darin sie vorgehen, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: Das Leben besteht in der Bewegung. 

Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus herrscht unaufhörliche, rasche Bewegung: das Herz, in seiner komplizierten doppelten Systole und Diastole, schlägt heftig und unermüdlich; mit 28 seiner Schläge hat es die gesamte Blutmasse durch den ganzen großen und kleinen Kreislauf hindurch getrieben; die Lunge pumpt ohne Unterlaß wie eine Dampfmaschine; die Gedärme winden sich stets im motus peristalticus; alle Drüsen saugen und secerniren beständig, selbst das Gehirn hat eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag und jedem Atemzug. Wenn nun hierbei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so entsteht ein schreiendes und verderbliches Mißverhältnis zwischen der äußeren Ruhe und dem inneren Tumult. 

Denn sogar will die beständige innere Bewegung durch die äußere etwas unterstützt sein: jenes Mißverhältnis aber wird dem analog, wenn, infolge irgend eines Affekts, es in unserm Innern kocht, wir aber nach außen nichts davon sehen lassen dürfen. Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. Dabei gilt eine Regel, die sich am kürzesten so ausdrücken läßt: Jede Bewegung ist eine um so wirksamere Bewegung, je schneller sie ist. Wie sehr unser Glück von der Heiterkeit der Stimmung und diese vom Gesundheitszustände abhängt, lehrt die Vergleichung des Eindrucks, den die nämlichen äußeren Verhältnisse, oder Vorfälle, am gesunden und rüstigen Tage auf uns machen, mit dem, welchen sie hervorbringen, wann Kränklichkeit uns verdrießlich und ängstlich gestimmt hat. Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unserer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets: Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über die Dinge erregen die Menschen. Überhaupt aber beruhen 9/10 unseres Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemütes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert.

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) : Aphorismen zur Lebensweisheit : II) Von dem, was einer ist (1851)


Judenstern (Zwangskennzeichen)
Gedenktafel (Berlin)

Judenkennzeichen, staatlich verordnete Maßnahme zur Unterscheidung der jüdischen von der übrigen Bevölkerung.

»Judenstern«. Einen solchen sechszackigen, gelben Stern mussten Jüdinnen und Juden ab 1941 gut sichtbar an der Kleidung tragen. Der Stern wurde zu einem der bekanntesten Symbole für die Judenverfolgung im Nationalsozialismus.

Judenkennzeichen sind erstmals aus der Zeit des Kalifen Omar II. (717–720) bekannt, in der eine unterschiedliche Farbkennzeichnung für die Kleidung religiöser Minderheiten festgelegt wurde (z. B. Blau für Christen, Gelb für Juden). Teilweise kam diese Kennzeichnung dem Bestreben der jeweiligen Gruppen nach Absonderung entgegen, seit dem 4. Laterankonzil (1215), das die Judenkennzeichen als Zwangsmaßnahme festschrieb, dienten sie jedoch v. a. der Diskriminierung. Sie wurden 1218 in England und Spanien, 1219 in Frankreich und 1350 in Italien eingeführt und bestanden u. a. aus bestimmten Abzeichen (gelber beziehungsweise roter Fleck, Stern oder Ring) an der Kleidung oder auch aus Kleidungsstücken (u. a. der Judenhut). Erst unter dem Einfluss der Aufklärung wurden sie im 18. Jahrhundert beseitigt.

Das nationalsozialistische Regime führte die Judenkennzeichen als Mittel sozialer Stigmatisierung und Deklassierung im Rahmen der systematischen Judenverfolgung (Shoah (Holocaust)) 1938 in Deutschland wieder ein. Dazu gehörten u. a. eine besondere Kennkarte für Juden, die Verpflichtung zur Führung des zusätzlichen Zwangsvornamens Sarah oder Israel, die Kennzeichnung der Autos, Pässe (Überstempeln mit dem Buchstaben »J« in roter Farbe) sowie Geschäfte der jüdischen Bürger und der gelbe Judenstern (»Davidstern«), der seit 1939 in den deutschen Ostgebieten, seit 1941 in Deutschland und seit 1942 in den eroberten Gebieten (mit der Aufschrift »Jude«) zu tragen war.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Neue Verordnungen in judaeos.

Der Würger wird immer enger gezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. 

Ich stelle die Verordnungen zusammen:

1) Nach 9 oder 8 Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle!
2) Aus dem eigenen Haus vertrieben.
3) Radioverbot, Telefonverbot.
4) Theater-, Kino-, Konzert- Museumsverbot.
5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen.
6) Verbot zu fahren
7) Verbot, „Mangelware“ zu kaufen.
8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe.
9) Verbot, Blumen zu kaufen.
10) Entziehung der Milchkarte.
11) Verbot zum Babier zu gehen.
12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde möglich.
13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen,
14) von Pelzen und Wolldecken,
15) von Fahrrädern- zur Arbeit darf geradelt werden. (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten),
16) von Liegestühlen,
17) von Hunden, Katzen, Vögeln.
18) Verbot die Bannmeile Dresdens zu verlassen,
19) den Bahnhof zu betreten,
20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten,
21) die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens zu benutzen. 
      Diese letzte Verschärfung seit gestern erst.
    Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten.
22) Seit dem 19. September der Judenstern.
23) Verbot, Vorräte an Eßwaren im Hause zu haben (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist).
24) Verbot der Leihbibliotheken.
25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen.
26) Keine Kleiderkarte.
27) Keine Fischkarte.
28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch.
29) Die Sondersteuern.
30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark.
31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei- bis vier, Sonnabend zwölf- eins).

Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes. –

Viktor Klemperer (1881 – 1960) : Tagebuch (Dresden, 1942)


Persönliche Geheimschrift im geheimen Tagebuch des Samuel Pepys (1860)

Pepys, Samuel, englischer Schriftsteller, * London 23. 2. 1633, † Clapham (heute zu London) 26. 5. 1703; hoher Verwaltungsbeamter u. a. in der Admiralität; sein Hauptwerk, ein zum Teil in eigener Geheimschrift geschriebenes, nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Tagebuch der Jahre 1660–69, das erst 1825 entziffert wurde, hat als schonungslos offene, lebendig geschriebene Autobiografie sowie als Zeitbild, das vielfältige Einblicke in privates, höfisches und politisches Leben, Literatur, Musik, Theater, Festlichkeiten und Zeitereignisse gewährt, hohen kulturhistorischen und literarischen Wert.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


 Ärgerlich über meine Frau, die sich den Urin von jungen Hunden ins Gesicht geschmiert hat – wie Tante Wight, die damit etwas gegen ihr häßliches Gesicht tun will.

 Mr. Powy erzählt mir, daß der König die meiste Zeit damit verbringt, seine verschiedenen Damen nackt am ganzen Körper im Bett  zu küssen; er tut nur das, wozu er gerade Lust hat, und wird seine Geilheit wohl nie loswerden.

 Der König sprach sich u.a. sehr verächtlich über die merkürdigen Bräuche am spanischen Hof aus; der König von Spanien pißt nur, wenn ein anderer ihm den Nachttopf hält.

 Amüsierte mich in der Kirche mit meinem Fernglas, durch das ich das große Vergnügen hatte, eine große Zahl attraktiver Frauen zu beobachten. Mit dieser Beschäftigung und einem kurzen Nickerchen überstand ich den Gottesdienst leidlich.

 Zog meinen neuen farbigen Seidenanzug an und meine neue Perücke. Was wohl für eine neue Mode in Perücken kommt, wenn die Pest vorüber ist? Jetzt wagt niemand, Haar zu kaufen, aus Angst, es könnte von einer Pestleiche stammen.

 Nach Charing Cross, um nachzuschauen, wie Major Harrison gehängt, ausgedärmt und gevierteilt wurde. Er sah sehr vergnügt dabei aus. Anschließend in den Gasthof zur „Sonne“, wo ich Austern spendierte.

 Die meisten Männer, die es in der Welt zu etwas bringen, vergessen das Vergnügen während der Zeit, in der sie ihr Vermögen machen. Sie warten, bis sie es geschafft haben, und dann ist es zu spät, sich daran zu erfreuen. 

Samuel Pepys : Die Tagebücher (1660–1669)


Wasserzeichen der Klosterpapiermühle Thierhaupten mit Wappen des Abtes (Brief vom 11. Juli 1703).
Wasserzeichen : 5 € Banknote (2013) : 
Im Wasserzeichen ist im Gegenlicht ein Porträt der mythologischen Gestalt Europa zu sehen.

Wasserzeichen, durch unterschiedliche Papierdicke im Papier hervorgerufene Zeichnung, z. B. zur Sicherung gegen Fälschungen bei Banknoten, Aktien, Urkunden oder als Kennzeichen für die Herkunft des Papiers. Echte Wasserzeichen (Égoutteur-Wasserzeichen) entstehen durch Anreicherung (Schattenwasserzeichen) oder Verdrängung (Lichtwasserzeichen) der Fasermasse, z. B. durch einen auf der Siebpartie oder Papiermaschine mitlaufenden Égoutteur mit Drahtfiguren. Das halbechte Molette-Wasserzeichen wird mit Gummiprägewalzen hinter der Nasspressenpartie in die noch feuchte Papierbahn gedrückt. Unechte Wasserzeichen werden durch Prägung des nachgefeuchteten fertigen Papiers oder durch Aufdruck eines papierähnlichen Farbtons erzeugt.  Wasserzeichen wurden 1282 bei der Herstellung von handgeschöpftem Papier in Italien erfunden.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

Ob es sein könnte, daß Postulate wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit usw. nur Nebenprodukte der Freiheit des Papierhandels waren? Papier ist das meistunterschätzte Produkt der Neuzeit, subversiver als Pulver und Kanonen.

Peter Sloterdijk (1947) : Neue Zeilen und Tage (Notizen 2011 – 2013)


Terrakottarelief : Eros und ein Silen umarmen einander (Imperium Romanum, frühes 1. Jahrhundert).
BRISANT (2022) :  Das Erste (ARD) : Erkennen & Helfen : »Es ist einfach sehr wichtig, dass Erwachsene das gesprochene Wort ernst nehmen und eine Atmosphäre schaffen, in der Kinder sich anvertrauen können«.

 Ich bin gegen jegliche Form der Zensur. Aus offensichtlich politischen, aber auch aus praktischen Gründen. der Zensor hat letztlich keine Autorität. 

Betrachten Sie zum Beispiel jene Form der Pädophilie im Kino, im Fernsehen, in der Literatur und den Comics, die zurzeit wütet. Für mich ist jemand, der sich an Kindern vergreift, verdammt. Verdammt im vollen theologischen, menschlichen, moralischen, positivistischen, wissenschaftlichen Sinne. In diesem Falle ging ich vielleicht das schwerwiegende Risiko einer Zensur ein.

Aber es würde nicht funktionieren, sondern nur von absoluter Dummheit zeugen: Sie zensieren eine Sache und daraufhin zirkulieren 10 Millionen Exemplare im Verborgenen. Der pornographische Samisdat ist seit Adam & Eva Teil unserer Geschichte. Doch würde ich zumindest versuchen, diese entsetzliche Welle an Grausamkeiten, die sich über die Jugend ergießt, einzudämmen. Eine unvorstellbare Sintflut.

