Verortung & Perspektive _41

Marktstand 9. Oktober 2022

Truman Capote 
(1924 – 1984)

Es werden mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen als über nicht erhörte.

Theresa von Àvila

Irgendwo auf dieser Welt lebt eine außergewöhnliche Philosophin namens Florie Rotondo. Neulich stieß ich auf eines ihrer Denkergebnisse, und zwar in einer Zeitschrift, die vornehmlich das abdruckt, was Schulkinder schreiben.
Es lautete: Wenn ich was machen dürfte, würde ich die Mitte unseres Planeten Erde reisen und nach Uran, Rubinen und Gold suchen.
Auch nach Unverdorbenen Ungeheuern.
Dann würde ich aufs Land ziehen. Florie Rotondo, acht.
Florie, Schatz, ich weiß genau, was du meinst – auch wenn du es nicht so genau weißt: wie solltest du auch, mit acht?
Denn ich bin in der Mitte unseres Planeten gewesen; habe jedenfalls die Strapazen durchgemacht, die solche eine Reise mit sich bringt.
Ich habe nach Uran, Rubinen und Gold geschürft und unterwegs andere beobachtet, die sich derselben Jagd verschrieben hatten.
Und weißt du, Florie – ich bin ihnen begegnet, den Unverdorbenen Ungeheuern!
Verdorbenen auch.
Doch die unverdorbene Unterart ist die große Ausnahme: weiße Trüffel im Vergleich zu schwarzen; bitterer Wildspargel im Gegensatz zu dem in Beeten angepflanzten.
Das Einzige, was ich nicht getan habe: ich bin nicht aufs Land gezogen.

Erhörte Gebete
Aus dem Amerikanischen von Heidi Zernig
Kein & Aber Pocket, Zürich – Berlin 2015
Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel
»Answered Prayers« bei Random House, New York

 Es sollte sein Opus Magnum werden, ein schonungsloses Sittenbild proustscher Dimension, doch Capote konnte und wollte es nicht abschließen. Gleichwohl ist Erhörte Gebete sein konsequentestes Werk, eine giftgesättigte Abrechnung mit der feinen Gesellschaft. Hier schildert Capote die Reichen und Mächtigen, die Verrückten und Verruchten, all jene, die ihn jahrzehntelang als ihr Schoßhündchen betrachtetet hatten.

Als das erste Kapitel des Schlüsselromans Mitte der siebziger Jahre im Esquire abgedruckt wurde, erkannten Capotes Freunde, dass das Schoßhündchen durchaus auch zubeißen konnte: Plötzlich waren ihre intimsten Geheimnisse – vom Seitensprung bis zum vertuschten Mord – schwarz auf weiß nachzulesen.

»Es ist sehr schwierig, Gentleman und Schriftsteller zu sein«, hat W. Somerset Maugham einmal bemerkt.
Mit Erhörte Gebete entschied sich Capote eindeutig für Letzteres.

(Klappentext)

Charles Mingus (1922 – 1979) : Passions of a Man : Wednesday Night Prayer Meeting (1960)

Perspektive 41

1924 erblickte Capote in New Orleans das (angebliche) Licht der Welt. 
1934 übersiedelte Capote nach NewYork, das (angebliche) Zentrum einer Neuen Welt.
1945 gelang Capote mit Erzählungen (Wie ich die Dinge sehe) der (angebliche) literarische Durchbruch.
1948 veröffentlichte Capote das (angeblich) meistdiskutierte Buch in Amerika und Europa: »Andere Stimmen, andere Räume«.
1950 bereiste Capote die (angeblich) Alte Welt und Nordafrika.

