

Sonnenstand (II) 7. August2022
Ibrahim al-Koni
(*1948 in Ghadames/Libyen)
Die Magier
Das Epos der Tuareg
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Lenos Verlag, Basel 2001
Arabische Originalausgabe: al-Mağȗs, 1990/91
I. Der Südwind
Der Wind geht gen Mittag, und er kommt herum zur Mitternacht,
und geht wieder herum an den Ort, da er anfing.
Das Alte Testament. (Der Prediger Salomo 1,6)
Nie wird den Geschmack des Lebens kosten,
wer nicht die Luft der Berge geatmet hat.
Hier, auf den nackten Gipfeln, nähert er sich den Göttern,
befreit sich vom Körper und vermag seine Hand auszustrecken,
um den vollen Mond zu pflücken oder die Sterne abzulesen.
Von dieser Stelle aus beobachtet er gern die Menschen tief unten,
wie sie ameiseneifrig umherwuseln, so dass man glauben könne,
sie würden Wunder vollbringen. Und wenn er hinabsteigt auf ihre Erde, stellt er fest, dass sie wirklich armselige Geschöpfe sind, ernsthaft suchend, jedoch nichts anderes erntend als Vergeblichkeit. Wie lächerlich und hässlich doch ihr Streben von weit oben erscheint!
Von der stolzen Akakȗs-Kette haben sich zwei legendäre Berge getrennt und sind durch die Wüste geirrt. Einer von ihnen lagerte sich im Süden, unweit der Mutterkette, und scheint, trotz zweier gigantischer Formationen, niedriger zu sein als sein irrender Bruder, mit dem er den Ehrgeiz teilt, den Himmel zu erreichen. Der nördliche Berg, der am anderen Ende der Ebene ruht, spaltet mit seinen traurig rätselhaften Gipfeln, die wie vier Türme aufragen, majestätisch den Raum.
Die Abenddämmerung überflutete die weglose Westwüste mit purpurnem Licht. Nutzlose Wolkenfetzen trieben am Horizont. Auf der Ebene, hingebreitet zwischen den Bergen, erschien eine Karawane. Einige Personen gingen ihr zu Fuss voran, ein von Dienern umgebenes Kamel führend, auf dem eine prächtige Sänfte schwankte.
Diesem folgten andere Kamele, beladen mit dem Gepäck.
Doch von hoch oben auf dem Gipfel wirkte die Pracht des Zuges lächerlich. Er bemerkte, dass der Berg alles, was auf der Erde wichtig und majestätisch erscheint, in Spielzeug verwandelt. Stolze Mehri-Kamelhengste werden zu Mäusen. Ehrfurchtgebietende verhüllte Männer, aufgeblasen wie Pfauen, werden zu Figürchen, die entweder Heiterkeit oder Mitleid erregen. Sogar der edle, blaugewandete Stammesführer, der in den Seelen Ehrfurcht erweckt, erschien ihm von seinem hohen Standort wie ein amüsantes, hilfloses Püppchen.
Auch bemerkte er, dass das Spiel des Gipfels mit den Dimensionen der Menschen und ihres Tuns desto unerbittlicher wurde, je ernsthafter und erhabener sie sich gebärdeten. Und oft, wenn er wichtigtuerischen Notabeln die Hand schüttelte, dachte er: Wartet nur, bis ich auf den Berg gestiegen bin. Von dort sehe ich, ob ihr wirklich Götter seid oder doch nur Mäuschen! Das Geheimnis erregte und bewegte ihn immer wieder aufs neue. Welchen Grund hatte der himmlische Gipfel, die Grossen und Stolzen zu verspotten und sie zu elenden Geschöpfen zu machen? Doch eine Eingebung versicherte ihm, der Gipfel sei unfehlbar, und wenn er die Stolzen als Püppchen erscheinen lasse, so sei dies die Wahrheit. Die Ebene sei es, die die Menschen verfälsche und sie zur einer Illusion mache. Jene geschäftigsten von allen Kreaturen erscheinen komisch, weil sie sich in der Wirklichkeit auf Erden mehr als alle anderen dem Wahn hingeben und ihre Seelen dem Satan überantwortet haben.
Die Ernsthaften sind ein leichterer Happen für den Teufel.
Und wie der Berg die Gebetsnische der Götter ist, so ist die Ebene das Reich der Teufel.
&
Olivette Otele
(*1970 in Yaoundé/Kamerun)
Afrikanische Europäer
Eine unerzählte Geschichte
Aus dem englischen von Yasemin Dinçer
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022
Die Bewegung Black Lives Matter hat die Lebenswelten schwarzer Menschen auch in Europa in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Doch was die Geschichte anbelangt, bleibt die schwarze Präsenz auf dem Kontinent weiterhin ausgespart. Mit ihrer fulminanten historischen Gesamtdarstellung, die von Schweden über Deutschland bis nach Griechenland führt, füllt Olivette Otele endlich diesen weißen Fleck in der Geschichtsschreibung Europas.