George Steiner (1929 – 2020) : Ein langer Samstag : Ein Gespräch mit Laure Adler (2014)

 Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied: 
hören und zuhören haben grundsätzlich verschiedene Aufmerksamskeitspotentiale.
Wer hört muss nicht unbedingt (nachher) zuhören können.
Wer zuhört muss jedoch unbedingt (vorher) hören können.
Hören als nicht zuordnende Sinneswahrnehmung.
Zuhören als bewußt reflektierende Wahrnehmung.
Letzteres bedarf viel Übung, Zeit, Energie, Mut, Aufmerksamkeit, Toleranz, Geduld und Empathie.
Es wäre ratsam und klug, wenn wir unsere Kinder nicht nur hören, sondern auch ihnen zuhören.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn wir Kinder haben… : Verortung & Perspektive (2023).


Hollywood :  Umsatz an den Kinokassen weltweit (2019) : 42 Mrd. Dollar
Metro-Goldwyn-Mayer Inc. : Filmstudio/Filmfinanzierung in Hollywood : Umsatz (2013) : 1,53 Mrd. Dollar

 Hollywood, nordwestlicher Stadtteil von Los Angeles, Kalifornien, USA; berühmt als Zentrum der US-amerikanischen Filmindustrie.

Wahrzeichen ist der Hollywood-Schriftzug an den Hängen der Hollywood Hills. Hauptattraktion ist der Walk of Fame, ein Gehweg mit eingelassenen Sternen, die je einem Prominenten aus der Unterhaltungsindustrie gewidmet sind. Bekannt ist auch das Grauman’s Chinese Theatre, heute TCL Chinese Theatre, ein Kino mit den Hand- und Schuhabdrücken zahlreicher Filmstars vor dem Eingangsbereich.

Seit den 1910er-Jahren ist Hollywood das Zentrum der amerikanischen Filmindustrie. Es entstanden zahlreiche Filmgesellschaften mit – von Anfang an für Besucher offenen – Filmstudios (Produktion), Filmverleihfirmen (Distribution) und häufig auch Kinoketten (Präsentation), was der amerikanischen Filmwirtschaft seit Ende des Ersten Weltkriegs zu einer führenden Position auf dem Weltmarkt verhalf. Die fünf großen (Twentieth Century Fox, Metro-Goldwyn-Mayer, Paramount, RKO, Warner Bros.) und drei kleineren (Columbia, Universal, United Artists) Studios hatten zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren eine enorme Macht. Typische Hollywoodfilme (Musicals, Western und Komödien, Kriminal- und Gangsterfilme, Fantasyfilme, Horrorfilme und Sittendramen) waren gekennzeichnet durch absolute Professionalität, klassische dramatische Erzähltechniken mit Happy End, kunstvolle Fotografie und kaum merkliche Schnitte, perfekte Inszenierung, hohes Tempo und vor allem die Überhöhung der Filmstars (Starkult).

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied: 
sehen und hinsehen haben grundsätzlich verschiedene Verarbeitungspotentiale.
Wer sieht muss nicht unbedingt (nachher) auch hinsehen können.
Wer hinsieht muss jedoch unbedingt (vorher) sehen können.
Sehen als nicht reflektiv verarbeitete Sinnes- & Konsumwahrnehmung.
Hinsehen als bewußt wahrgenommener Erkenntnis- & Handlungsprozeß.
Letzteres bedarf stets Mut, Überwindung, Kraft, Diskurs, Engagement, Aufmerksamkeit, Toleranz, Geduld und Empathie.
Erst das HINSEHEN erlaubt wohlverantwortete Entscheidungen zum Ein-, Ab-, An-, Zu-, Um-, Herab- und Nachsehen.
Es wäre ratsam weil zukunftsentscheidend, wenn wir unsere Mit- & Umwelt nicht nur sehen, sondern auch hinsehend erleben.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn wir rostig sind… : Verortung & Perspektive (2023).


François Chauveau (1613 – 1667) :Die Entführung der Europa (1650) : Radierung
Europa und der Stier : Fresko aus Pompeji (1. Jahrhundert)

 Europa, griechische Mythologie: Tochter des Phönix oder des Königs Agenor von Phönikien, Schwester des Kadmos, ursprünglich wohl eine vorgriechische Erdgöttin. 

Zeus nahm ihretwegen die Gestalt eines Stieres an, verlockte sie am Strand, seinen Rücken zu besteigen und entführte sie nach Kreta. Aus ihrer Verbindung mit Zeus gingen Minos, Rhadamanthys und nach einem Teil der Überlieferung Sarpedon hervor. Im Altertum verband man den Namen des Erdteils mit der Europa des Mythos. 

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Europa hat kein Modell mehr anzubieten, selbst seinen jungen Menschen nicht. Die Jugend hat die Nase voll von einer Zivilisation, die der Barbarei nicht hat widerstehen können, ihr sogar mehr als einmal von Nutzen war. Wir haben erlebt, in welchem Maße die intellektuellen, künstlerischen, philosophischen Eliten Europas auf Seiten der Barbarei standen. Walter Benjamin, der große Kritiker, sagte, dass jedes große europäische Kulturmonument in Wirklichkeit auf einem Fundament der Unmenschlichkeit, der Barbarei steht.

Geht man in einer europäischen Stadt spazieren, stößt man überall auf Tafeln, die an Ereignisse aus früheren Jahrhunderten erinnern: das Gewicht der Vergangenheit ist in Europa enorm. Umgekehrt hat die Zukunft kaum Gewicht, und das ist problematisch.

George Steiner (1929 – 2020) : Ein langer Samstag : Ein Gespräch mit Laure Adler (2014)

 Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied: 

Erleben und Erkenntnis haben grundsätzlich verschiedene Verantwortungspotentiale.
Das Erleben eines Geschehens muss nicht unbedingt eine entsprechende Erkenntnis zeitigen.
Die Erkenntnis über ein spezifisches Geschehen setzt (wenn möglich) das Erleben desselben voraus.
(Das Erleben all der Gräuel im 1. Weltkrieg hat bei vielen Menschen nicht zur Erkenntnis der Vergeblichkeit jedweder kriegerischen Gewaltausübung geführt: die Barbarei des 2. Weltkriegs wollte/konnte/musste nicht vermieden werden.)
Erleben als gegenwartsbezogenes Überleben: die Bewältigung komplexer Sinnes-, Seelen- & Geistesprozesse.
Erkenntnis als zukunftsorientiertes Überleben: Erlebnisqualitäten als bewußt verarbeitete Lern-, Verhaltens- &
Handlungskorrektiven.
Letztere bedürfen stets Mut, Umsetzungswillen, Kraft, Diskurs, Engagement, Beharrlichkeit, Toleranz, Geduld und Empathie.
Erst die ERKENNTNIS aus dem Erlebten erlaubt eine langfristig verantwortete Position zur Welt-, Selbst- & Fremderhaltung.
(Die Kenntnis historischer Fakten schafft eine gewisse Sicherheit: Man muss/sollte keinen Krieg erlebt haben, um über ihn urteilen zu können/dürfen. Doch sind die theoretischen Bildungs-Erkenntnisse aus geschichtlichen Verläufen oftmals fragil, gefärbt, gefiltert, bereinigt und von kurzer Dauer. Und: in den meisten Fällen kaum Widerstandstauglich. Aus der Geschichte zu lernen ist schwer & herzfern. Aber stets angemahnt & ratsam.)
Es wäre daher legitim weil zukunftsentscheidend, wenn wir die Mit- & Umwelt nicht nur (passiv) erleben, sondern jene Erkenntnisse aus unseren Erfahrungen (aktiv) in die Gestaltung von Welt & Dasein integrieren. 
Leben & Erleben (wollen) bilden hierfür die unbedingten Voraussetzungen.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn wir WIR sein wollen… : Verortung & Perspektive (2023).


Ezra Pound (1885 – 1972) : Neapel, 1958
Ezra Pound

Pound, Ezra Loomis, amerikanischer Schriftsteller, * Hailey (Idaho) 30. 10. 1885, † Venedig 1. 11. 1972; studierte in Philadelphia (Pennsylvania) romanische Sprachen; lebte ab 1909 in Europa, bis 1920 in London, 1920–24 in Paris, 1924–45 in Rapallo; sympathisierte mit dem italienischen Faschismus und wurde wegen antiamerikanischer Propagandareden, die er während des Zweiten Weltkriegs über Radio Rom gehalten hatte, 1945 in Pisa in einem amerikanischen Militärlager interniert. Die Anklage wegen Hochverrats führte nicht zur Verurteilung, sondern zur Einweisung in die Nervenheilanstalt St. Elizabeth’s Hospital in Washington (District of Columbia). Nach der Entlassung 1958 lebte er wieder in Italien.

Pound gilt als einer der führenden Vertreter der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und als einer der wichtigsten Lyriker und Anreger der literarischen Moderne.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Sein Hauptwerk „The Cantos“ ist ein Höhepunkt der modernen Dichtung, doch Ezra Pound hielt zugleich antisemitische und rassistische Schmähreden in Mussolinis Italien, distanzierte sich nie vom Faschismus. 

Deutschlandfunk (Auszug, 2022)

 Pounds Schlüsselfigur ist der «Wucherer», der negative Phänotyp der Moderne, dem er schnell antisemitische Züge gibt. 
Nie wird er dabei mehr werden als ein rabiater politscher Wirrkopf, aber sein Leitmotiv treibt die Dichtung voran. 
Pound ist Freigeist und Reaktionär, ästhetisch radikal und zugleich voller Ressentiment.

SRF (Auszug, 2013)

 Vor dem Gerichtshof der Geschichte kann man niemals genau sagen, wer verurteilt werden wird. 
Oft ist es der Staatsanwalt.

Ezra Pound

 Das Genie kennt keine Demokratie, nur furchtbare Ungerechtigkeit und lebensbedrohende Last. Es gibt jene wenigen, wie Hölderlin sagte, die gezwungen sind, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.

Dieses Ungleichgewicht und seine Folgen, daß Mißverhältnis zwischen großem Denken, großer Schöpfungskraft und den Idealen sozialer Gerechtigkeit, bildet eine Quelle der Melancholie.

George Steiner (1929 – 2020) : Warum Denken traurig macht (2005)


Robert François Damiens (1715-1757) vor seinen Richtern im Châtelet am 2. März 1757 : Gravur (Französische Schule)

So mußte Robert François Damiens sterben, weil er einen König (Ludwig XV.) mit einem Federmesser geritzt hatte, am 28. März 1757!

In der Nachwelt hat sich Niemand gefunden, der Damiens vertheidigt hätte; aber auch kaum Einer, der für Ludwig XV. das Wort geführt. König und Königsmörder auf eine Sündenwage gethan, wer wog schwerer?

Wie das Urtheil und seine Vollstreckung auf die Nation nachgewirkt, davon spricht die Geschichte.

Alexis/Hitzig : Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit (1844) : Projekt Gutenberg

 Um Damiens zerreissen zu können, spannte man für seine Schenkel zusätzlich zwei Karrenpferde an, zog, trieb alle 6 Pferde auf einmal. Das verdoppelte nur sein Brüllen, das  – denn so stark war dieser Mann – nicht leiser werden wollte. Die Henker, die sich auch nicht mehr zu helfen wußten, gingen im Rathaus nachfragen. Man beschied ihnen, daß er gevierteilt werden müsse. Man begann wieder mit dem stoßweisen Zerren der Pferde.

