Verortung & Perspektive _26

Bildungsstand 26. Juni 2022

Karl-Markus Gauss
(*1954) 

Die Jahreszeiten der Ewigkeit
Journal
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022

Die Litanei kennen wir: Bildung, Bildung, Bildung, das ist das einzige was uns noch retten kann im alten Europa. Bildung gegen die Arbeitslosigkeit, Bildung gegen den Absturz Europas zur Regionalmacht. Seltsam nur, je rabiater Bildung gefordert wird, umso weniger gilt der Gebildete selbst. Zuerst wurden die Intellektuellen in das Eck gestellt, das in der neoliberalen Schulklasse für aufsässige Maulhelden reserviert ist, dann die Gebildeten als weltfremde Sonderlinge denunziert, deren Wissen tot und nutzlos wäre und einzig dem sozialen Dünkel fromme. Wer immer in den Verdacht gerät, gebildet zu sein, muss längst dagegen ankämpfen, als Mensch von vorgestern abgetan zu werden. Umgekehrt ist der echte, sich gut gelaunt zu seinem umfassenden Unwissen wie zu einem persönlichen Verdienst bekennende Trottel zum sozialen Leitbild geworden: Die Medien Österreichs und Deutschlands sind fortwährend damit beschäftigt, mittels telekratischer Volksbefragung den Supertrottel zu finden, der bei irgendwas noch tapferer als seine Kontrahenten bereit ist, sich selber bloßzustellen, beim Herumhopsen, Schlagersingen, Partnerfinden, Würmerfressen.

 Ihm winkt aus unüberwindbarer Ferne kumpelhaft ein Politiker neuen Typs zu, der sich seinerseits nicht mehr darum bemüht,
jene Bildung, die ihm abgeht, immerhin vorzutäuschen. Seine Pubertät hat er in der Schülerorganisation seiner Parteien verbracht,
sein Studium in den Gremien von deren Jugendverbänden abgesessen, und dann hat es ihn in die politische Erwachsenenwelt verschlagen, wo er, gehetzt zwischen hunderterlei Terminen, nie mehr wird nachholen können, was er in seinen strikt verplanten Jugendjahren an Bildungserlebnissen und Erfahrungen des nicht reglementierten Lebens alles versäumt hat.

 Sieht man sich die Lehrpläne unserer Schulen an, muss man konstatieren, dass der Literatur als Unterrichtsstoff der Garaus bereitet wurde. Vor lauter Panik, nur ja genügend Schüler zu befähigen, eine Gebrauchsanleitung zu verstehen oder einen Leserbrief zu verfassen, entschieden sich die Planer des Deutschunterrichts für das Schlechteste, nämlich den Kindern, der Schule und in der Folge der Gesellschaft die Literatur auszutreiben.
Es ist kein Bildungsziel mehr, Kindern die Freude und die Fähigkeit zu vermitteln, literarische Werke (nicht nur Häppchen davon, die häppchenweise abgefragt werden können) zu lesen und sich lesend in das Glück, die Not anderer einzufühlen. Da sollen die Heranwachsenden nützlichere Fähigkeiten ausbilden. Die Notwendigkeit der Literatur besteht hingegen gerade in ihrer
praktischen Überflüssigkeit, wir brauchen sie, eben weil sie unmittelbar zu gar nichts nütze ist und uns von dem Zwangsdenken befreit, dass alle Dinge, Begabungen, Tätigkeiten, Beziehungen immer etwas nützen, einen Vorteil eintragen müssen.

 Zwei unserer jüngeren Freundinnen haben jetzt, ehe es zu spät für sie geworden wäre, doch noch Kinder bekommen. Ich freue mich für sie, nicht weil ich glaubte, dass es die Berufung der Frau wäre, Mutter zu werden; vielmehr weil ich erfahren habe, wie gut einem Kinder tun können. Mich haben die meinen von der schweren Krankheit des Zynismus, die mich an Leib und Seele zu zersetzen drohte, geheilt und vor dem drohenden Untergang gerettet. Wer Kinder hat, kann es sich nicht gemütlich in seinem Weltverdruss einrichten und als Kollaborateur des Mißglückenden darauf setzen, dass die Dinge ihn schon in der schlechten Meinung, die er von ihnen hat, bestätigen werden. Jeder weiß, dass man Kindern als Gutenachtgeschichte nicht erzählen darf, dass die Welt ungerecht sei, von gewissenlosen Schurken beherrscht werde, das Gute eine Niederlage nach der anderen erleide und wir alle dereinst zu Staub zerfallen werden. Weil wir dazu neigen, eines Tages selbst zu glauben, was wir erzählen, werden wir endlich überzeugt sein, dass die schöneren Geschichten, 
die wir uns für sie haben einfallen lassen, die wahren sind. So werden die Kinder zu den Eltern ihrer Eltern, indem sie diese durch ihr schlichtes Hiersein neu erschaffen.

