Verortung & Perspektive _43

Missstand 23. Oktober 2022

Khaled Khalifa 
(*1964 in Aleppo)

Keiner betete an ihren Gräbern 
Roman
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

Am Ufer des Flusses Euphrat pulsiert zum Ende des 19. Jahrhunderts das Leben, in Aleppo herrscht reger Handel auf den Straßen.
Muslime, Christen und Juden, Araber und Osmanen leben ohne Hass miteinander…
Rückblenden, Zeitsprünge und Erinnerungen brechen die Chronologie auf, die Geschichten verzweigen sich.
Hier ist ein Meistererzähler am Werk, der uns die Bildhaftigkeit der arabischen Sprache näherbringt und die kulturelle Vergangenheit Syriens vor Augen führt, ein Reichtum, der unwiederbringlich verloren ist.

(Klappentext)

Makam „Turna“ : Jordi Savall : Orient-Okzident

Perspektive 43

Syrien. Jahrtausende Menschheitsgeschichte.
Syrien. Jahrtausende vergessene & verdrängte Menschheitsgeschichte.
Syrien. Jahrtausende vergessene, verdrängte & verleugnete Menschheitsgeschichte.

Syrien. 3000 Jahre Begegnung der Kulturen.
Syrien. 3000 Jahre Begegnung unterschiedlicher Begehren, Sehnsüchte & spiritueller Visionen.
Syrien. 3000 Jahre Begegnung von Machtinteressen.

Zum Beispiel: einiges v. u. Z. : 

3. und 2. Jahrtausend v. u. Z. : Im syrischen Großraum entstehen erste Stadtstaaten.

2000-1800 v. u. Z. : Abraham durchwandert mit seinem Stamm den syrischen Großraum.

Um 1400 v. u. Z. : In den syrischen Küstenstädten Biblos und Ugarit entsteht die erste Buchstabenschrift der Menschheit. Aus dieser entwickeln sich alle europäischen Alphabete.

Um 1250 v. u. Z. : Die semitischen Aramäer, aus dem Innern der arabischen Halbinsel kommend, bilden um die städtischen Zentren von Damaskus, Aleppo und Hama Kleinstaaten.

Um 1200 v. u. Z. : Israelitische Stämme erobern Kanaan.

Um 1000 v. u. Z. : König David erobert Jerusalem. Die Stadt wird religiöses und kulturelles Zentrum des Judentums.

Um 850 v. u. Z. : Die Assyrer, aus Mesopotamien kommend, erobern die aramäischen und phönizischen Kleinstaaten in Syrien.

Um 800 v. u. Z. : die Aramäer durchziehen als Händler den gesamten Vorderen Orient und machen das Aramäische zur wichtigsten Verkehrssprachen zwischen den Völkern. (Erst 1500 Jahre später wird das Aramäische als überregionale Sprache durch das Arabisch der Muslime schrittweise verdrängt.) 

639-609 v. u. Z. : Die Babylonier zerschlagen das assyrische Reich. Syrien wird babylonische Provinz.

587 v. u. Z. : König Nebukadnezar von Babylon zerstört Jerusalem. Unter den Babyloniern übernehmen die Juden das Aramäische als Umgangssprache; das bisherige Hebräisch wird nur noch von den Priestern als Sakralsprache gebraucht.

538 v. u. Z. : Der Perserkönig Kyros erobert das Babylonische Reich. Syrien wird persische Provinz.

333 v. u. Z. : In der Schlacht von Issos besiegt Alexander der Große die Perser. Die Hellenisierung Vorderasiens beginnt, die erst mit der Islamisierung rund 900 Jahre später endet.

64 v. u. Z. : Syrien wird römische Provinz. Das jüdische Königreich Palästina steht unter syrisch-römischer Oberhoheit.

7 : Jesus wird geboren. (Unsere Zeitrechnung „nach Christi Geburt“ basiert auf den ungenauen Berechnungen des Abtes Dionysos 525 n. Chr.)