Die Schreie verstummten nicht, aber die Pferde begannen vom Stampfen auf der Stelle müde zu werden. Daraufhin erlaubten die Richter, daß man ihn in Stücke haue; ein Henker hieb in den Schenkel und ließ zugleich die Pferde ziehen. Damiens hob noch den Kopf, um zu sehen, was man mit ihm mache, und er, der Gotteslästerer, stieß keine Flüche aus, sondern wendete seinen Kopf immer wieder zum Kruzifix und küsste es.

Die Beichtväter redeten auf ih ein. Schließlich, nach anderthalb Stunden dieser durch ihre Dauer bespiellosen Qualen riß zuerst der linke Schenkel ab. Das Volk klatschte Beifall. Bis dahin schien es mir gleichmütig neugierig gewesen zu sein. Dann riß, durch das hineinhacken, der andere Schenkel ab. Dann hieb man in eine Schulter, die schließlich abgetrennt wurde. Das Schreien verstummte nicht, war aber viel schwächer geworden. Der Kopf bewegte sich noch.

»Nie war es herrlicher zu leben« : Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ (1718 – 1784)


Straßenschild : Susan Sontag – Platz in Sarajevo
(Susan Sontag : Amerikanische Schriftstellerin, Essayistin, Publizistin und Regisseurin)

Körpertyp (Selbstbeschreibung)
 Groß
 Niedriger Blutdruck
 Brauche viel Schlaf
 Plötzliche Gelüste nach purem Zucker (mag jedoch keine Desserts – Konzentration nicht hoch genug)
 Vertrage keinen Alkohol
 Rauche viel
 Neigung zur Anämie
 Starke Proteingelüste
 Asthma
 Migräne
 Sehr robuster Magen und gute Verdauung – kein Sodbrennen, keine Verstopfung etc.
 Vernachlässigbare Menstruationsschmerzen
 Stehen ermüdet mich schnell
 Mag die Höhe
 Sehe gern missgebildete Menschen (voyeuristisch)
 Kaue Nägel
 Knirsche mit den Zähnen
 Kurzsichtig, Astigmatismus
 Frileuse (sehr kälteempfindlich, mag heiße Sommer)
 Nicht sehr lärmempfindlich (stark selektive akustische Wahrhehmung)

Susan Sonntag (1933 – 2004) : Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke : Tagebücher (1964 – 1980)


Francis Picabia (1879 – 1953) : Maler, Schriftsteller : Prostitution universelle : Tusche, Tempera, Metallische Farbe (1917)

Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.

Francis Picabia : Aphorismen : Edition Nautilus (1995)

 Kontrapunkt.

Unser Denken ist wechselfreudig, damit der Kopf die Richtung umrunden kann.
Unsere Richtung ist wechsellaunig, damit der Kopf das Runde bedenken kann.
Unser Rundes ist wechselwillig, damit der Kopf das Denken einrichten kann.
Unser Denken ist ist wechselbunt, damit die Richtung den Kopf umrunden kann.

Unsere Prostitution ist universell, damit kein Denken die Richtung wechseln kann.
Unsere Prostitution ist universell, damit keine Richtung das Denken wechseln kann.
Unsere Prostitution ist keine Richtung, damit der Kopf das Denken wechseln kann.
Unsere Prostitution. Unser Denken. Unsere Universalität. Unsere Wechsel. Unsere Köpfe. Unrund. Abgerichtet.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich wütig bin… (Verortung & Perspektive, 2023)


Hadith
Arab.: „Bericht, Gespräch, Mitteilung“ (Plural: ahadith)

 Hadith, Islam: die Mohammed zugeschriebenen Aussprüche. Die Sunniten betonen den Hadith als Bericht von dem, was Mohammed oder Mitglieder der frühen islamischen Gemeinde gesagt oder getan haben; die Schiiten heben daneben noch die besondere Bedeutung der Imame hervor. 

Der Hadith ist nach dem Koran die zweite autoritative Quelle religiöser Vorschriften im Islam. Er enthält die frühislamische Tradition (Sunna) und besitzt für die Muslime neben der normsetzenden auch Bedeutung im Blick auf ihre Belehrung und Erbauung. Eine Sonderrolle nimmt der Hadith qudsi (»der heilige Hadith«) ein, der außerkoranische Worte Allahs enthält.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Talha Ibn ʿUbaidu-llah berichtete: „Ein Wüstenaraber kam mit ungekämmten Haaren zum Gesandten Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, und sagte: „O Gesandter Allahs, sag mir, was Allah mir an Gebeten zur Pflicht gemacht hat!“ 
Der Prophet sagte: „Es sind die fünf Gebete, es sei denn, du verrichtest darüber hinaus freiwillige Gebete!“ 
Der Mann sagte: „Sag mir, was Allah mir an Fasten zur Pflicht gemacht hat!“ 
Der Prophet sagte: „Das Fasten im Monat Ramadan, es sei denn, dass du außerdem freiwillig fastest!“ 
Der Mann fragte ferner: „Sag mir, was Allah mir an Zakah (Zuckerfest zum Fastenbrechen) zur Pflicht gemacht hat!“ 
Der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, erklärte ihm dann die Bestimmungen des Islam, und der Mann entgegnete: „Ich schwöre bei Dem, Der dich mit der Wahrheit ausgezeichnet hat, dass ich keine freiwilligen Leistungen machen werde, und meine Verpflichtungen gegenüber Allah werde ich nicht um etwas verringern.“ 
Der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: „Er ist erfolgreich, wenn er das wahr macht.“ 
Oder er sagte: „Er geht ins Paradies ein, wenn er das wahr macht.“

Hadith : Sahih al-Buchari : Kapitel 28/Hadithnr. 1891

 »Anekdote« Geht auf das griechische Wort anekdoton zurück, das Nicht-Herausgegebene. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, neben den »Werken« (erga) gebe es die »un-edierten« Spuren vom Dasein der Autoren. Die seien für die Erfassung des Wesentlichen von Werk und Leben gelegentlich nicht ohne Bedeutung. Die Rede ist von kleinen Zusätzen zur Wahrheit, die irgendwann ans Licht kommen, um das Hauptwerk mit einem Kranz an Nebenlichtern zu erhellen.

Das für die Griechen typische Gefälle zwischen dem ergon und dem anekdoton wiederholt sich meist unbemerkt, doch auf dramatische Weise im Islam. Sie wird durch die Spaltung zwischen dem Koran und der bunten Anekdotik der Hadithe zum Ausdruck gebracht.

Ohne diese Doppelung des Genres wäre der Brückenschlag zwischen der unerbittlichen Starre der koranischen Doktrin und den lebensklugen Erzählwelten der muslimischen Episodik nicht möglich gewesen.Peter Sloterdijk (1947) : Notizen 2011 – 2013


Oscar Wilde (1854 – 1900)und Lord Alfred Douglas (1870 1945) : Mai 1893
Wochenausgabe : Prozess gegen Oscar Wilde in »The Illustrated Police News« vom 4. Mai 1895.

Oscar Wilde,  irischer Schriftsteller englischer Sprache, * 16.10.1854 in Dublin, † 30.11.1900 in Paris.

Er gehört zu den umstrittensten Dichterpersönlichkeiten der frühen Moderne. Durch seinen scharfsinnigen Stil und seinen als unmoralisch angesehenen Lebenswandel polarisierte er die Leserschaft; studierte in Dublin und Oxford, ab 1879 in London, wo er, auch aufgrund seiner extravaganten Lebensführung als snobistisch-maliziöser Dandy, Eingang in die Gesellschaft fand. Nach literarischen Erfolgen unternahm er Vortragsreisen durch Amerika und England. 

1895 wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, ging er 1897 nach Paris und starb dort in ärmlichen Verhältnissen; kurz vor seinem Tod konvertierte er zum Katholizismus.

• Alfred Douglas, englischer Schriftsteller, * Ham Hill (bei Rochester) 22. 10. 1870, † Hove (County East Sussex) 20. 3. 1945.

Freund und »grande passion« O. Wildes. An Douglas ist Wildes autobiografischer Brief aus dem Gefängnis »De profundis« gerichtet, der Lebensbilanz und Abrechnung mit dem Geliebten war. Nach Wildes Tod schilderte Douglas diese Freundschaft, die Wilde ins Gefängnis gebracht hatte, in »Oscar Wilde and myself« (1914; deutsch »Freundschaft mit Oscar Wilde«) und »Oscar Wilde. A summing up« (1940).

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Ich muß mir sagen, daß weder Du noch Dein Vater, und wenn man Euch mit tausend multiplizierte, einen Menschen wie mich hätten zugrunde richten können; daß ich mich selbst zugrunde gerichtet habe; daß niemand, ob hoch oder niedrig, zugrunde gerichtet werden kann außer von seiner eignen Hand. 
Ich bin gern bereit, das zu sagen. 
Ich versuche, es zu sagen, mag man es mir auch gegenwärtig nicht zutraun. Habe ich eine unbarmherzige Klage erhoben, so bedenke: dies ist eine Klage, die ich ohn‘ Erbarmen gegen mich selbst erhebe. So Schreckliches mir auch die Welt angetan hat: ich habe weit Schrecklicheres an mir selbst getan. 
Ich war ein Repräsentant der Kunst und Kultur meines Zeitalters. 
Ich hatte dies selbst schon an der Schwelle meines Mannesalters erkannt und meine Zeitgenossen später zur Anerkennung gezwungen. Wenige Menschen nehmen eine solche Stellung bei Lebzeiten ein, und wenigen wird sie so bestätigt. Gewöhnlich, wenn überhaupt, wird sie erst vom Historiker oder Kritiker bestimmt, lange nachdem der Mann wie sein Zeitalter dahingegangen sind. Bei mir war es anders. 
Ich habe sie selbst empfunden und andre empfinden lassen. Auch Byron war ein Repräsentant, aber er spiegelte die Leidenschaft seiner Zeit und ihren Leidenschaftsüberdruß. 
Ich vertrat etwas Edleres, Bleibenderes, etwas von vitalerer Bedeutung, von weiterem Umkreis. Die Götter hatten mir fast alles verliehen. 
Ich besaß Genie, einen erlauchten Namen, eine hohe soziale Stellung, Ruhm, Glanz, intellektuellen Wagemut; ich habe die Kunst zu einer Philosophie, die Philosophie zu einer Kunst gemacht; ich habe die Menschen anders denken gelehrt und den Dingen andre Farben gegeben; alles, was ich sagte oder tat, setzte die Leute in Erstaunen. 
Ich nahm das Drama, die objektivste Form, die die Kunst kennt, und machte es zu einem so persönlichen Ausdrucksmittel, wie das lyrische Gedicht oder das Sonett; zugleich erweiterte ich seinen Bezirk und bereicherte es in der Charakteristik. Drama, Roman, Gedicht in Prosa, Versgedicht, den geistreichen oder den phantastischen Dialog – alles, was ich berührte, hüllte ich in ein neues Gewand der Schönheit; der Wahrheit selbst gab ich das Falsche ebenso wie das Wahre als ihr rechtmäßiges Reich und zeigte, daß das Falsche und das Wahre lediglich intellektuelle Daseinsformen sind. Die Kunst behandelte ich als die oberste Wirklichkeit, das Leben nur als einen Zweig der Dichtung. 
Ich erweckte die Phantasie meines Jahrhunderts, so daß es rings um mich Mythen und Legenden erschuf. Alle philosophischen Systeme faßte ich in einen Satz, das ganze Dasein in ein Epigramm zusammen. Daneben hatte ich noch andres. Aber ich ließ mich in lange Perioden eines sinnlosen, sinnlichen Wohlbehagens locken.
Ich belustigte mich damit, ein Flaneur, ein Dandy, ein Modeheld zu sein. 
Ich umgab mich mit den kleineren Naturen und den geringeren Geistern. 
Ich ward zum Verschwender meines eignen Genies und fand absonderliches Wohlgefallen daran, eine ewige Jugend zu vergeuden. Müde, auf den Höhen zu wandeln, stieg ich aus freien Stücken in die Tiefen und fahndete nach neuen Reizen. Was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens war, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft. Die Begierde war schließlich eine Krankheit oder Wahnsinn oder beides. 
Ich kümmerte mich nicht mehr um das Leben andrer. 
Ich vergnügte mich, wo es mir beliebte, und schritt Weiter. 
Ich vergaß, daß jede kleine Handlung des Alltags den Charakter prägt oder zerstört, und daß man deshalb das, was man im geheimen Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen muß. 
Ich verlor die Herrschaft: über mich. 
Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wußte es nicht. Ich ließ mich vom Vergnügen knechten. Ich endete in greulicher Schande. Jetzt bleibt mir nur eins: völlige Demut.
Ich habe fast zwei Jahre im Kerker gelegen. Wilde Verzweiflung ist bei mir zum Ausbruch gekommen; ein Wühlen im Jammer, dessen Anblick schon Mitleid erregte; schreckliche, ohnmächtige Wut; Bitterkeit und Verachtung; Seelenpein, die laut weinte; Elend, das keine Stimme finden konnte; Schmerz, der stumm blieb. Alle erdenklichen Leidensmöglichkeiten habe ich durchgemacht.