 Die Zukunft im Gefrierschrank.
Facebook und Google kündigen ihren hochqualifizierten Mitarbeitern einen Zuschuss für den Fall an, dass sie ihre Eizellen einfrieren, ihre Zukunft im Gefrierschank deponieren und ihren Firmen länger ihre ganze Arbeitskraft zuteil werden lassen. Nicht die Arbeitskraft soll gemäß den Bedürfnissen der Frauen verändert, sondern deren biologischer Lebensbogen den Anforderungen des Betriebs entsprechen ausgetrickst werden. Was wir zu begreifen haben: Es ist leichter die Natur des Menschen zu manipulieren, als die sozialen Verhältnisse zu ändern. Der ökonomische Verwertungszwang erweist sich als unveränderlich, er ist Naturgesetz ohne Natur. Was verändert werden kann, das ist die Natur selbst, und wenn wir etwas gelernt haben, dann dies: Was immer gemacht werden kann, das wird gemacht werden.

Kontrapunkt

W. A. Mozart (1756 – 1791) : Serenade Nr. 10 „Gran Partita“ (KV 361), III Adagio

Perspektive 26

Karl-Markus Gauß ist gebürtiger Salzburger. Und dort wohnhaft geblieben.
Karl-Markus Gauß ist stolztrotziger Österreicher. Und…?
Karl-Markus Gauß ist bekennender Europäer. Und wird hoffentlich es bleiben.

K.-M. G. ist ein Chronist der Melancholie. Als Salzburger. 
K.-M. G. ist ein Chronist der Verluste. Als Österreicher.
K.-M. G. ist ein unbestechlich ver- & aufzeichnender Fein- & Freigeist. Als Europäer.

K.-M. G. ist ein K. & K. & K. –  ein Kenner, Könner & Kapazunder.

K.-M. G. ist ein Skribent. Kein elender, wohlgemerkt.
K.-M. G. ist ein wunderbarer Stilist. Kein Stylist, aufgemerkt! 
K.-M. G. ist ein Sprach- & Vielfaltkundiger. Kein Einfaltwächter, wohl-, auf- & angemerkt.

K.-M. G. schreibt Journale. Über Fest-, Rest- & Gedenktage, über Sonn- & Alltägliches.
K.-M. G. schreibt Reiseberichte. In & aus seinem mönchsbergnahen Arbeitszimmer.
K.-M. G. schreibt Reportagen. Als Salzburger. Österreicher. Europäer.
Über Salzburger, Österreicher, Europäer. Für Salzburger. Österreicher. Europäer. Zum Beispiel.

K.-M. G. schreibt von der Vernichtung Mitteleuropas, bitteren Tinten, den fröhlichen Untergehern in Roana,
über Ritter, Tod und Teufel, Schattengewächse und einen Mann, der nicht ins Gefrierfach wollte. Zum Beispiel.

K.-M. G. berichtet von den Sepharden aus Sarajevo, den Gottscheer Deutschen, den Hundeessern von Svinia,
über Arbëreshe, Sorben, Aromunen, Zimbern, Karaimen und Assyrer in Schweden. Zum Beispiel.

K.-M. G. erzählt von europäischen Städten mit und ohne Juden, von Meeren mit und ohne Wasser,
von Menschen mit und ohne Tränen, vom Fliegen mit und ohne Flügel. Zum Beispiel.

K.-M. G. veröffentlicht Albumblätter, Essays, Nachrufe & Attacken, Wirtshausgespräche, Jahresbücher, Portraits.
Berichte über Erfahrungs-, Überlebens-, Leidens- & Erweiterungszonen. In & zwischen den Zeilen. Zum Beispiel.

K.-M. G. ist ein Glücksfall. Für neugierige Leser. Und Salzburger. 
K.-M. G. ist ein Geschenk. Für aufmerksame Leser. Und Österreicher.
K.-M. G. ist ein Muss. Für freiwillige Leser. Und Europäer.

K.-M. G. ist eine Überraschung. Für aufgeklärte Abgeklärte. Oder allwissende Literaturkodifikatoren. 
Nicht nur in Salzburg. 
K.-M. G. ist eine Notwendigkeit. Für dilettierende Avantgardisten. Oder staatlich gestützte Berufspropheten. 
Nicht nur in Österreich. 
K.-M. G. ist eine Bereicherung. Für diplomatische Akademien. Oder ähnliche Leer- & Versuchsanstalten. 
Nicht nur in Europa.

K.-M. G. steht für jedwede verantwortete Wahrnehmung von Welt. 
Entschwundene & verstummte Welten. Erträumte & vernichtete Welten. 
Verwunschene & ersehnte Welten. Vergessene & visionäre Welten. Ein- & ausgegrenzte Welten.

