Verortung & Perspektive _37

Informationsstand 11. September 2022

Olga Tokarczuk

(*1962 in Sulechów bei Zielona Góra, Polen)

DIE
JAKOBS
BÜCHER

oder

Eine große Reise über sieben Grenzen
durch fünf Sprachen und drei große Religionen,
die kleinen nicht mitgerechnet.

Eine Reise, erzählt von den Toten
und von der Autorin ergänzt
mit der Methode der Konjektur,
aus mancherlei Büchern geschöpft
und bereichert durch Imagination,
die größte natürliche Gabe des Menschen.

Den Klugen zum Gedächtnis, den Landleuten zur Besinnung,
den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung.

Aus dem Polnischen von
Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag, Zürich 2019
Die polnische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Kiȩgi Jakubowe« im Verlag Wydawnictwo Literackie.

»NUR DER FREMDE VERSTEHT DIE WELT.«

Er galt als Luther der Juden – seine Anhänger sahen in ihm einen Messias, für seine Gegner war er ein Scharlatan, ja Ketzer.
Jakob Frank war eine der schillerndsten Gestalten im Europa des 18. Jahrhunderts.
Die Religionen waren ihm wie Schuhe, die man auf dem Weg zu Herrn wechseln könne: 
Er war Jude, bevor er mit seiner Gefolgschaft zum Islam und dann zum Katholizismus konvertierte.
Er war ein Grenzgänger, der, aus dem ostjüdischen Schtetl stammend, das Habsburger und Osmanische Reich durchstreifte und sich schließlich in Offenbach am Main niederließ.
DIE JAKOBSBÜCHER sind das vielstimmige Porträt einer ambivalenten, faszinierenden historischen Figur, deren Lebensgeschichte zum Vexierbild einer Welt im Umbruch.
Olga Tokarczuk hat einen historischen Roman über unsere Gegenwart geschrieben, der zugleich, zutiefst aufklärerisch, ein Plädoyer für Emanzipation, Toleranz und Vielfalt ist.

(Klappentext)

Krzystof Penderecki (1933 – 2020) : 
Als Jakob erwachte aus dem Schlaf, sah er, daß Gott dagewesen war. Er hat es aber nicht bemerkt. (1974)

Perspektive 37

Wir wissen es:

Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht angenommen werden.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht vergeben werden.

Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2018 ging an die polnische Autorin Olga Tokarczuk.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2018 wurde rückwirkend im Jahr 2019 vergeben.
Skandale & Austritte erschütterten 2018 die Akademie und verunmöglichten damals eine Vergabe.
Die Wahl der Preisträgerin und die Vertagung des Festaktes waren eine weise Entscheidung. 

Olga Tokarczuks Roman spielt zur Zeit eines dualistischen, föderalen und feudalen Ständestaates. 
In der »Königlichen Republik der Polnischen Krone und des Großfürstentums Litauens (1559-1795). 
Eine Städtereise von Norden nach Süden:
Dorpat (heute Estland) über Witebsk (heute Belarus) und Smolensk (heute Russland) bis Kudak & Tomakiwka  (heute Ukraine).
Eine Städtereise von Westen nach Osten:
Danzig (heute Polen) über Riga (heute Lettland) und Vilnius (heute Litauen) bis Kiew & Poltawa (heute Ukraine).

Gesprochen wurden im Großfürstentum Litauen, Herzogtum Livland & Preußen 
und in dem Gebiet der Polnischen Krone folgende Kanzlei- & Landessprachen:
Polnisch, Masurisch, Litauisch, Schemaitisch, Lettisch, Kaschubisch, Ruthenisch,
Deutsch, Russisch, Hebräisch, Jiddisch, Armenisch, Ukrainisch, Altbelarusschisch & Latein.

Die Bevölkerung bestand also aus Polen, Litauern, Deutschen, Juden, Letten, Esten, 
Belarussen, Ukrainern, Großrussen & Tataren. Mit einer einzigartigen konfessionellen Vielfalt.
Nach 1795 wurde die Adelsrepublik Polen-Litauen (welche u.a. die Leibeigenschaft aufrecht erhielt) 
zwischen dem Hause Habsburg, dem Königreich Preussen und dem russischen Kaiserreich aufgeteilt. 
Und von der Landkarte gelöscht. Bis 1918. 

In der Zwischenkriegszeit wurden die Zu- & Umstände in der Adelsrepublik besonders in Polen romantisiert.
Und zum konstituierenden Mythos des polnischen Nationalbewusstseins verklärt. 
Zumeist ohne Kenntnis der historischen sozialen, konfessionellen, politischen & ökonomischen Realitäten.
Als Olga Tokarczuk ihren Roman 2014 in Polen veröffentlichte bekam die Autorin Morddrohungen.

Olga Tokarczuk schildert die unterschiedlichen Lebensrealitäten jener Zeit. Schonungslos. Liebevoll. Sorgsam.
Berichtet von Standesdünkel & Standesunterschiede. Glaubenseifer & Glaubensbekenntnisse.
Rechtlosigkeit & Rechtschaffenheit. Bauernschläue & Bauernnot. Adelsprivilegien & Adelswillkür.
Olga Tokarczuk schildert anhand von Vergangenem (nicht nur) unsere Gegenwart in diesen Regionen.
Auf mehr als tausend Seiten. Mit mehr als tausend Stimmen werden (auch) verschwundene Welten beschworen.

Auch die Gegenwart läßt (nicht nur) in diesen Gebieten vieles verschwinden. Auch und besonders Menschen.
Olga Tokarczuk warnt in ihrem Roman (nicht nur) vor nationalgedachten Wider-, Un-, Starr-, Schwach- & Stumpfsinn.
Olga Tokarczuk schildert den konfessionellen Blöd-, Hinter-, Wahn-, Gerechtigkeits-, Trüb- & Tiefsinn jener Epoche.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2018 ging an die polnische Autorin Olga Tokarczuk. Sie hat ihn wahrlich verdient.

(Renald Deppe)

P.s.:

Sollte die geneigte Leserschaft an Fakten & Perspektiven historischer Geschichtsschreibung interessiert sein,
sollten die wertgeschätzten Leser & Leserinnen an Ver- & Entflechtungen von Familien-, Patriarchen- & Oligarchenzwistigkeiten Interesse haben,
das Institut zur Verbesserung der Lagen empfiehlt zur Verbesserung der Fragen (nicht nur) im aktuellen Konflikt:  

Andreas Kappeler
Ungleiche Brüder

Russen und Ukrainer
Vom Mittelalter bis zur Gegenwart
C.H. Beck Verlag, München 2017

(Renald Deppe)

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