Oscar Wilde : De profundis (Auszug) : Offener Brief an Lord Alfred Douglas. 

(Wegen des strikten Verbotes von Briefzusendungen 1897 nach seiner Entlassung aus den Zuchthäusern von Pentonville, Wandsworth und Reading abgesandt und 1905 posthum beim S. Fischer Verlag / Berlin erstmals publiziert.)


Kryptex (Schlosssystem)
Enigma : Verschlüsselungsmaschine (Baujahr 1940)

Zwischen Wahrheit, Fiktion und Verschwörungstheorie

Kryptex im SpionagemuseumDas Kryptex genannte Gerät erzählt eine etwas andere Geschichte als die Sammlung des Deutschen Spionagemuseums insgesamt. Denn das gut gesicherte Geheimversteck ist eine reine Erfindung und vor allem durch den Roman The Da Vinci Code (dt.: Sakrileg) aus dem Jahr 2003 und die gleichnamige Verfilmung bekannt. Dan Brown dachte sich das Gerät explizit für seinen Roman aus und verknüpft es geschickt mit dem Rätsel um den Heiligen Gral. Während das mysteriöse Objekt im Buch Leonardo da Vinci zugeschrieben wird, gibt es in Wahrheit jedoch andere Vorbilder, die den Autor möglichweise zu seiner Idee inspirierten. Die Idee von Dan Brown wurde 2004 durch den Kunsthandwerker Justin Kirk Nevins umgesetzt, der den ersten realen Kryptex schuf.

(Deutsches Spionagemuseum)

 Enigma [von griechisch aínigma »Rätsel«] die, Name einer Verschlüsselungsmaschine, die das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg zur Chiffrierung geheimer Nachrichten nutzte. 

Mit der Enigma wurde während des Zweiten Weltkriegs der größte Teil der Funksprüche der deutschen Wehrmacht und Marine vor dem Absenden verschlüsselt und nach dem Empfang wieder entschlüsselt. Die mit der Enigma chiffrierten Funksprüche wurden während des Krieges (mit Unterbrechungen) in der britischen Chiffrierstelle in Bletchley Park (»Government Code and Cypher School« nordwestlich von London) trotz immer neuer technischer Raffinessen dechiffriert, sodass die Alliierten diesen Teil des militärischen Funkverkehrs mit einigen Ausnahmen mithören konnten. 

Man nimmt an, dass während des Zweiten Weltkriegs 100 000 bis 200 000 solcher Verschlüsselungsmaschinen gebaut wurden.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Cartoon : Robert Gernhardt (1937 – 2006) : Beim Einlass

Robert Gernhardt: Sohn eines deutsch-baltischen Richters; nach der Flucht aus dem Osten Kindheit und Jugend in Göttingen (ab 1946); ab 1956 Studium der Malerei und Germanistik in Stuttgart und Berlin; ab 1964 freiberufliche Arbeit als Zeichner und Maler, Karikaturist und Schriftsteller in Frankfurt a. M.; zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen; Poetik-Dozenturen an den Universitäten Frankfurt a. M., Essen und Düsseldorf (ab 2001).

(Kindlers Literatur Lexikon)

Vor 10 Jahren waren wir
alle zehn Jahre jünger.
In zehn Jahren sind wir vielleicht
allesamt schon Dünger.
Darum, Freunde, pflückt den Tag,
feiert seine Süße.
Dem, der euch entgegentritt,
tretet auf die Füße.

 Ausgehend von der Beobachtung, daß es drei Arten gibt, auf das Meer zu reagieren –
1. Ich fühle mich klein angesichts seiner Größe.
2. Ich fühle mich groß, da seine Göße mich steigert.
3. Ich fühle nichts besonderes -,
komme ich zu zwei Behauptungen:
1. daß ich als Maler das Meer nicht besonders schätze, da es ein allzu wohlfeiler Hintergrund ist, der alles einfach bedeutsam erscheinen läßt, ohne daß der Künstler sich beim Vordergrund allzu sehr anstrengen muss, und daß diese Wohlfeilheit
2. eine Parallele in jener Literatur findet, die dem Leser schon zu Beginn zu verstehen gibt, daß die Abenteuer des Helden vor dem Hintergrund seines sicheren Todes zu lesen, also sämtlich von Bedeutung, da final seien.
Deutlich wird das an dem unterschiedlichen Gewicht zweier fast gleichlautender Überschriften:
»Zwölf Stunden im Leben eines Aktenordners«, 
bzw.
»Die letzten zwölf Stunden im Leben eines Aktenordners«.

Robert Gernhardt (1937 – 2006) : Toscana mia (Herausgegeben von Christina Maidt-Zinke,  2011)


Georges Braque (1900 – 1963) :  Klarinette und Rumflasche auf einem Kaminsims (1911)

 Man muß sich auf das Entdecken beschränken und auf das Erklären verzichten.

Georges Braque

 Könnte gegenwärtig/zukünftig folgendes zutreffen:

1. daß der Mensch ungern verzichtet,
2. daß der Mensch sich ungern beschränkt,
3. daß der Mensch aus Zeit- & Leid-, Gier- & Biernot ungern wahrnimmt, was für wahr erkannt werden sollte,
4. daß der Mensch folglich das Entdecken verlernt, vergessen, verschlafen, verdrängt, verunstaltet hat,
5. daß der Mensch ungeheuren Erklärungsbedarf hat…?

 Ich tue nicht, wie ich will, sondern wie ich kann.

Georges Braque

 Könnte/sollte/darf/müsste stets folgendes (auch) zutreffen:

Ich will was ich tue, auch wenn ich es nicht kann…?

Renald Deppe (*1955): Für wenn ich gegenredig bin… (Verortung und Perspektive, 2023)


Sonnentempel (Hinduismus) : Konark, Bundesstaat Odisha (Indien, 1,4 Mrd. Einwohner, 2018) : Im 13. Jahrhundert errichtet (Steinbildhauerei)
Lotustempel (Bahaitum) : Indien : Delhi  (16,8 Millionen Einwohner, 2011) : Baubeginn 1976 : Eröffnet 1986

 Seit einigen Jahren leben in meinem Umfeld viele chinesische und indische Studenten. 

Die Chinesen lernen mit einer phantastischen Energie, einer Disziplin, die einem den Atem verschlägt, aber sie wagen weder Kritik noch erfinderische Phantasie.

Sind indische Studenten um einen Tisch versammelt, hört man aus jeder Stimme den Mut heraus, Neues vorzuschlagen, Vermutungen anzustellen, vor allem aber den Mut, jeglicher Autorität zu widersprechen. Daher mein Eindruck, dass wesentliche Kapitel in der Geschichte des Denkens und der Kunst zukünftig aus Indien kommen werden.
Das werde ich nicht mehr erleben, aber es wird sehr aufschlussreich sein.

Europa ist zur Zeit zu einem Kontinent weltweiten Tourismus geworden. Man besichtigt das alte Europa. Europa ist zu einem großen Museum geworden und dort zu leben zu einem Luxus. Schwierig ist es jedoch, über eine Zukunft, eine positive Zukunft Europas zu sprechen.

George Steiner (1929 – 2020) : Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Philosoph, Kritiker : Internationale Lehrtätigkeiten u.a. an den Universitäten in Innsbruck, Cambridge, Genf, Oxford und an der Harvard University.


Emblem (1666) : „Descripcion de las honras que se hicieron a Phelippe Quarto“ von Pedro Rodriguez de Monforte aus Anlass der Bestattung von König Philipp IV. von Spanien, Madrid, September 1665. Illustration: Pedro de Villafranca Malagon.
Emblematischer Taler (Wahrheitstaler) : Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel : Von Heinrich Julius (1589-1613) : Münzstätte Goslar. (1597) : Vierzeilige Legende und Datum : »Allegorie der Wahrheit, die über Betrug und Lüge siegt«.

Emblem (Kunst und Literatur)

Emblem [von griechisch émblēma »Einlegearbeit mit Symbolgehalt«]. Im engeren Sinn eine aus Bild und Text zusammengesetzte Kunstform.

Das Emblem besteht aus drei Teilen:

1) Ein meist allegorisch gemeintes Bild (Ikon; auch als Pictura, Imago oder Symbolon bezeichnet), das ein sinnfälliges, oft merkwürdiges Motiv aus Natur, Kunst, Historie, biblischer Geschichte oder Mythologie darstellt, nach dem Vorbild der Hieroglyphik häufig auch nur Einzelheiten daraus.

2) Ein Lemma (Titel, Überschrift; auch Motto oder Inscriptio genannt), das über dem oder auch im Bild angebracht ist: ein knapper Spruch in lateinischer oder griechischer Sprache, häufig ein Klassikerzitat.

3) Eine unter dem Bild stehende Subscriptio (Unterschrift), oft als Epigramm, aber auch in anderen gebundenen Formen oder in Prosa. Die Subscriptio erläutert den im Bild verschlüsselt oder allegorisch dargestellten Sinn des Emblems, der sich auf ein moralisches, religiöses oder erotisches Thema beziehen kann oder eine allgemeine Lebensweisheit aussagt. Viele dieser Aussagen sind heute nur mithilfe der Emblematik verständlich; diese ist ein wichtiger Bereich der Topos-Forschung.