Karl-Markus Gauß steht für Hoffnung. Für ein Dennoch. Für ein Trotzdem.
Karl-Markus Gauß dürften jene Verse R. – M. Rilkes aus dem Jahre 1899 mit Sicherheit bekannt sein.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“

Karl-Markus Gauß schreibt für, an, gegen, über uns. Unsere Zeit. Über verlorene Zeiten.
Karl-Markus Gauß publiziert seit vielen Jahren mit stets gleichbleibender Sorgfalt & Qualität. 
Karl-Markus Gauß veröffentlicht in stets wachsenden Ringen. Mit Um- & Nachsicht. Ohne Aufsicht. Mit Absicht. 

Karl-Markus Gauß erwähnt gegen Ende seines Journals „Jahreszeiten der Ewigkeit“ mehr als anekdotisches:

Bedenke, was der tschechische Regisseur Jiří Menzel bei der Feier zu seinem achtzigsten Geburtstag sagte:
„Abgesehen davon, dass ich ein Genie bin, ist allzu große Bescheidenheit mein einziger Fehler.“

Bescheiden war Karl-Markus Gauß immer. Nicht immer aber manch verdienender Salzburger.
Bescheiden ist Karl-Markus Gauß immer geblieben. Nicht immer aber manch ausgepreister Österreicher.
Bescheiden wird Karl-Markus Gauß immer bleiben. Das ist kein Fehler. Tugendratsam auch für Europäer.

Karl-Markus Gauß erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022.
Salzburg, Österreich, Europa und das Institut zur Verbesserung der Lage gratulieren. 
Karl-Markus Gauß sollte unsere ungeteilte Leseaufmerksamkeit erhalten.
In Salzburg, Österreich und Europa. Und anderswo.

(Renald Deppe)

Postskriptum:

K.-M. G. veröffentlichte 1997 sein „Europäisches Alphabet“.
K.-M. G. schrieb über N wie NACHBARN:

»Was Nachbarn voneinander halten, kann man alle Tage im Kriminalteil der Zeitungen lesen. 
Wie benachbarte Völker einander schätzen, zeigt ein Beispiel aus der angewandten Zoologie. 
Die Küchenschabe aus der Familie der Blattarien ist ein wissenschaftlich gut erforschtes, von 
den Menschen im allgemeinen wenig geliebtes und gröblich unterschätztes Tier, das, so 
unscheinbar, ja unansehnlich es ist, über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. 
In Notzeiten sind die Weibchen in der Lage, pro Saison bis zu 400 000 Eier zu legen, aus denen nach kurzer Frist 
fertig entwickelte Küchenschaben schlüpfen, die sich sogleich nach munterer Schabenart in 
der Welt zurechtfinden und bei Gefahr mit enormer Geschwindigkeit durch den Raum, etwa 
ein Badezimmer, in dem eine angewiderte Hausfrau besenschwingend naht, von einer Ecke 
in die andere flitzen.

Auf bewundernswerte, geradezu mystische Weise vermögen die Populationen der Blattarien 
ein kommunikatives System von Warnungen und Empfehlungen aufrechtzuerhalten, mittels 
dessen sie Massen von Artgenossen in ein, beispielsweise wegen angenehmer Feuchtigkeit 
oder reichlich vorhandener Nahrungsreserven, unter ihresgleichen für interessant geltendes Revier 
herbeirufen oder aber vor einem gefährlichen, weil von zu vielen Besen, Schläuchen, auf die Fliesen 
knallenden Hausschuhen gewitterartig heimgesuchten, warnen. 
Die Schabe hat schon einige hunderttausend Jahre, ehe der Mensch sich aufrichtete,
die Erde als die ihre empfunden, sich allen natürlichen Klimaveränderungen wie
chemischen Insektenvertilgungsmitteln gewieft angepaßt und wird noch unermüdlich fortfahren, 
sich die Erde untertan zu machen, wenn der Mensch mit seinem Versuch, gleiches zu tun, 
schon ein paar hunderttausend Jahre abgetreten sein wird.

Kurz, die gemeine Schabe, einer unser zähesten Nachbarn, 
ist ein widerliches Getier, dessen 
hässlicher Anblick allein die Menschen seit je mit Ekel und Wut erfüllt. 
Links des Rheins, in 
Frankreich, heißt die Küchenschabe übrigens »Preußenschabe«, 
indes sie im deutschen 
Rheinland, rechts des Flusses, umgekehrt schlicht auf »Franzose« hört. 
Im Osten Deutschlands 
ist das polyglotte Tier als »Russe« bekannt, indes es östlich von Deutschland gerne als 
»Schwabenschabe« auftritt. 
In Italien wiederum wetzt das hinterhältige Tier als »blattella tedesca« 
ungleich wendiger als die touristi tedeschi durch die Gegend.

Wie die Küchenschabe in Spanien heißt, habe ich nicht ermittelt, ich nehme an, die Portugiesen 
würden sich ihren Namen leicht merken können. 
So viel zur guten Nachbarschaft in Europa.«

(Renald Deppe)

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