Verortung & Perspektive _24

Wasserstand 12. Juni 2022

Thomas Bernhard
(1931 – 1989) 

Der Untergeher
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1983

 Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus.
Nur hat der sich nicht wie Wertheimer umgebracht, sondern ist, wie gesagt wird, eines natürlichen Todes gestorben.

 Eltern wissen ganz genau, daß sie das Unglück, das sie selbst sind, in ihren Kindern fortsetzen, mit Grausamkeit gehen sie vor, indem sie Kinder machen und in die Existenzmaschine hineinwerfen…

 Die Salzburger waren immer fürchterlich wie ihr Klima und komme ich heute in diese Stadt, bestätigt sich nicht nur mein Urteil, es ist alles noch viel fürchterlicher. Aber gerade in dieser geist- und kunstfeindlichen Stadt bei Horowitz zu studieren, war sicher der größte Vorteil. Ist die Umgebung, in welcher wir studieren, uns feindlich gesinnt, so studieren wir besser, als in einer solchen uns freundlich gesinnten, der Studierende tut immer gut daran, einen Studienort zu wählen, der ihm feindlich gesinnt ist, keinen der ihm freundlich gesinnt ist…

 Mein letzter Lehrer vor Horowitz war Wührer gewesen, einer jener Lehrer, die einen in Mittelmäßigkeit ersticken, ganz zu schweigen von den vorher absolvierten, die alle wie gesagt wird, hervorragende Namen haben, alle Augenblicke in den großen Städten auftreten und hochdotierte Lehrstühle an unseren berühmten Akademien haben,
aber sie sind nichts anderes als klavierspielende Zugrunderichter, die keine Ahnung vom Musikbegriff haben, dachte ich. Überall spielen und sitzen diese Musiklehrer und ruinieren Tausende und Hunderttausende von Musikschülern, als wäre es ihre Lebensaufgabe, die außerordentlichen Talente junger Musikmenschen im Keim zu ersticken. Nirgendwo herrscht eine solche Verantwortungslosigkeit wie an unseren Musikakademien, 
die sich neuerdings Musikuniversitäten nennen, dachte ich.

 Das Mozarteum war eine schlechte Schule, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus, andererseits gerade für uns die beste, denn sie hat und die Augen geöffnet. Alle Hochschulen sind schlecht und die wir besuchen, ist immer die schlechteste, wenn sie uns nicht die Augen öffnet. Was für miserable Lehrer haben wir zu erdulden gehabt, haben sich an unseren Köpfen vergriffen. Kunstaustreiber waren sie alle, Kunstvernichter, Geisttöter, Studentenmörder.

Angetreten um große Virtuosen zu werden, fristen sie ihr Dasein jetzt schon jahrzehntelang nurmehr noch als Klavierlehrer, dachte ich, unsere ehemaligen Mitschüler, nennen sich akademische Musikpädagogen und existieren eine scheußliche Pädagogenexistenz, sind auf talentlose Schüler und deren größenwahnsinnige und kunsthabgierige Eltern angewiesen 
und träumen in ihren Kleinbürgerwohnungen von ihrer Musikpädagogenpension. Achtundneunzig Prozent aller Musikhochschulstudenten treten mit dem höchsten Anspruch an unsere Akademien an und verbringen nach dem Hochschulabschluß ihre Lebensjahrzehnte als sogenannte Musikprofessoren auf das lächerlichste, dachte ich.

 Im Grunde hatten und haben die Wiener Akademie immer schon bis heute gleich gute oder gleich schlechte Lehrer gehabt, dachte ich, nur auf die Schüler ist es angekommen, diese Lehrer für ihre Zwecke in einem Höchstmaß auszunützen. Nicht einmal auf die Qualität unserer Lehrer kommt es an, dachte ich, es kommt auf uns selbst an, denn auch schlechte Lehrer haben schließlich immer wieder Genies erzeugt, wie umgekehrt gute Lehrer Genies vernichtet haben, dacht ich.

 Unser Land habe noch nie in seiner Geschichte einen solchen Tiefstand erreicht, sagte ich, noch nie in seiner Geschichte sei es von niedrigeren und also charakterloseren und stumpfsinnigeren Leuten regiert worden. Aber das Volk ist dumm, sagte ich, und es ist zu schwach, einen solchen Zustand zu ändern, es fällt gerade auf solche gefinkelten, machtgierigen Leute, wie die jetzt an der Regierung seien, herein. Wahrlich wird sich auch bei der nächsten Wahl nichts an diesem bedauernswerten Zustand ändern, sagte ich, denn die Österreicher seien Gewohnheitsmenschen und sie gewöhnen sich auch an den Sumpf, in welchem sie jetzt schon über ein Jahrzehnt lang waten.