Erst seit Ernst Robert Curtius (1886 – 1956) wird unter Emblem nur die streng dreigeteilte Kunstform verstanden, wie sie Andrea Alciati in seinem »Emblematum liber« (1531) ausgebildet hat. Nach seinem Vorbild entstanden im Barock eine große Zahl weiterer Emblembücher.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Allegorie der Tulipomanie (1640) : Jan Breughel der Jüngere (1601-1676)

 In den 1630er Jahren kaufen und verkaufen zahlreiche Niederländer Tulpenzwiebeln. Die Preise steigen in abenteuerliche Höhen; es ist die welterste Spekulationsblase. Anfang Februar 1637 zerplatzt sie.

Ein Pfund Zwiebeln der beliebten Sorte „Switser“ erzielte Ende Dezember 1636 rund 125 Gulden. Nur wenige Wochen später, am 3. Februar, zwei Tage vor der Versteigerung, hat sich der Preis verzwölffacht – auf 1500 Gulden.

Niederländer bezahlten Höchstpreise für Tulpen:

1500 Gulden – dafür arbeitet ein Handwerksmeister in Alkmaar viereinhalb Jahre lang. Für die Summe kann man zu dieser Zeit fast 170 Fässer Bordeaux-Wein erwerben. Oder gut 8400 Pfund Fleisch. Oder ein Haus in Haarlem, der drittgrößten Stadt Hollands. Und nichts spricht dagegen, dass die Preise für Tulpen noch weiter steigen werden. Dass die sonst als so fromm, achtbar und sparsam geltenden Niederländer weiterhin Höchstpreise bezahlen, aus Leidenschaft für eine Blume. Die ganze Provinz, so scheint es, ist im Tulpenfieber.

Eine Krankheit sei ausgebrochen, schreibt der Haarlemer Geistliche Jodocus Cats in einem Brief. Eine Geisteskrankheit. Niemals zuvor habe die Welt einen solchen Wahnsinn erlebt.

(GEOplus)

 Allegorie [griechisch, eigentlich »das Anderssagen«],

Umsetzung eines abstrakten Begriffs oder eines Gedankengangs in eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung, oft in Form der Personifikation (z. B. Gerechtigkeit, Tod). Im Unterschied zum »sinnenfälligen« Symbol enthält die Allegorie eine gedanklich-konstruktive Beziehung zwischen dem Dargestellten und dem Gemeinten. Ihr Sinn muss durch Deutung der oft versteckt gegebenen Hinweise erschlossen werden (im Unterschied zur Metapher).

In der bildenden Kunst ist die Allegorie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Thema aller Gattungen. Sie erscheint meist in Form einer Personifikation (z. B. die Gerechtigkeit als Frauengestalt mit Schwert und Waage). Die Darstellung kann zu einer Szene erweitert sein durch andere Figuren (oft mit eigenem Symbolcharakter), die wie Gebärde, Kleidung, Attribute oder auch Schrift Hinweise auf den Sinn der Allegorie geben.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Marianne von Werefkin (1860 – 1938) : Schwarze Frauen (1910) : (Der Japonismus-Begeisterung Werefkins verpflichtet.)
Marianne von Werefkin : Schnee über Nacht (1917/18)

Japonismus [französisch Japon »Japan«],
das stark ausgeprägte Interesse an japanischer Kultur und deren Einflussnahme auf Kunst und Kunsthandwerk in Europa in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Japonismus wurde gefördert durch die Weltausstellungen in Paris (1855, 1867, 1878) und London (1862).
Infolge der politischen Öffnung Japans gelangten japanische Waren nach Europa; Fächer und Kimonos wurden zu beliebten Requisiten auch in der bildenden Kunst. Zu den europäischen Künstlern, die die ungewöhnlichen Bildräume und -ausschnitte, die flächigen, vereinfachten Formen und die exquisite Farbigkeit der japanischen Kunst verarbeiteten, gehören u. a. die Vertreter des Impressionismus und Maler aus ihrem Umkreis, P. Gauguin, V. van Gogh, die Nabis sowie Vertreter des Jugendstils.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Die erfolgreiche Malerin Marianne von Werefkin, gebürtige Russin mit Vorfahren aus dem Adel väterlicherseits & Tochter einer Kosakenfürstin aus alter Familie, ehelichte 1892 den fünf Jahre jüngeren unbekannten & mittellosen russischen Kollegen Alexej Jawlensky (1865 – 1941). Diesen förderte Werefkin und bildete ihn auch maltechnisch aus.
Nach 27 (mehr als) turbulenten Ehejahren mit ihrem Malergatten, erfolg- & folgenreicher Jäger vieler Schürzen, verließ Jawlensky 1921 Marianne von Werefkin mit & wegen dem Dienstmädchen »Helene«, die bereits 1902 ein Kind von ihm zur Welt brachte. 1922 wurde in Wiesbaden geheiratet.
Den schwierigen Zeiten folgten bleierne. 
Aber Werefkin verlor nie den schöpferischen Kontakt zu ihrer Arbeit, zu ihrer Berufung.
Auch nach fast zehnjähriger Unterbrechung ihrer Malaktivitäten.
Marianne von W. war eine begnadete Malerin, treibende Kraft & engagierte (Mit)Begründerin vieler Künstlerinitiativen und eine pinselführende Palettenvirtuosin des deutschen Expressionismus. Und vieles mehr: als begeisterte Anhängerin des »Japonismus« schuf sie einzigartige Bildgeschichten. Zum Beispiel.
Frau Marianne von Werefkin entging/entgeht dem öffentlichen Interesse der gegenwärtigen Kunstwelt mit ihren oftmals zeitgeistig verloren wirkendenden Konzeptionbemühungen. Die Kunstbörsen, die Kunstmärkte, die Kunsttempel, die Kunstjournale, die Kunstmessen, die Kunstakademien, die Kunstpäpste nahmen Frau Werefkin nur bedingt und sehr selektiv wahr. Aus vielerlei börsen-, markt-, tempel-, journal-, messe-, gender- & papststrategischen Gründen.
Frau Marianne von Werefkin gilt es wieder zu entdecken.
FrauMarianne von Werefkin gilt es in & mit Würde zu würdigen. Unbedingt.

Weil:
1. FrauMarianne von W. als streitbare Zündlerin ein Feuerwerk an Farbgebungen entwickelt,
2. FrauMarianne von W. als Meisterin einer magischen Linienführung agiert,
3. FrauMarianne von W. als Mensch & KünstlerIn trotz all den Menschen & KünstlerInnen in Friedenszeiten wie im Kriege stets authentisch geblieben ist.
FrauMarianne von Werefkin gilt es in & mit Würde zu würdigen. Unbedingt.
Frau Marianne von Werefkin gilt es wieder zu entdecken. Z. B. hier: https://www.museoascona.ch/de/sammlungen/marianne-werefkin-stiftung

Das Institut zur Verbesserung der Lagen stellt Fragen: wie & warum gestaltet sich ein (Frauen)Leben um die vorletzte Jahrhundertwende?
Gab es doch in dieser Zeit mehr blutige als Blaue Reiter. Zum Beispiel.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich ärgerig bin… (Verortung und Perspektive, 2023)


Handschrift : John Cheever (1912 – 1982), US-amerikanischer Schriftsteller : Tagebücher (1952 – 1982)
John Cheever auf der Veranda seines Hauses.

 Ein Suffkampf in 4 Runden, der damit beginnt, daß ich, als ich Susie in die Stadt fahre, in Ardsley nervöse Magenschmerzen bekomme. Es gibt den üblichen psychologischen Aufruhr, ich trinke zwei Martinis vor dem Mittagessen und fühle mich sehr ausgelassen. Ich habe das Gefühl, Anspruch auf diese Drinks zu haben. Der Nachmittag vergeht, und der Aufruhr wird stärker, und als ich nach Hause komme, denke ich, daß ich ein paar Cocktails verdient hätte.

Ich weiß, daß ich am nächsten Morgen auf Federico aufpassen muß – ich kann nicht arbeiten -, und das nehme ich dann als Ausrede, um nach dem Abendessen zu trinken. Am Morgen geht’s mir schlecht, ich bin mir zuwider, ich bin verzweifelt, komme mir obszön vor. Um halb zwölf trinke ich ein Glas, um mich zusammenreißen zu können, und um halb fünf fang ich an, richtig zu trinken, während ich koche. Ich habe meine Ausreden. Mit meiner Umsicht ist es vorbei, und als ich mit dem Geschirr fertig bin, nehme ich eine kräftige Dosis nußbraunen Whiskey zu mir.

Am Samstag geht’s mir noch schlechter. Ich trinke ein Glas vor dem Mittagessen. Das scheint Übelkeit und Kopfschmerzen aufzulösen. Nach dem Abendessen müssen wir La Tata einen Besuch abstatten; das ist eine obligatorischen Höflichkeitsgeschichte, und S. füllt mir ständig Scotch nach.

Am Sonntag fühle ich mich hundeelend. Ich gehe mit Federico spazieren. Um Viertel nach elf schreibe ich ein Pamphlet gegen das Laster des Trinkens. Dann schlage ich die Telephonnummer der Anonymen Alkoholiker nach. Schließlich öffne ich mit zitternden Händen den Barschrank und trinke alle Reste aus, Whiskey, Gin, Wermut, was immer mir unter die zitternden Finger kommt. Jetzt ist der Anfall vorbei, und ich bin wieder ich selbst, aber ich wünschte, ich könnte mich davon befreien.

John Cheever : Tagebuch (1959)

 Er war Alkoholiker und unglücklich verheiratet, und er liebte wie Andy Warhol Männer – nur tat er es insgeheim. Stoff genug für eine Beichte, wenn man religiös geprägt war. Der 1912 in Massachusetts geborene Erzähler und Romancier John Cheever hat ein Tagebuch hinterlassen, das zu den großartigsten und erschütterndsten Zeugnissen des Genres zählt. Man hüte sich, den 600 Seiten dicken Band aufzuschlagen, wenn man später noch etwas anderes vorhat, man liest sich unweigerlich fest.

Michael Maar (*1960)

 Cheever, John, amerikanischer Schriftsteller, * Quincy (Massachusetts) 27. 5. 1912, † Ossining (N. Y.) 18. 6. 1982;
schilderte in seinen Romanen und zahlreichen Kurzgeschichten humorvoll und satirisch das Leben in den reichen amerikanischen Vororten. Von manchen Kritikern als »Tschechow der Vorstädte« bezeichnet, galt er mit seinen erfolgreichen, zum Teil preisgekrönten Geschichten und Romanen als sensibler und scharfsinniger Chronist der amerikanischen »Middle Class«, deren Schwächen er mit stilistischer Brillanz und Ironie enthüllte.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Portrait – Karikatur : Gustav Mahler (1860 – 1911) : Gezeichnet von Enrico Caruso (1908).

 Ich muss ein neues Leben anfangen, dieses Leben kann ich nicht mehr ertragen. Von Stunde zur Stunde werde ich unzufriedener. Ich vegetiere vor mich hin. Ich muss wieder lesen, etwas lernen. Ich muss meine Klavierstunden wieder aufnehmen! Ich will wieder ein geistiges Innenleben führen, wie ehedem. Es ist ein Unglück für mich, daß ich keine Freunde mehr habe. Aber Mahler will niemanden sehen. Wieviel erlebte ich früher! Wie schleicht mein Leben jetzt dahin. Ich brauche Anregungen, Ich habe viel nachgedacht. Es muß anders werden.

