Verortung & Perspektive _39

Hausverstand 25. September 2022

Elfriede Gerstl 
(1932-2009)

Zum Beispiel:
Die Werkausgabe im Literaturverlag Droschl, Graz:

Band 1 Mittellange Minis. Werke 1962-1977
Band 2 Behüte behütet. Werke 1982-199
Band 3 Haus und Haut. Werke 1995-2009
Band 4 Tandlerfundstücke. Verstreut publizierte Texte von 1955 bis 2009 und der Band Lebenszeichen
Band 5 Das vorläufig Bleibende. Texte aus dem Nachlass und Interview
s

web: https://www.droschl.com/autor/elfriede-gerstl/

 jemanden umarmen

jemanden umarmen
weil er sich fürchtet
weil ich mich fürchte
weil er traurig ist
weil ich traurig bin
weil wir uns wiedersehn
weil wir abschiednehmen
jemanden umarmen
               weil man es kann
jemanden umarmen
               solange man es kann

guter oldie morgen

24. 03. 2008
ostermontag

otto ist schon operiert
hanna geht grad ins spital
ernie hat angst vor der magensonde –
              geht aber hin
anna kann gut mit den krücken
wer kocht für konrad
wer kauft für karin ein
irmgard isst wieder
              halt ohne achtel und kaffee
herwig hatscht und hört schlecht
              geht aber zu lesungen
susanne kann auf einem aug wieder sehen
gestorben ist diese woche noch niemand
lass uns morgen wieder telefonieren

 woher soll jemand der denkt wie ich trost holen

religionen sind teils freundliche
teils brutale märchen
in der philosophie
spielens ende-nie
in einer therapie mit viel glück
kommt vielleicht was zurück
nach vierzig jahren suchen
kannst den passenden buchen
so wenig emotionale haltegriffe
am ehesten
in den wenigen verlässlichen freundschaften
die keineswegs jedem vergönnt

 as time goes by

ein spieler
ein spiesser
ein spasshaber
ein strawanzer
eine strawanzerin
ein schneebrunzer
den freundeskreis nicht
      vergreisen lassen
junges blut
durch altkluges quasseln
      anlocken

 nach strenger diät

organe gesund
ansonsten am hund

 ich will gar nicht wissen

ich will gar nicht wissen
         ob die hunde die bellen
                     auch beissen
hauptsache die lauten
           und die aggressiven
bleiben unter sich
und irritieren nicht
                    die friedlichen
und genau das ist nicht
                     zu bekommen

 koexistenz

du floss
ich fliessen
du scheissen
ich pissen
wir miteiander
reden müssen

 vögelfrei
   eine spruchsammlung

1 nur ein viertelstündchen vögeln
2 stetes vögeln höhlt den stein
3 doppelt gevögelt hält besser
4 wer schnell vögelt vögelt doppelt
5 wenn zwei vögeln freut sich der dritte
6 er kann nicht bis drei vögeln
7 von zeit zu zeit seh ich den alten gern vögeln
8 blindes vögeln schadet nur
9 vögeln ist die erste bürgerpflicht
10 wer andern eine grube vögelt fällt selbst hinein
11 vom vögeln in den mund leben
12 wenn es dem esel zu wohl ist geht er aufs eis vögeln
13 einem geschenkten gaul vögelt man nicht ins maul

 keimzellengeflüster

vater bild
vater land
vater mörder
mutter natur
mutter mal
mutter mund
mutter kuchen
mahlzeit

 an die ärsche

was immer du verkaufen willst
genier dich nicht
garniers mit frauenfleisch
auto mit frau
haus mit frau
strümpfe mit frau
zeitschrift mit titeltitten
mit frauenspeck fängt man mäuseriche
und die mäusinnen
                 vergleichen
                          finden sich häßlich
sind eingeschüchtert

• das wachstum der nullen

auf einmal wissen
          wo dior wohnt
auf einmal von tuch und tapeten
                  einen tau haben
über wen man was rümpft riechen
              und wohin man jetzt jettet
mit der vermehrung der nullen
            auf den schweizer konten
stimmen sie ein ins vertrauliche
                       gemauschel
über kitzbühel, st. moritz und
             lagerfeld
denn das ist ihre welt
und sonst gar nichts

• denkkrümel

ich bin ein sportsitzer
ich betreibe sitzsport

 gemüt-licher käfig

heimat ist dort wo man sich auskennt
heimat ist was man kennt
meine kafeehäuser
meine tandler
ein paar strassenzüge
in wien und anderswo
meine freunde und feinde
zwischen den kastanienbäumen meiner kindheit
steht der flakturm meiner kindheit
immer nur dieses wiedererkennenwollen
                   des einmal erkannten
das zusammenglucken
                   im gewohnten stallgeruch
heimat ist käfig
                   mit gitterstäben aus gefühlen
wie die familie
in die man nur zurückkehrt
in einem anfall
                 von schwäche

 künstlerschicksal
   (aphorismus)

anfangs
            für wenige
und dann
            nur mehr für sich

 schöner tot sein

ein baum werden
vögel zu gast haben
das wär was
             worauf man sich freuen könnte

Edvard Grieg (1843 -1903) : Aus Holbergs Zeit : I. Präludium

Perspektive 39

Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt die feine Klinge. Nicht das Beil.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt den feinen Humor. Nicht den Sarkasmus.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt das vieldeutige Gedicht. Nicht den Werbetext.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt die vielgestaltige Weltsicht. Keinen politpatriotischen Stumpf- & Dumpfsinn. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt Elfriede Gerstl.

