Verortung & Perspektive _42

Hausstand 16. Oktober 2022

Tanizaki Jun’ichirō 
(1886 – 1965)

Lob des Schattens 
Entwurf einer japanischen Ästhetik
Aus dem Japanischen übersetzt und kommentiert
von Eduard Klopfenstein
Manesse Verlag, Zürich 2010
Titel der japanischen Ausgabe:
»In’ ei-raisan« (1933) 

Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens heraus. So entdeckten unsere Vorfahren, die wohl oder übel in dunklen Räumen wohnen mussten, irgendwann die dem Schatten innenwohnende Schönheit, und sie verstanden es schließlich sogar, den Schatten einem ästhetischen Zweck dienstbar zu machen. Tatsächlich gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung der Schatten. Sonst ist überhaupt nichts vorhanden. 

Abendländer wundern sich, wenn sie japanische Räume anschauen, über ihre Einfachheit und haben den Eindruck, es gäbe da nur graue Wände ohne die geringste Ausschmückung. Das ist von ihrem Standpunkt her gesehen durchaus plausibel; aber es zeigt, dass sie das Rätsel des Schattens nicht begriffen haben. Wir erfreuen uns an jener zarten Helligkeit, die entsteht, wenn ein bereits diffuses Aussenlicht allenthalben die dämmerfarbigen Wandflächen überzieht und nur mit Mühe einen Rest von Leben bewahrt. Für uns übertrifft diese Helle oder dieses Dämmerlicht auf den Wänden jegliche Art von Dekor, und wir werden seines Anblicks nie überdrüssig. Darum sind richtigerweise die Sandwände immer in einer einheitlichen Farbe angestrichen, damit die Lichtwirkung nicht beeinträchtigt wird. Nur von Raum zu Raum gibt es leicht veränderte Farbtönungen – und was für delikate Unterschiede sind das doch!

Wenn wir eine Bildrolle aufhängen, dann achten wir vor allen Dingen auf den Einklang der Rolle mit der Wand der tokunama, also auf das, was man tokoutsuri (etwa: Stimmigkeit in Bezug auf die Wandnische) nennt. Eben darum legen wir auch auf die Art, wie die Rolle aufgezogen ist, gleich viel Gewicht wie auf die Kalligraphie oder das Bild selbst, das den Inhalt der Rolle ausmacht. Wenn die Stimmigkeit schlecht ist, so verliert jedes noch so berühmte kalligraphische oder malerische Werk seinen Wert als Hängebild. Umkehrt gibt es Fälle, da eine für sich genommen keineswegs zu den Meisterwerken zählende Kalligraphie oder Malerei, sobald man sie in die Nische eines Teeraums hängt, damit aussergewöhnlich gut harmoniert, so dass Bildrolle wie Raum plötzlich gesteigert hervortreten.

Und wenn man nachprüft, was denn bei dieser an sich nicht gerade hervorragenden Rolle eine so harmonische Wirkung hervorbringt, dann liegt es gewöhnlich an der antiken Qualität des Papiers, der Tuschfarbe, oder der Leinwand, auf die das Bild montiert ist. Diese antike Qualität steht im genau entsprechenden Verhältnis zur Dunkelheit der Wandnische oder des ganzen Raumes. Aus diesem Grund legen wir bei der Wahl von Bildrollen auf das Alter und die Patina so viel Wert. Ein neues Bild, sei es nun in Tusche oder koloriert, zerstört nämlich die Schattenwirkungen der Wandnische, wenn man nicht ausserordentlich achtgibt.

Doch warum eigentlich tritt diese Neigung, das Schöne in der Dunkelheit zu suchen, nur bei den Orientalen mit solcher Stärke hervor? Auch im Westen hat es ja wohl eine Zeit ohne Elektrizität, Gas und Erdöl gegeben, aber so weit mir bekannt ist, hat man dort nie den Hang gehabt, sich am Schatten zu ergötzen.

Seit jeher haben japanische Gespenster keine Beine, während sie im Westen, so heißt es, mit Beinen versehen sind, dafür aber einen gänzlich durchsichtigen Körper besitzen. Selbst einem solchen geringfügigen Detail kann man entnehmen, dass in unseren Phantasien gewöhnlich lackschwarze Dunkelheit herrscht, während man im Westen sogar die Gespenster mit einer gläsernen Helligkeit ausstattet.