 Und auf das Wort Sozialismus, sagte ich, fallen vor allem Österreicher immer noch herein, obwohl jeder weiß, daß das Wort Sozialismus seinen Wert verloren hat. Die Sozialisten sind keine Sozialisten mehr, sagte ich, die heutigen Sozialisten sind die neuen Ausbeuter, alles verlogen!

 Die Städte machen, fährt man an ihnen vorbei, einen verkommenen Eindruck, die Bauernhäuser sind alle ruiniert, indem ihre Besitzer die alten Fenster herausgerissen und neue geschmacklose Plastikfenster eingesetzt haben. Nicht mehr Kirchtürme beherrschen die Landschaft, sondern die importierten Plastiksilos, die überdimensionierten Lagerhaustürme. Die Fahrt von Wien nach Linz ist eine Fahrt durch nichts als durch Geschmacklosigkeit. Von Linz nach Salzburg ist es nicht besser. Und die Tiroler Berge bedrücken mich. Vorarlberg habe ich immer gehaßt, genauso wie die Schweiz, in welcher der Stumpfsinn zuhause ist, wie mein Vater immer gesagt hat, in diesem Punkt widersprach ich ihm nie.

 …die Schweiz, in welcher alles verkommen ist, die Schweiz ist das charakterloseste Land Europas, sagte er, ich habe in der Schweiz immer das Gefühl gehabt, ich bin in einem Bordell, sagte er. Alles verhurt, ob in den Städten oder auf dem Land, sagte er. Sankt Moritz, Saas Fee, Gstad, alles offene Häuser, ganz zu schweigen von Zürich, Basel, Weltbordelle, sagte Wertheimer mehrere Male, nicht als Weltbordelle.

 Die großen Denker haben wir in unsere Bücherkästen gesperrt, aus welchen sie uns, für immer zur Lächerlichkeit verurteilt, anstarren, sagte er, dachte ich. Tag und Nacht höre ich das Gejammer der großen Denker, die wir in unsere Bücherkästen gesperrt haben,
diese lächerlichen Geistesgrößen als Schrumpfköpfe hinter Glas, sagte er, dachte ich.

 Der Geist wird, wo immer er auftaucht, fertiggemacht und eingesperrt und er wird naturgemäß immer sofort zum Ungeist gestempelt, sagte er, dachte ich, während ich die Gastzimmerdecke betrachtete. Aber alles ist Unsinn, was wir reden, dachte ich, gleich was wir sagen, es ist Unsinn und unser ganzes Leben ist eine einzige Unsinnigkeit. Das habe ich früh begriffen, kaum habe ich zu denken angefangen, habe ich begriffen, wir reden nur Unsinn, alles, was wir sagen ist Unsinn, aber auch alles was gesagt wird, ist Unsinn, wie alles was überhaupt gesagt wird, es ist in dieser Welt nur Unsinn gesagt worden bis jetzt und, sagte er, tatsächlich und naturgemäß, nur Unsinn geschrieben worden, was wir an Geschrieben besitzen, ist nur Unsinn, weil es nur Unsinn sein kann, wie die Geschichte beweist, sagte er, dachte ich.

 Glenn hat noch bevor der Horowitzkurs überhaupt angefangen hatte, zu Wertheimer das Wort UNTERGEHER gesagt, dachte ich, ich könnte sogar die genaue Stunde bestimmen, in welcher Glenn zu Wertheimer das Wort UNTERGEHER gesagt hat. Wir sagen ein tödliches Wort zu einem Menschen und sind uns naturgemäß nicht im Augenblick bewußt, daß wir tatsächlich ein tödliches Wort zu ihm gesagt haben, dachte ich.

 Vor genau achtundzwanzig Jahren hatten wir in Leopoldskron gewohnt und bei Horowitz studiert und (was Wertheimer und mich betrifft, nicht aber Glenn Gould naturgemäß) während eines verregneten Sommers von Horowitz mehr gelernt, als die acht Jahre Mozarteum und Wiener Akademie vorher. Aber diese fürchterlichen Lehrer waren notwendig gewesen, um Horowitz zu begreifen.