Um 45 n. Chr. : Syriens Hauptstadt Antiochia wird zum Zentrum der christlichen Bewegung. Dort werden die Anhänger Jesu auch erstmals Christen genannt.

u. s. w. : Und so weiter…

Khaled Khalifa erzählt sprachbildgewaltig die Geschichte Syriens im 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart.
Khaled Khalifa erzählt einen fiktionalen Roman. Vom oftmals blutigen, aggressiven, intriganten Realgeschehen.
Khaled Khalifa schildert mit seiner Sprachkunst die Verluste des Seins punktgenauer als jede historische Bestandsaufnahme.

Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt auch die Lagen anderer zu erkunden. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt auch die Lagen anderer zu verbessern.
Durch Mut zur Begegnung mit dem Fremden. Durch Toleranz, Verständnis, Interesse & Kritik.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt auch die Lagen anderer zumindest nicht zu verschlechtern.
Durch Wut über den vermeintlichen Verlust des Eigenen. Durch Intoleranz, Unverständnis, Desinteresse & Ignoranz.

Vielleicht ist die Bequemlichkeit die größte aller (Tod)Sünden.

Sie verantwortet u.a. die unerträglichen Komfortzonen einer globalen Wellnessgesellschaft. 
Zeitigt u.a. all die Müdigkeits- & Trägheitsbefindlichkeiten in den vielen Wohlstandsparadiesen hier & anderswo.
Versucht diese Inseln zu begrenzen: durch Mauern aus Beton, Papiere, Bildungs- & Informationszugänge.
Versucht Inselsuchende auszugrenzen: durch Aktivitäten zur hemmungslosen Sicherung der Bequemlichkeiten.
All das ist u.a. »Menschlich, Allzumenschlich«. Doch gerade davor haben schon viele Allzumenschliche gewarnt.

Siehe Arnold Schönberg: Harmonielehre (Wien, 1911):   

Unsere Zeit sucht vieles. Gefunden aber hat sie vor allem etwas: den Komfort. Der drängt sich in seiner ganzen Breite sogar in die Welt der Ideen und macht es uns so bequem, wie wir es nie haben dürften. Man versteht es heute besser denn je, sich das Leben angenehm zu machen.
Man löst Probleme, um eine Unannehmlichkeit aus dem Weg zu räumen. Aber, wie löst man sie? Und dass man überhaupt meint, sie gelöst zu haben!
Darin zeigt sich am deutlichsten, was die Voraussetzung der Bequemlichkeit ist: die Oberflächlichkeit. So ist es leicht, eine »Weltanschauung« zu haben, wenn man nur das anschaut, was angenehm ist, und das übrige keines Blickes würdigt. Das Übrige, die Hauptsache nämlich. Das, woraus hervorginge, dass diese Weltanschauungen ihren Trägern zwar wie angemessen sitzen, aber dass die Motive, aus denen sie bestehen, vor allem entspringen dem Bestreben, sich zu exkulpieren.

Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt auch bitte alles »Übrige« eines Blickes zu würdigen.
Um nichts & niemanden leichtfertig exkulpieren zu müssen.  
Exkulpieren (schwaches Verb): vom Vorwurf des Verschuldens entlasten, befreien, rechtfertigen…
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt Weltbeschauung. Vor einer Manifestation von »Weltanschauung«.
Zum Beispiel.

(Renald Deppe)

P.s.:

Sollte die geneigte Leserschaft an Fakten & Perspektiven historischer Geschichtsschreibung interessiert sein, sollten die wertgeschätzten Leser & Leserinnen an Ver- & Entflechtungen von Familien-, Patriarchen-, Konfessions- & diversen oftmals verdrängten Kolonialmachtzwistigkeiten Interesse haben, das Institut zur Verbesserung der Lagen empfiehlt zur Verbesserung der Fragen (nicht nur) im aktuellen Konflikt:

Gerhard Schweizer (*1940 in Stuttgart)

Syrien verstehen
Geschichte, Gesellschaft und Religion
Klett-Kotta, Stuttgart 2015

Wer Syrien verstehen will, muss jenes Syrien kennenlernen, als es noch nicht zerstört war: seine Geschichte, seine Politik, seine Religion. Dann wird deutlich, wie sehr der gesamte Nahe Osten von der Lage in Syrien abhängt. Die syrische Katastrophe droht zum Unheil für den nervösen Unruheherd unserer Welt zu werden.

(Klappentext)


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