Alma Mahler (Tagebuch)

1902 : Gustav Mahler heiratet Alma Maria Schindler (1879 – 1964). Gustav Mahler unterbindet alsbald alle künstlerischen & gesellschaftlichen Ambitionen von Alma und verlangt von ihr ein untergeordnetes & ausschließlich ihm gewidmetes Sein.
1907 : Pressekampagne gegen Mahler als reformfreudiger »artistischer Direktor«  der Wiener Hofoper.
Sein Vertrag (1897 – 1907) wird einvernehmlich aufgelöst und Maler geht nach Amerika (Metropolitan Opera).
Anläßlich einer ärztlichen Routineuntersuchung wird ein schwerer Herzklappenfehler diagnostiziert.
1910 : Nach 4 Amerikaaufenthalten mit zahlreichen Opern- & Konzertaufführungen (u.a. als Chefdirigent der »Philharmonic Society of New York«) verschlechtert sich sein Gesundheitszustand. Alma Mahler hat im Sommer 1910 eine heftige Liebesbeziehung mit dem Architekten und späteren Gründer & Bauhaus – Direktor Walter Gropius (1883 – 1969). Gustav Mahler konsultiert Sigmund Freud.
1911 : Gustav Mahler stirbt kurz vor Vollendung seines 51. Lebensjahres (wahrscheinlich an einer bakteriellen Herzklappenentzündung) in Wien.

(Renald Deppe)


Logo (1928) : Salzburger Festspiele

Die Salzburger Festspiele wollen sich angesichts ihres 100-Jahr-Jubiläums der laufenden Diskussion zu der Malerin und Grafikerin Poldi Wojtek stellen. Wojtek hat 1928 das Emblem für die Salzburger Festspiele gestaltet, das seither – mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus – das Festspiellogo ist. An ihrer Person, die sich später dem Nationalsozialismus angedient hat, zeigt sich geradezu exemplarisch der Konflikt zwischen der moralischen Verantwortung des Künstlers und dem künstlerischen Wert seiner Werke.

Die Festspiele haben daher zwei Gutachten mit der Aufarbeitung dieses Kapitels der Festspielgeschichte beauftragt: Prof. Oliver Rathkolb ging der politischen Entwicklung Wojteks nach und dokumentierte akribisch die tiefbraunen Spuren in der Biografie der Künstlerin, bis hin zur Durchsetzung der Arisierung des Hauses ihrer Künstlerkollegin Helene von Taussig.

Dr. Anita Kern begutachtete die künstlerische Entwicklung, insbesondere den künstlerischen Wert des Logos. Dabei zeigte sich deutlich, dass die bei so bedeutenden Künstlern wie Josef Hoffmann und Franz Cizek ausgebildete Grafikerin in der Entstehungszeit des Festspielemblems „grafisch und zeichnerisch auf der Höhe der Zeit“ (Kern) war. Ihre Anbiederung an den Nationalsozialismus nach 1936 führte hingegen auch zu qualitativen Einbußen.

Ursprünglich wollten die Festspiele mit diesen beiden Gutachten die weltweit bestehende und grundlegende Diskussion fortführen, wie qualitativ hochstehende Kunstwerke von politisch bedenklich handelnden Künstlern zu bewerten sind. Dies hat die Pandemie leider im vergangenen Frühjahr verhindert. Diese Publikation soll daher nur der erste Schritt sein. Für 2021 werden die Festspiele das geplante Symposium jedenfalls durchführen. Die Salzburger Festspiele wollen das Jubiläum zum Anlass für weitere wissenschaftliche Recherchen zu ihrer Vergangenheit nehmen – und selbstverständlich die dunklen Kapitel dabei nicht ausklammern.

Helga Rabl-Stadler : Präsidentin
Markus Hinterhäuser : Intendant
Lukas Crepaz : Kaufmännischer Direktor

(Vorwort des Direktoriums der Salzburger Festspiele zu den Gutachten über das Logo der Salzburger Festspiele und seine Gestalterin Poldi Wojtek, 2020)

 Poldi Wojteks Festspiellogo wurde nach dem „Anschluss“ 1938 nicht mehr verwendet – zu stark war die Erinnerung an die Ära Max Reinhardts und die intellektuelle Moderne. Aber als „entartet“ – das heißt ideologisch verfemt – galten Wojteks Grafiken deswegen nicht. Ab 1945 wurde das Emblem wieder als Logo eingesetzt.

Bezüglich des Naheverhältnisses von Poldi Wojtek zur NS-Ideologie ist – neben ihren immer wieder oberflächlichen Illustrationen von NS-Propaganda oder NS-Symbolik bereits vor 1938 – vor allem der aktiv betriebene Entzug und der Erwerb des Hauses der verfolgten jüdischen Malerin Helene von Taussig in Anif hervorzuheben. Wojtek nützte die Kontakte ihres Mannes Kajetan Mühlmann und ihres Vaters – ein ehemaliger hoher Landesbeamter im Baubereich – schamlos aus, um das Haus an sich zu reißen. Ihr Vater schenkte ihr das „arisierte“ Haus 1943. Mühlmann hatte sich erfolgreich eingeschaltet, um die „Arisierung“ auch gegen starke NS-Konkurrenz und das kriegsbedingte Verkaufsverbot durchzusetzen. Poldi Wojtek selbst intervenierte ebenfalls mehrmals bei höchsten NSDAP-Funktionären in Salzburg.

1952 gründete Poldi Wojtek gemeinsam mit ihrem neuen Lebensgefährten Karl Schatzer – sie ließ sich 1943 von Mühlmann scheiden, der seit 1939 eine zweite Familie hatte – eine Keramik-Lehrwerkstätte. 

Oliver Rathkolb (*1955) : Resümee(Auszug) : Gutachten Rathkolb (2020)

 Im obligaten Regen über die Salzachbrücke zum Festspielhaus, wo sich der übliche Prominentenzirkus produziert, indes die Kameras blitzen. Wer kann dieses Défilé von welkem Zuviel beobachten, ohne die Wohltaten der Burka für die europäischen Damen wünschen?

Peter Sloterdijk (*1974) : Neue Zeilen und Tage : August 2011


Erpel Paul (*um 1501) : Mandarinente
Albrecht Dürer (1471 – 1528) : Tote Ente (um 1502) : Aquarell und Deckfarben mit Goldhöhung auf Pergament.

 Nachmittags traf Beatrice ein, wir gingen spazieren am Weßlinger See – und welches Schauspiel bot sich!

Auf einer Uferwiese wurde eine Ente von fünf Erpeln verfolgt, eingeholt und vergewaltigt. Das Erstaunliche: Die Erpel machten gemeinsame Sache, halfen einander. Jeweils zwei hielten die Ente fest (klingt komisch, aber so war es), zwei standen unbeteiligt links und rechts herum, und einer sprang auf. Wenn er fertig war, nahm er den Platz eines der beiden Unbeteiligten ein, dann kam der nächste an die Reihe: das Ganze ging äußerst diszipliniert vor sich wie in einer britischen Busqueue. Kein Gerangel, kein Streit, ein absolut koordiniertes Vorgehen, perfekter Teamgeist.

Nach jeder Vergewaltigung schaffte es die Ente, ein paar Meter zu flüchten, bevor sich die Prozedur wiederholte – und erst als alle fünf befriedigt waren, zerstreuten sich die Erpel in verschiedene Richtungen, ließen ihr zerzaustes Opfer einfach stehen. Es war phantastisch, unglaublich, besser als jedes Kino und vom Zoologischen her doch überraschend. Ich hätte nämlich vermutet, die brünftigen Erpel wären von striktem Konkurrenzdenken geleitet, nur daran interessiert, die eigenen Gene weiterzugeben und auf Nebenbuhler einzuhacken. Ganz falsch. Vor allem war es verblüffend, daß jene Erpel, die schon abgespritzt hatten, nicht desinteressiert herumstanden und von dannen zogen, sondern den »Gesellschaftsvertrag« einhielten und, nach einer postkoitalen Pause, ihrer »Pflicht des Festhaltens« nachkamen.

Die Ente übrigens drehte sich am Ende der Orgie zweimal im Kreis und rannte einem der Erpel hinterher, folgte ihm auf Schritt und Tritt. Das muß der gewesen sein, der es ihr am besten besorgt hat.

Helmut Krausser (*1964) : Substanz : Das Beste aus den Tagebüchern (1992 – 2004)

schlag(er)abtausch

die ente ruht ganz tot im keller
sie atmet weder ein noch aus
bald liegt sie leblos auf dem teller
mein vegi keucht erbost ins haus:
ach wärst du doch in düsseldorf geblieben
mit erpel paul auf wolke eins bis sieben…
(oder gar in heidelberg bei einem netten kleinviehzwerg)

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich fleischlosig bin… (Verortung und Perspektive, 2023)


Mawangdui-Seidenbuch : Teil eines taoistischen Manuskripts, Tinte auf Seide  (2. Jahrhundert v. Chr.) 
Han-Dynastie, ausgegraben im Mawangdui-Grab 3, Chansha, Provinz Hunan, China.
LAOTSE

 Laozi [chinesisch »alter Meister«], Lao-tzu, Laotse, chinesischer Philosoph, der der Tradition nach ein älterer Zeitgenosse des Konfuzius war (6. Jahrhundert v. Chr.),
soweit er jedoch als Verfasser des daoistischen Hauptwerks Daodejing (Daoismus) verstanden wird, Ende des 4./Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. gelebt haben muss. Sein Name wird häufig mit seinem Werk gleichgesetzt. Als Person tritt Laozi in verschiedenen philosophischen Texten (nicht jedoch im Daodejing selbst) seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. auf; meist als Widerpart des Konfuzius oder von Konfuzianern. Schon zur Zeit der von Sima Qian im 2. Jahrhundert v. Chr. verfassten Laozi-Biografie kursierten zahlreiche Legenden um Laozi. 
Die Überlieferung, Laozi sei am Ende seines Wirkens in China westwärts in den Gebirgen verschwunden und habe einem Passtorwächter das Daodejing als Vermächtnis hinterlassen, führte dazu, dass der Buddhismus in China als eine Variante des Daoismus angesehen und der historische Buddha sogar indirekt mit Laozi identifiziert werden konnte. Im Pantheon des Daoismus stand Laozi (häufig in eine Trinität von Gottheiten eingebracht) an höchster Stelle; er verschmolz einerseits mit dem auch vom Konfuzianismus anerkannten Urkaiser Huangdi zur Gottheit Huanglao, andererseits wurde er als eine Art Personifikation des Dao, des Welturgrundes, aufgefasst, die sich in den verschiedensten Metamorphosen, v. a. als periodisch auftretender Welterlöser, bekundet. Dieser Umstand lieferte die Legitimationsgrundlage für einige messianische Volksbewegungen.