Wir lieben auch bei allerhand kunstgewerblichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs Farben, die man als Anhäufung von Schatten bezeichnen kann; die Leute im Westen dagegen lieben Farben, in denen sich das Sonnenlicht konzentriert. In ihren Zimmern streichen sie die Decken und Wände weißlich an, um möglichst alle Schattenwinkel auszumerzen. Und bei der Anlage von Gärten breiten sie ebene Rasenflächen aus, wo wir schattige Bäume und tiefes Buschwerk pflanzen. Aus was für Gründen kommt es wohl zu derartigen Geschmacksunterschieden?

Meiner Meinung nach ist es die Art von uns Asiaten, die Umstände, in die wir einbezogen sind, zu akzeptieren und uns mit den jeweiligen Verhältnissen zufriedenzugeben. Deshalb stört uns das Dunkel nicht, wir nehmen es als etwas Unabänderliches hin; wenn es an Licht fehlt, sei’s drum – dann vertiefen wir uns eben in die Dunkelheit und entdecken darin eine ihr eigene Schönheit. 

Demgegenüber sind die aktiven Menschen des Westens ständig auf der Suche nach besseren Verhältnissen. Von der Kerze zu Lampe, von der Lampe zum Gaslicht, vom Gaslicht zum elektrischen Licht fortschreitend, streben sie unablässig zur Helligkeit und mühen sich ab, selbst den geringfügigsten Schatten zu verscheuchen. 

Hazy Osterwald Sextett : Konjunktur-Cha-Cha (1960)

Perspektive 42

Das Eigene & das Fremde. Die Nähe & die Ferne. Das Vertraute & das Unbekannte.
Das Ich & das Du. Das Gewohnte & das Unerwartete. Das Selbstverständliche & das Unverständliche.
Sie alle bilden Projektionsflächen für unendlich viele Missverständnisse. Und Sehnsüchte.

Wachstum. In allen Bereichen. Um jeden Preis.
Globalisierung. Für alle Wachstumsbereiche. Um jeden Preis.
Der Preis: Abhängigkeit von Wachstumsstrategien. Um jeden Preis.

Die Folgen: Es muss wachsen. Obwohl schon längst nichts mehr wachsen kann. Sollte.
Konjunktur rund um die Uhr. Obwohl schon längst die Zeit der Ablaufdaten angebrochen ist.
Hegemonie der Expansionstheorien. In allen und für alle Bereiche. Um jeden Preis.

Unsere Seelen verkümmern. Vor lauter Wachstum in, um, an, neben, über, unter, mit & für uns. 
Unsere Gedanken verdampfen. Vor lauter Heißluft-Konjunkturgeschwätz der vereinten Börsennotierten.
Unsere Gesellschaft verroht. Vor lauter hegemonialen Wachstumsinteressen. Der Wirtschaftsgroßmächte.

Die Folgen: Es gibt nur noch das Eigene, die Nähe, das Vertraute, das Ich, das Gewohnte, das Selbstverständliche.
Das Fremde, die Ferne, das Unbekannte, das Du, das Unerwartete, das Unverständliche dürfen das Wachstum nicht stören. 
Werden allenfalls als potentielle Absatzmärkte wahrgenommen. Toleriert. Akzeptiert. Ausgebeutet. Geschliffen.

Wir brauchen Kontrapunkte. Für Viele & Vieles. 
Für andere Märkte, Börsen, Ideen, Gedanken, Interessen, Neigungen, Bedürfnisse, Wahrnehmungen.
Wir brauchen Abstand von diversen unlebbaren, verlogenen, unerträglichen, verkommenen Echtzeit-Zuständen.

Tanizaki Jun’ichirō hat ein wunderbares Büchlein geschrieben. (Nicht nur) Für & über seine fernöstliche Heimat.
Über den Verlust des Eigenen, der Nähe, des Vertrauten, Gewohnten, Selbstverständlichen: der Authentizität.
Über den Umgang mit Licht & Schatten. Über die Stille im Dunkel. Über Eleganz & Glanz abseits künstlicher Kaltlichtquellen.

Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt (zum Beispiel) bitte die sorgsame Kenntnisnahme folgender Zeilen:

Jedesmal, wenn ich in Kyoto oder Nara einen Tempel besuche und dort zu einem althergebrachten, dämmerigen, tadellos sauberen Abort gewiesen werde, kommen mir die Vorzüge der japanischen Architektur so richtig zum Bewusstsein. Ein Teeraum ist gewiss ein sehr ansprechender Ort, aber noch mehr ist der Abort japanischen Stils so konzipiert, dass der Geist im wahrsten Sinne Ruhe findet. Solche Örtchen stehen immer vom Hauptgebäude getrennt im Schatten eines Gebüschs, wo einem der Geruch von grünem Laub und Moos entgegenkommt; sie sind mit dem Haus durch einen gedeckten Gang verbunden, und wenn man in ihrem Halbdunkel kauert und, vom matthellen Widerschein der shõji beschienen, sich seinen Träumereien hingibt oder den Garten vor dem Fenster betrachtet, so ist das ein ganz unbeschreibliches Gefühl.

Meister Sõseki soll den allmorgendlichen Toilettenbesuch zu den Annehmlichkeiten des Lebens gerechnet haben, indem er bemerkte, es handle sich in erster Linie um ein physiologisches Wohlgefühl. Es dürfte kaum einen Ort geben, wo man dieses Wohlgefühl deutlicher empfindet, als den japanischen Abort, der von ruhigen Wänden und feiner Holzmaserung umgeben ist, der den Blick auf die Farben des blauen Himmels und des grünen Laubwerks freigibt. Und dazu gehört unabdingbar – ich sage es noch einmal – ein gewisses Halbdunkel, gründliche Sauberkeit und eine Stille, die selbst das Summen einer Mücke zum Ohr dringen lässt. 

Ich liebe es, auf einem solchen Örtchen dem sanften Rieseln des Regens zu lauschen. Besonders im Kantõ-Gebiet haben die Aborte am Boden ein schmales, langes Fenster zum Auskehren des Staubs; von da her hört man den leisen Aufprall der vom Vordach oder den Baumblättern herabfallenden Tropfen noch näher, wie sie etwa das Fundament einer Steinlaterne waschen oder das Moos auf den Schrittsteinen anfeuchten, bevor die Erde sie aufsaugt.

In der Tat, es gibt keinen geeigneteren Ort, um das Zirpen der Insekten, dem Gesang der Vögel, eine Mondnacht, überhaupt die vergängliche Schönheit der Dinge zu jeder der vier Jahreszeiten auf sich wirken zu lassen. So könnte man nicht ohne Grund behaupten, die japanische Architektur habe hier ihren raffiniertesten Ausdruck gefunden. Unsere Vorfahren, die die Gabe hatten, alles zu poetisieren, machten aus den an sich unsaubersten Teil des Hauses einen Ort des guten Geschmacks, verbanden ihn mit den Schönheiten der Natur und umgaben ihn mit einer Aura von liebenswerten Assoziationen. Verglichen mit der Einstellung der Abendländer, die den Ort von Grund auf als unrein behandeln und sich sogar scheuen, in der Öffentlichkeit davon zu sprechen, ist die unsre viel weiser und erreicht ein Höchstes an geschmacklichen Raffinement.

Ein Nachteil, falls man unbedingt einen solchen nennen will, ist allenfalls die Entfernung vom Hauptgebäude zu sehen, was das hinausgehen während der Nacht erschwert und besonders im Winter Erkältungsgefahr in sich birgt; aber da nach einem Ausdruck von Saitõ Ryoku’u »guter Geschmack eine kalte Sache« ist, so fühlt man sich wohler, wenn an einem solchem Orte die gleiche Kälte wie in der Umgebung draussen herrscht. Es ist höchst unangenehm, wenn sich in den westlichen Toiletten der Hotels die warme Luft der Zentralheizung ausbreitet. 

Das hätte doch etwas: unsere Vorstands-, Börsen-, Parlaments- & Wirtschaftsalphatiermenschen: UNS ALLE auf solch einen Abort zu sehen.
Das hätte doch etwas: das gemeinsame Erleben einer Wunderkammer des guten Geschmacks. Trotz aller vermeintlicher Unreinheiten.
Das hätte doch etwas: das gemeinsame Lauschen in die Zauberopern einer Mondnacht. Trotz Regen & Kälte.

Oder…?

(Renald Deppe)

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