1958 erschien sein Roman »Frühstück bei Tiffany«. Die Verfilmung mit Audrey Hepburn brachte Berühmtheit. Und Monetäres.
1965 publizierte Capote den mehrmals verfilmten Tatsachenroman »Kaltblütig«. Eine amerikanische Mordgeschichte. Ein Bestseller.
1966 unterschrieb Capote einen gut dotierten Vertrag bei Random House für einen neuen Roman: »Erhörte Gebete«.
Ab 1966 wurde der bekennende Homosexuelle Capote zunehmend Alkohol- & Drogenabhängig. Schreib- und Denkblockaden folgten. 
1984 verstarb Truman Capote in Los Angeles. Nachdem er die Mitte der Welt mit all ihren zumeist verdorbenen Ungeheuern beschrieb.
1987 erschienen posthum seine »Erhörte Gebete«. Unvollendet. Sprachgewaltig. Ein (nicht nur US-) amerikanischer Albtraum.

Truman Capote und seine Gebete waren und sind schonungslos unbequem.
Truman Capote schildert eine Welt ohne Erbarmen zum Erbarmen.
Truman Capote dokumentiert die Abgründe in den Seelen & Brieftaschen seiner Zeit- & Leidgenossen.
Truman Capote verschriftet die sexuelle Gier & gierige Sexualität der Mächtigen wie Ohnmächtigen.
Truman Capote beschreibt (auch) bis heute (leider) Wirkmächtiges. Zutreffendes:

 Jeffrey Epstein war in seiner Zelle im Metropolitan Correctional Center im August 2019 gestorben. Laut der Gerichtsmedizin beging er Suizid. Sein Tod ist Gegenstand von drei Ermittlungen in den USA. Nur einen Monat vorher war Epstein, verurteilter Sexualstraftäter und mil­lio­nenschwerer Investmentbanker, verhaftet worden. Laut Anklage soll er zwischen 2002 und 2005 einen Sexsklavinnenring in New York und Florida betrieben haben – und Hunderte minderjährige Mädchen sexuell missbraucht und zur Prostitution angestiftet haben. Der Prozess hätte im Juni 2020 beginnen sollen, im Fall einer Verurteilung hätten ihm bis zu 45 Jahre Haft gedroht. Epstein hatte alle Vorwürfe abgestritten.

Epstein verkehrte in elitären Kreisen. Das geht aus öffentlichen Fotos, Zeugenaussagen und Epsteins „little black book“ hervor. Das Adressbuch aus dem Jahr 2005 enthält Hunderte Telefonnummern von mächtigen und reichen Prominenten. Es gibt gemeinsame Fotos und Videos von Epstein und US-Präsident Donald Trump. Auch Bill Clinton taucht mit 21 Telefonnummern in dem Adressbuch und in den Logbüchern von Epsteins Privatjet auf, ebenso der Filmproduzent Woody Allen. Heute distanzieren sich alle von ihm. Welche Rolle sie in den Missbrauchsfällen spielten, ist nicht geklärt.
Erste Konsequenzen für einen möglichen Mittäter gab es im Fall Prinz Andrew, einer der Söhne von Queen Elizabeth. Virgina Giuffre sagte öffentlich aus, sie sei eine von Epsteins Sexsklavinnen gewesen und dreimal zum Sex mit dem Royal gezwungen worden, zweimal davon als Minderjährige im Jahr 2001. Nach einem BBC-Interview, in dem er alle Vorwürfe abzustreiten versuchte, legte Prinz Andrew seine öffentlichen Ämter nieder. (taz, die tageszeitung: Berlin: 16.01.2020)

Ein Beispiel. Von vielen. Nicht nur in den USA.

Truman Capote nutze seine ungeheuren Gaben und seine ungemeine Berühmtheit.
Um Viele auf Vieles aufmerksam zu machen.
Um Vieles für Viele in Sprache zu kleiden.
Unerhörtes. Unbequemes. Unaussprechliches. Unsägliches. Ungereimtes. Unleidliches. Truman Capote beschreibt die Verschattungen auf seiner Reise zum (angeblichen) Mittelpunkt der Erde. Unnachahmlich.

Renald Deppe

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