 Daodejing; chinesisch »Buch vom Weg und von der Tugend«], Dao-de-jing, Tao-te-ching, ein Hauptwerk des chinesischen Daoismus aus dem späten 4. Jahrhundert v. Chr., verfasst von dem historisch nicht fassbaren »alten Meister« (Laozi); es schildert den Welturgrund und sein spontanes Wirken, das auch für den Menschen Vorbild sein soll. Originale des Werkes wurden in Gräbern des frühen 2. Jahrhunderts v. Chr. gefunden.

(Brockhaus, Enzyklopädie)

 Wer das Nichthandeln übt,
sich mit Beschäftigungslosigkeit beschäftigt,
Geschmack findet an dem, was nicht schmeckt:
Der sieht das Große im Kleinen und das Viele im Wenigen.
Er vergilt Groll durch Leben.
Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!
Tue das Große da, wo es noch klein ist!
Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.
Alles Große auf Erden beginnt stets als Leichtes.

Darum: Tut der Berufene nie etwas Großes,
so kann er seine große Taten vollenden.
Wer leicht verspricht,
hält sicher selten sein Wort.
Wer vieles leicht nimmt,
hat sicher viele Schwierigkeiten.
Darum: Bedenkt der Berufene die Schwierigkeiten,
so hat er nie Schwierigkeiten.

Laotse

(Auszug: »Dao-de-jing – Das Buch vom Sinn und Leben« spätes 4. Jahrhundert vor Chr.)

Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration

Als er siebzig war und war gebrechlich
drängte es den Lehrer doch nach Ruh
denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu
und er gürtete den Schuh.

2
Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte
und das Büchlein, das er immer las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.

3
Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es
Als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.

4
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“ – „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt.

5
Doch der Mann in einer heitren Regung
fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.

6
Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: „He du! Halt an!

7
Was ist das mit diesem Wasser, Alter?“
Hielt der Alte: „Intressiert es dich?“
Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter
Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich!

8
Schreib mir’s auf! Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?“

9
Über seine Schulter sah der Alte
Auf den Mann: Flickjoppe, keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch Du?“

10
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen,
Die verdienen Antwort.“ Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.“
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.“

11
Und von seinem Ochsen stieg der Weise
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit.)
Und dann war’s soweit.

12
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein.
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

13
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.

Bertolt Brecht (1898 – 1956)


Buchumschlag : Joachim Ringelnatz (1883 – 1934) : Geheimes Kinderspielbuch (1985) : Nachdruck von 1924
Buchumschlag : Joachim Ringelnatz (1883 – 1934) : Kuttel Daddeldu (1920)

 Kindergebetchen

Erstes

Lieber Gott, ich liege
Im Bett. Ich weiß, ich wiege
Seit gestern fünfunddreißig Pfund.
Halte Pa und Ma gesund.
Bin ein armes Zwiebelchen,
Nimm mir das nicht übelchen.

Zweites

Lieber Gott, recht gute Nacht.
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon sehr erwachsen bin.

Drittes

Lieber Gott mit Christussohn,
Ach schenk mir doch ein Grammophon.
Ich bin ein ungezognes Kind,
Weil meine Eltern Säufer sind.
Verzeih mir, daß ich gähne.
Beschütze mich in aller Not,
Mach meine Eltern noch nicht tot
Und schenk der Oma Zähne.

Joachim Ringelnatz : Flugzeuggedanken (1929)

Kinder. So nett…
Kinder meinen, Kinder weinen.
Kinder lügen, Kinder ermüden.
Kinder engeln, Kinder bengeln.
Kinder lachen, Kinder machen.
Kinder (und nicht nur am Nil) kennen keinen Stil.
Kinder (und nicht nur in den Bergen) träumen von Zwergen.
Kinder (und nicht nur an den Küsten) frönen ihren Lüsten.
Kinder (und nicht nur im Bette) kennen kaum Sonette.
Kinder gehen auf den Magen, mögen Küchenschaben.
Kinder haben viel Humor, lieben öfters den Furor.
Kinder achten auch die Narren, meiden Turnsaal, Klo und Barren.
Kinder suchen oft das Süße, haben meistens kleine Füße.
Kinder hassen rote Beete, meiden Seife, Kirchensang, Gebete.
Kinder brauchen Abzählreime, schätzen Würmer, Flöhe, Keime.
Kinder schießen gar auf Spatzen, quälen Sittich, Lehrer, Katzen.
Drum achte Grünkohl, Spargel und die Rinder.
Und schütze Buntvolk, Kernöl und auch Kinder.
(Niemals solltest Du vergessen: Kinder wollen ständig messen.)

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich natzig bin… (Verortung & Perspektive 2023)


Erich Kästner (1899 – 1972) beim Sichten von Zeichnungen für seine neuesten Publikationen.
Umschlagillustration von Hans Traxler (*1929) für das Buch-Cover von Doktor Kästners lyrischer Hausapotheke. (Neuauflage)

Der Kümmerer

Der Kümmerer ist zwar ein Mann,
doch seine Männlichkeit hält sich in Grenzen.
Er nimmt sich zwar der Frauen an,
doch andre Männer ziehn die Konsequenzen.

Der Kümmerer ist ein Subjekt,
das Frauen, wenn es sein muß, zwar bedichtet,
hingegen auf den Endeffekt
von vornherein und überhaupt verzichtet.

Er dient den Frauen ohne Lohn.
Er liebt die Frau en gros, er liebt summarisch.
Er liebt die Liebe mehr als die Person.
Er liebt, mit einem Worte, vegetarisch !

Er wiehert nicht. Er wird nicht wild.
Er hilft beim Einkauf, denn er ist ein Kenner.
Sein Blick macht aus der Frau ein Bild.
Die andren Blicke werfen andre Männer.

Die Kümmerer sind nicht ganz neu.
Auch von von Goethe wird uns das bekräftigt.
Sein Clärchen war dem Egmont treu,
doch der war meist mit Heldentum beschäftigt.

So kam Herr Brackenburg ins Haus,
vertrieb die Zeit und half beim Wäschelegen.
Am Abend warf sie ihn hinaus.
Wer Goethes Werke kennt, der weiß weswegen.

Die Kümmerer sind sehr begehrt,
weil sie bescheiden sind und nichts begehren.
Sie wollen keinen Gegenwert.
Sie wollen nichts als da sein und verehren.

Sie heben euch auf einen Sockel,
der euch zum Denkmal macht und förmlich weiht.
Dann blicken sie durch ihr Monokel
und wundern sich, daß ihr unnahbar seid.

Dann knien sie hin und beten an.
Ihr gähnt und haltet euch mit Mühe munter.
Zum Glück kommt dann und wann ein Mann
und holt euch von dem Sockel runter!

Erich Kästner : Doktor Kästners lyrische Hausapotheke (1936)

 Vielleicht…

Humor ist (angeblich) wenn man trotzdem lacht. Zum Beispiel über sich selber.
Humor ist (angeblich) wenn man sich schmunzelnd wundert. Zum Beispiel über sich selber.
Humor ist (angeblich) wenn man freundlich lächelnd korrigiert. Zum Beispiel sich selber.
Humor ist (angeblich) wenn man der Not der Welt auch mit gewinnendem Charme begegnet. Zum Beispiel auch seiner eigenen.
Humor ist (angeblich) wenn man den Verlust der Dinge unverkrampft und entspannt belächelt. Zum Beispiel auch seiner eigenen.
Humor ist (angeblich) wenn man das oftmals kaum zu ertragende Unverständnis & Unrecht, den Undank, die Ignoranz, Gier, Schamlosigkeit, Dekadenz & Inkompetenz vieler Mit-, Polit-, Klerus-, Über-, Glaubens-, Gut- & Lebensmenschen nicht (ausschließlich) zynisch & sarkastisch kontrapunktiert oder kommentiert. Zum Beispiel auch seine eigenen Befindlichkeiten als Mängelwesen.
Humor ist (angeblich) wenn man trotzdem lacht. Zum Beispiel über sich selber. Und über andere. (Das braucht des öfteren Mut.)

Vielleicht gibt es deshalb (nicht nur) in den deutschsprachigen Literaturen, Künsten, Kulturen & Gefilden so wenig Humor und HumoristInnen. Vielleicht.
Vielleicht gibt es deshalb (nicht nur) in den deutschsprachigen Literaturen & Gefilden mehr Schieß- als Lachgesellschaften. Leider.
Humor hat wer jetzt trotzdem lacht.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich distanzig bin… (Verortung & Perspektive 2023)


Manuskript : Louis-Ferdinand Céline (1894 – 1961) : Reise ans Ende der Nacht : Roman (1932)
Louis-Ferdinand Céline (1894 – 1961)

Sehr geehrter Herr,

Ich überreiche Ihnen mein Manuskript von Reise ans Ende der Nacht (5 Jahre Arbeit). Ich wäre Ihnen besonders dankbar, wenn Sie mir schnellstmöglich mitteilen würden, ob und unter welchen Bedingungen Sie bereit wären, ihn zu veröffentlichen. Sie bitten mich, Ihnen eine Zusammenfassung dieses Buches zu geben. Es ist in Wahrheit eine seltsame Anstrengung, der Sie mich unterziehen, und ich hatte noch nie daran gedacht.

Sie werden mir sagen, dass es an der Zeit ist. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich völlig ungeeignet dafür. (Ein bisschen wie der Eindruck der Taucher im Kino, die man aus dem Wasser zum Steg springen sieht…) Ich werde es trotzdem versuchen, aber ohne Manieren. Ich glaube nicht, dass meine Zusammenfassung Ihnen einen guten Vorgeschmack auf das Buch geben wird.

Tatsächlich handelt es sich bei dieser „Reise ans Ende der Nacht“ um eine romanhafte Geschichte, in einer ziemlich einzigartigen Form, von der ich nicht viele Beispiele in der Literatur im Allgemeinen sehe. Ich wollte es nicht so haben. So ist es nun mal. Es ist eher eine Art literarischer Sinfonie, emotional, als ein echter Roman.

Der Fallstrick des Genres ist die Langeweile. Ich denke nicht, dass mein Ding langweilig ist.

Emotional ist diese Geschichte ziemlich nah an dem, was man von Musik bekommt oder bekommen sollte.

Es ist ständig auf der Kante von Emotionen und Worten, von präzisen Darstellungen, außer in den Momenten der Akzente, die rücksichtslos präzise sind. Daher die Menge an Ablenkungen, die nach und nach in das Thema einfließen und es schließlich wie eine musikalische Komposition singen lassen. All dies bleibt sehr anmaßend und mehr als lächerlich, wenn die Arbeit nicht gut gemacht ist. Sie sind der Richter. Für mich ist es ein Erfolg.

So geht es mir mit Menschen und Dingen. Pech für sie. Die Handlung ist sowohl komplex als auch einfach. Sie gehört ebenfalls zum Genre der Oper. (Das ist keine Referenz!) Es ist ein großes Fresko, lyrischer Populismus, Kommunismus mit Seele, frech also, und lebendig. Die Geschichte beginnt an der Place Clichy, zu Beginn des Krieges, und endet fünfzehn Jahre später auf dem Clichy-Fest. 700 Seiten Reisen durch die Welt, bei Männern und in der Nacht, und in der Liebe, die Liebe vor allem, die ich aufspüre, deren Abgründe, Liebe, die dort herauskommt, schmerzhaft, entkräftet, besiegt…

Verbrechen, Delirium, Dostojewskismus, alles ist in meinem Ding, um zu lernen und um zu genießen. […] Ich würde auf keinen Fall wollen, dass mir das Thema weggeschnappt wird. Das ist Brot für ein ganzes Jahrhundert Literatur. Es ist der Goncourt-Preis von 1932 in einem Sessel für den glücklichen Herausgeber, der dieses einzigartige Werk, diesen entscheidenden Moment der menschlichen Natur, festhalten kann… Mit meinen besten Wünschen.