Otele erzählt von Personenschicksalen und Schauplätzen der Begegnung, vom engen Austausch zwischen Afrika und Europa, der mit den römischen Expansionsbewegungen begann und im historischen Verlauf heute oftmals vergessene Schwarze Heilige, Herrscher und Intellektuelle hervorbrachte.
Auf diese Weise macht sie die Konjunkturen der mitnichten immer gleichbleibenden Unterdrückung schwarzer Menschen fassbar: den Terror der Sklaverei, Schwarze Körperlichkeit und ihre Exotisierung,
aber auch die Schwarzen Widerstandsbewegungen und Bruderschaften, die für die Freiheit kämpften und die Vorgeschichte der Proteste unserer Tage darstellen.
Mit politischer Verve, aber mit Blick für die Ambivalenzen zeichnet Otele das revolutionäre Bild eines immer schon »afrikanischen« Europas, das nötig ist, um die Auseinandersetzungen der Gegenwart und Zukunft zu verstehen. (Klappentext)
Kontrapunkt
Perspektive 32
Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
Auf den Bergen, an den Stränden, in den Wüsten, den Wohn-, Schlaf- & Traumwelten unseres Planeten. Und anderswo.
Zum Beispiel in Afrika.
Bei einem Volk, welches lange Zeit in einer weglosen Wüstenwelt zu überdauern vermochte: den Tuareg.
Dann kamen Wege. Und Grenzen. Und Nationalstaaten. Und mit ihnen beklemmend bedrohliche Beengungen.
Dem Volk der Tuareg wurden Berge, Wüsten und überlebenswichtige Zu- und Durchgänge genommen. Bis heute.
Auch ihre uralte Sprache und Schrift (Tifinagh) wurde und wird marginalisiert. Zwangsansiedelungen folgten. Bis heute.
Die Tuareg: Ein (Berber)Volk ohne Staat: Nomaden. Hirten. Kein Platz für Freigeister? Auch nicht in Afrika?
Der Targi Ibrahim al-Koni erschuf ein magisches Epos für (s)eine ernsthaft bedrohte Welt.
Mit all ihren Mythen, Weisheiten und Traditionen. Berichtet von jenen Dingen, die den Sesshaften verloren gingen. Leider.
Ein Kampf gegen das Vergessen einer grossen (Nomaden)Kultur.
Ein Kampf gegen das Verdrängen der Magie der Weglosigkeit.
Meint: die unbegrenzte Suche nach den tausend Möglichkeiten. Alternativen. Ausrichtungen. Perspektiven.
Nach den vielen nicht vorgeschriebenen Um-, Aus- und Seitenwegen. Nicht nur in den Wüsten dieser Welt.
Zum Beispiel.
Man sollte lieben können. (Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut.)
Zum Beispiel Bücher.
Man muss Bücher nicht lieben.
Aber sie helfen u.a. Menschen zu lieben.
Und zu verstehen. (Es gibt viele Gründe dafür, keiner ist eindeutig, aber alle sind gut.)
Die afrikanische Autorin Olivette Otele ist Professorin für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol. In Europa.
In ihrem wunderbar zu lesenden Buch schreibt sie über Schwarze Geschichte. Über schwarze Afrikaner*innen. In Europa.
So viel unbekanntes, unerkanntes, unterdrücktes, untersagtes, unentdecktes, unerwartetes Geschehen begegnet den Leser*innen.
Zum Beispiel: die Lebenswege von christlichen Schwarzen Heiligen, schwarzen Wissenschaftler*innen, Politiker*innen. In Europa.
Alessandro de’ Medici hatte eine schwarze afrikanische Mutter.
1537 wurde Alessandro von seinem Cousin Lorenzino ermordet.
Oder:
Scher dich nicht drum, ob man dir Beifall spende;
Des Volkes Lobgesang verhallt bis morgen schon;
Des Toren Richtspruch und der kalten Menge Hohn.
Hör selbstbewußt dir an, gelassen bis ans Ende.
Dies schrieb einer der größten russischen Dichter und stets widerständig agierender Freigeist: Alexander Puschkin.
Puschkins Urgroßvater war der bedeutende schwarze russische General Abraham Petrowitsch Hanibal aus Westafrika.
Im „Exil“ in Odessa dichtete der in Ungnade gefallene Puschkin in seinem Versroman Eugen Onegin 1925 folgendes:
Bloß fort von diesem öden Strand
Mir feind gewordner Elemente,
Auf daß ich, froh des Südens, nah
Dem Himmel meines Afrika,
Von Russland Nebel träumen könnte,
Wo ich gelebt, gelitten hab,
Wo ich mein Herz versengt ins Grab.
Alexander Puschkin verstarb 1837 bei einem wahrscheinlich erzwungenen Duell.
Olivette Otele verführt zum Lesen.
Zum Einlesen in die faszinierenden Lebenswelten bekannter und unbekannter afrikanischer Europäer.
Zu einem vielleicht neuen afrikanisch-europäisches Selbstverständnis.
Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
An den Gestaden der Weltmeere unseres Planeten etwas über Afrika zu lesen. Oder auch anderswo.
(Renald Deppe)