 Wertheimer ließ seinen Bösendorferflügel im Dorotheum versteigern, ich verschenkte meinen Steinway an eine neunjährige Lehrertochter aus Neukirchen bei Altmünster, um nicht mehr von ihm gequält zu werden. Hätte ich Glenn Gould nicht kennengelernt, ich hätte wahrscheinlich das Klavierspiel nicht aufgegeben… Wenn wir Ersteren begegnen müssen wir aufgeben, dachte ich.

Kontrapunkt

Glenn Gould : Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) : Goldberg-Variationen (BWV 988), I. Aria 

Perspektive 24

Jeder Mensch ist ein Mängelwesen.
Menschen unterscheiden sich. Wie sie mit ihren Mängeln umgehen.
Mängelwesen unterscheiden sich. Wie sie mit Menschen umgehen.

Jeder Mangel ist menschlich.
Jeder Mangel ist zumutbar.
Jeder Mangel ist motivierend.

Jeder Mangel kann unmenschlich, unzumutbar, demotivierend sein.
Wenn nicht erkannt.
Wenn kaum benannt.
Wenn blind verbannt.

Jeder Mangel kann Wegweiser, Rettungsanker, Berufung sein.
Wenn erkannt.
Wenn benannt.
Wenn gebannt.

Künstler sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Politiker sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Priester sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Sportler sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Handwerker sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Mediziner sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Professoren sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Arbeiter sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Journalisten sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Juristen sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Narren sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Generäle sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.
Liebes-, Mess-, Kammer-, Hof-, Staats-, Gerichts- & Gottesdiener sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.  
Schank-, Betriebs-, Hütten-, Forst-, Gast- & Landwirte sind Menschen und naturgemäß Mängelwesen.  Zum Beispiel.

Götter sind keine Menschen (Politiker), aber naturgemäß Mängelwesen.
Engel sind keine Menschen (Priester), aber naturgemäß Mängelwesen.
Elfen sind keine Menschen (Professoren), aber naturgemäß Mängelwesen. Zum Beispiel.

Menschen ohne Mängel sind Unmenschen.
Menschen mit Mängel sind Vollmenschen.
Vollmenschen sind keine Götter, Halbgötter, Engel und Elfen. Zum Beispiel.

Vollmenschen versuchen ihre Mängel zu erkennen.
Vollmenschen versuchen ihre Mängel zu beheben.
Vollmenschen versuchen ihre Mängel zu akzeptieren. Zum Beispiel.

Vollmenschen versuchen mit ihren Mängeln zu leben. Anständig.
Vollmenschen versuchen mit ihren Mängeln zu überleben. Zuständig.
Vollmenschen versuchen mit ihren Mängeln nicht unterzugehen. Widerständig. Zum Beispiel.

Thomas Bernard erzählt.
Vom Künstler als Mängelwesen.
Thomas Bernard erzählt vom Untergehen.

Thomas Bernhard berichtet.
Vom Umgang des Künstlers mit seinen Mängeln.
Thomas Bernhard berichtet von der Wirkungsmächtigkeit der Mängel auf den Künstler.

Thomas Bernhard beschreibt.
Den Künstler als Menschen. Den Menschen als Hin- oder Wegschauenden, Hin- oder Weglaufenden.
Thomas Bernhard beschreibt Vermögen & Unvermögen, Wissen & Unwissen, Verbesserliches & Unverbesserliches.

Thomas Bernhard trauert.
Über das Nichterkennen, die Nichtbehebung, die Ignoranz unserer Mängel.
Thomas Bernhard trauert über den Menschen als Untergeher. Durch zuvor Benanntes.

Thomas Berhard tröstet.
Durch den Verweis auf Alternativen. Möglichkeiten. Ein- & Umsichten.
Thomas Bernhard tröstet. Schonungslos. Gnadenlos. Erbarmungslos. Doch stets mit Empathie. 

Thomas Berhard träumt von Vollmenschen. Die Überleben.
Thomas Berhard sehnt sich nach Vollmenschen. Die Überwinden.
Thomas Berhard hofft auf Vollmenschen. Die Überdenken.

Wovon träumen -, Wonach verlangen -, Worauf hoffen wir?

(Renald Deppe)

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