Louis-Ferdinand Céline : Brief von Céline an den Verleger Gaston Gallimard (1932)

 Bébert war ein getigerter Kater aus Montparnasse, zur Welt gekommen wahrscheinlich im Jahr1935…

Über Bébert würde ich gerne schreiben – Bébert, den Überlebenskünstler und die Verkörperung der französischen Schläue. Doch vor mir liegt die umfangreiche Biographie seines erbärmlichen Besitzers – jenes verrückten Doktors, der unter dem Namen Céline (geborgt von seiner Großmutter) einige der bedeutendsten Prosawerke und dokumentarischen »Tatsachen-Romane« nicht nur dieses Jahrhunderts, sondern der gesamten westlichen Literaturgeschichte geschaffen hat.

Über Bébert zu berichten, wäre eine Freude.

Über Céline zu berichten, ist keine.

Georg Steiner (1929 – 2020) : Im Raum der Stille: Lektüren (2011)

Céline, Louis-Ferdinand, eigentlich L.-F. Destouches, französischer Schriftsteller, * Asnières 27. 5. 1894, † Meudon 2. 7. 1961; war nach einer Kriegsverwundung Kolonialangestellter in Kamerun, studierte 1918–24 Medizin, bereiste als Mitglied einer medizinischen Kommission des Völkerbunds Afrika und Amerika, ab 1928 Armenarzt im Pariser Vorort Clichy. Zunächst der politischen Linken angehörend, kehrte er 1936, vom Stalinismus enttäuscht, aus der UdSSR zurück und engagierte sich mit entschieden antisemitischer Haltung für den Nationalsozialismus; unter der Vichy-Regierung Kollaborateur, floh er 1944 zunächst nach Deutschland, dann nach Dänemark, wo er inhaftiert wurde. 1951 amnestiert, kehrte er nach Paris zurück und arbeitete in Meudon erneut als Armenarzt.

Célines Werk ist stark autobiografisch geprägt. Sein erster Roman »Voyage au bout de la nuit« (1932; deutsch »Reise ans Ende der Nacht«) ist zugleich sein wichtigstes Werk. 

Es bricht mit der Tradition des französischen Gesellschaftsromans und zeichnet eine Welt, die von Absurdität, Nihilismus, Anarchismus und Zivilisationspessimismus bestimmt ist. Bei der Darstellung existenzieller Ungesichertheit und extremer seelischer Zustände gehen Tragik, Groteske und Zynismus eine neuartige Verbindung im Medium einer bewusst antiintellektuellen und nonkonformistischen Sprache ein, die häufig gegen die klassischen Normen von Morphologie und Syntax verstößt. Sie nähert sich den Ausdrucksmöglichkeiten des Argot, ist offen für Archaismen und Neologismen und wird zu einem Ausdrucksmedium, das expressiv, emotional, imaginativ und zum Teil bewusst chaotisch, zugleich voller Lyrismen und Musikalität die Alltagserfahrung des modernen Subjekts, dem Obszönes und Pornografisches nicht fremd sind, darzustellen vermag.

(Brockhaus, Enzyklopädie)


Totenmaske (1863) : Christian Friedrich Hebbel (1832 – 1863)

Reflexionen

über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs,
von K. F. Hebbel.

 Die dümmsten Schafe sind immer zugleich die reißendsten Wölfe.

 Es gibt keine reine Wahrheit, aber ebensowenig einen reinen Irrtum.

 Es gibt Menschen, die nur das anbeten, was sie vernichten können.

 Am Ende existiert der Mensch nur durch seine Bedürfnisse.

 Es gibt Dinge, die man bereut, bevor man sie tut, und doch tut.

 Neues Irren, neues Leben!

 Je länger man lebt, je weniger weiß man, warum man lebt.

 Der Mensch hält seinen Seufzer gern für das Echo der Welt.

 Es gibt Menschen, die nichts haben als die Kraft, sich zu entschließen, und die doch dadurch schon viel haben.

 Die Welt soll aus dem Nichts gemacht sein. Sie ist vielmehr aus Dreck gemacht.

 Nicht was der Mensch i s t , nur was er t u t , ist sein unverlierbares Eigentum.

 Das Gewissen ist die Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt.

 Es gibt auch einen Spiegel, in den man sehen kann, was einem fehlt.

 Der Mensch hat freien Willen – d. h., er kann einwilligen ins Notwendige.

 Die Krankheit selbst ist eine Erscheinung des Lebens, die Toten sind nicht mehr krank, nur die Lebendigen.

 Der Mensch ist eine Bestie, und er hat seine Kultur vollendet, sobald er sich nur nichts mehr darauf einbildet, daß er es ist.

 Manches, was man ohne Grund verwirft, muß man studieren, um es – mit Grund verwerfen zu lernen.

 Nie kann ein Frosch erröten!

 Heiraten sollen, ohne zu lieben: Dummheiten auf vernünftige Weise begehen sollen!

 Eitelkeit wird verziehen, nicht Stolz. Durch jene macht man sich abhängig von anderen, durch diesen überhebt man sich über sie.

 Der Krieg ist die Freiheit gewisser Barbaren, darum ist es kein Wunder, daß sie ihn lieben.

 Es gibt Verbrechen, die von selbst straflos werden, wenn Tausende sie begehen.

 Wenn das Volk keine Leidenschaften mehr anschauen will, so hat es keine mehr.

 »In der demokratischen Republik soll sich keiner vor dem anderen hervortun!« Dann hat Shakespeare die Aufgabe, ewig stumm zu sein, Raffael muß sich die Hände abhauen, Mozart die Ohren verstopfen.

 Die Höhe der Kultur ist die einzige, zu der viele Schritte hinaufführen und nur ein einziger hinunter.

 Abstrahieren heißt Luft melken.

 Jeder Mensch trägt einen Zauber im Gesicht: irgendeinem gefällt er.

 Den Menschen sind Vernunft und Verstand gegeben, um den Sternenhimmel zu erklären. Aber wenige von ihnen machen den Versuch, und die anderen brauchen sie dann, um desto besser die fetten Würmer im Staube zu finden.

 Der Polyp kann sich aus sich selbst ergänzen; jedes Stück enthält einen g a n z e n . Der Mensch bleibt ewig Stückwerk.

Christian Friedrich Hebbel (1832 – 1863) : Tagebücher (Auszug: 1835 – 1863)


Hans Henny Jahnn (1894 – 1959) : Notizheft zur Niederschrift der Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« (1934-1946)

Das Eigene erweitern

Zu Hans Henny Jahn

Es gibt unzählige Kanones. Regionale, nationale, internationale, welche für jedes Jahrhundert und Epoche, welche für Lyrik, Essays, Tagebücher, Briefwechsel und auch für schwule Literatur. Der mir liebste entsteht mit diesem Buch: ein Kanon der Empfehlungen, der Zu-wenig-Gelesenen. In meinem persönlichen Kanon der Außenseiter befänden sich aus der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts beispielsweise Jürgen von der Wense, Siegfried Kracauer, Annemarie Schwarzenbach, Hubert Fichte, Ronald M. Schernikau. An der Spitze dieser Liste jedoch stünde der statistisch wahrscheinlich meistempfohlene von allen: Hans Henny Jahn.

Jahnn, 1894 in Stellingen geboren, emigrierte schon 1913 mit seinem Schulkameraden und Lebensfreund Gottlieb Harms (den er in einer »mystischen Hochzeit« heiratete) nach Norwegen ins abgelegenen Aurland, um einen Einsatz im Ersten Weltkrieg zu entgehen. Dort arbeitete er sich intensiv im Selbststudium mit Lehrbüchern in den Orgelbau ein und wurde dadurch, ohne je eine praktische Ausbildung absolviert zu haben, zum unbestrittenen Orgelexperten. Nach Kriegsende zog Jahnn mit seiner späteren Ehefrau Ellinor, mit Harms sowie mit dem Bildhauer Franz Buse ins Hamburger Umland, wo sie die Künstlergemeinschaft Ugrino gründeten. Darin praktizierten sie grenzüberschreitende Sexualität und polygame Beziehungen, planten gigantomanische Kirchenbauten und Orgelmusik, hingen kruden Hormontheorien und -therapien mit dem Urin trächtiger Stuten an. 

Sein expressionistischer Roman Perrudja, der 1929 erschien, wurde von den erstarkenden Nationalsozialisten als pornographisch und umstürzlerisch eingestuft, nach der Machtübernahme zog sich Jahnn auf die Insel Bornholm zurück. Dort schrieb er Fluss ohne Ufer und betrieb eine Art Biobauernhof – der Einklang mit der Umwelt und dem Kosmos wurde ihm zum großen Anliegen. Als er 1950 nach Deutschland zurückkehrte, engagierte er sich in Protesten gegen die Atomaufrüstung und die zivile Nutzung von Kernenergie sowie gegen jede Tierversuche.

Jahnn blieb zeitlebens ein beäugter Sonderling, verarmt, aber unvereinnahmt, mit umfassender Bildung, aber weitgehend ohne künstlerische Anerkennung.

Die Trilogie Fluss ohne Ufer wurde von 1949 bis 1961 veröffentlicht. Sie ist die Essenz von Jahnns schriftstellerischem Schaffen und wurde wegen ihrer erzählerischen Breite immer wieder mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften verglichen.

Sebastian Guggholz (*1982) in : Ein GegenKanon : Bücher, die auf der Strecke bleiben, und solche, die auf der Strecke bleiben sollten (Auszug). (Herausgegeben von Anton Thuswaldner, Wien 2022)


Daniel Spoerri (*1930) : Assemblage (Tableaux pièges)

 Dank sei dem Dreck, der mich lehrte, die Dinge nie rein zu betrachten, reduziert, abseits des Fettfilms und Rußes und Eiters. Das Blut, das am Marmortorso klebt, die Galle im Nacken, die Scheiße, durch die der Heros waten mußte. Zeigt mir ein Denkmal – ich sehe es bepißt, zeigt mir die Schönheit selbst, ich geh die Würmer kraulen, die dran nagen.

Dank sei dem Dreck, der mich überzieht und allem Schrubben trotzt. Ich rieche das schwärende Gedärm im Inneren des Porzellanprinzenpaars. Jede Hoffnung ist von Anstandsdamen bewacht, die heißen: Mißtrauen, Zweifel, Erfahrung, Erinnerung und Angst.

Helmut Krausser (*1964) : Substanz (Tagebücher 1992 – 2004)

Kein gleiches.

Über allen Gipfel
Ist Dreck.
Unter allen Wipfeln
Spüret der Zeck
Kaum deinen Bauch;
Die Vöglein verdrecken im Walde.
Warte nur! Balde
Verdreckest du auch.

Renald Deppe (*1955) : Für wenn ich nervgoethig bin… (Institut zur Verbesserung der Lage 2023)


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