Die feine Klinge: niemals mit dem erhobenen Zeigefinger be- & verhandelt E.G. die Probleme unserer Zeit.
Der feine Humor: niemals hätte E.G. nicht auch über sich selbst lachen, staunen & lächeln können.
Das vieldeutige Gedicht: niemals könnte E.G. egozentrische Befindlichkeitstexturen & Denkpositionen verschriften.
Die vielgestaltige Weltsicht: niemals blickte E.G. nicht stets auch über die Tellerränder heimatlicher Staatskäfige.   
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt Elfriede Gerstl.

Anläßlich des frühen Freitodes ihrer Dichter-Kollegin Hertha Kräftner (1928 – 1951) schrieb E.G.:

 Mit der Aufgeklärtheit eines weiblichen Bewusstsein der 90er, das durch das Wirken von 20 Jahren Frauenbewegung gestärkt ist, mag sich eine junge Frau heute wundern, dass eine so intelligente und begabte Frau wie die Kräftner in ihrer aufblickenden Fixierung auf männliche Autorität den Sadismus ihrer Zeitgenossen bedient hat; aber wer wie ich die 40er und 50er kennengelernt hat, weiß, dass eine Frau sich nur um den Preis der Verweigerung und Isolation vor den Wirkungen dieses selbstverständlichen Machtzusammenhanges schützen konnte.

(Aus: »Hertha Kräftner, ein Beispiel weiblicher Selbstaufgabe«, 1991)

E.G. führte (auch) als Feministin eine feine Klinge bei ihren Verortungen von bedrückenden Mannsbildmächten.
Isolation(en) & Verweigerung(en) war(en) auch ihr nicht fremd.
Die Werkgeschichte ihres vielerorts abgelehnten Montageromans »Spielräume« (1977) dokumentiert jene Aus- & Begrenzungen. 
In diesem einzigartigen Prosaexperiment äußert sich E.G. u.a. freigeistig (auch) zur Weltpolitik: 

 Europa ist nämlich ein großes Häusl mit Zwiebelmuster und Stuckdecke,
Amerika ist ein großes Häusl, das um Dollarmillionen ein Geruchsspray entwickelt hat, das ebenfalls nach Häusl riecht,
in den zwei kleinen Häusln im Vorderen Orient übt man das Wettscheißen,
ihre zwei großen Scheißbrüder liefern das Futter und beobachten alles durch ihr Stirnauge,
ich weiß keinen Ort der nicht stinkt und verseucht ist,
ich lasse mir auch nicht länger die deutschen Wälder und Krematorien einreden und auf die chinesischen Reisfelder würde ich gerade noch unsere mittelalterlichen Mühl- und Waldviertler Bauern schicken, damit sie wenigstens im frührevolutionären 19. Jahrhundert ankommen,
aber wohin mit einem, der schon im 20. ist,
aus der Rakete aussteigen und das Kabel abzwicken,
oder die Nase verstopfen und die Mundatmung erlernen,
oder selber ein großer Arsch werden, der in jedes Häusl paßt?

E.G., als jüdisches Kind in Wienverstecken den Holocaust überlebend, wurde 2007 der Heimrad-Bäcker-Preis verliehen. 
E.G. gab als kleinzierliche »Grand Dame« der österreichischen Nachkriegsliteratur einen Rückblick über ihre damalige Situation:

 1973 von berlin zurückgekehrt, in das ich mich geflüchtet hatte, weil es mir in wien der 60er jahre so elend ging – wohnprobleme, kein eigenes zimmer, keine publikations- und auftrittsmöglichkeiten -, war ich, von berlin enttäuscht, in wien unverändert arm, krank, aussichtslos – mit mir war wirklich kein Staat zu machen. 

Und nicht nur E.G. drohte im braunen Kultursumpf der ewiggestrigen Boden- & Statthalter jener Zeit zu versinken.
Es war die Situation vieler „Elender Skribenten“ der jungen innovativen austriakischen Literaturszene nach dem Kriege.

Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt die feine Klinge. Beile gibt zu viele.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt den feinen Humor. Sarkasmen gibt es zu viele.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt das vieldeutige Gedicht. Werbetexte gibt es genügend.
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt die vielgestaltige Weltsicht. Politpatriotischen Dumpf- & Stumpfsinn gibt es genügend. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage empfiehlt das Werk von Elfriede Gerstl. Kostbar. Zeitlos. Einzigartig.

(Renald Deppe)

p.s.: und bitte nicht vergessen:

altes lied

gedichte erbitten beachtung
wie kinder spielen sie
im sprachwald
und werden nur von wenigen
so ernst genommen
wie ihre erwachsenen verwandten
die breitspurigen romane

elfriede gerstl, august 2006

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