Verortung & Perspektive _23

Befehlsstand 5. Juni 2022

Isaak Babel
(1894 – 1940)

Die Reiterarmee
Aus dem Russischen übersetzt, 
herausgegeben und kommentiert von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 1994

Ich ziehe meine Kreise durch Žytomir und suche den zaghaften Stern.
An der alten Synagoge, an ihren gelben und gleichgültigen Mauern
verkaufen alte Juden Kreide, Waschblau, Kerzendocht,
– Juden mit Prophetenbärten, mit Elendsfetzen auf der eingefallenen Brust…

Vor mir – der Basar und der Tod des Basars.
Getötet ist die fette Seele des Überflusses.
Stumme Schlösser hängen an den Verkaufsständen,
und der Granit des Pflasters ist rein, wie die Glatze eines Toten.
Er zwinkert mir zu, der zaghafte Stern…

Das Glück ereilte mich später,
das Glück ereilte mich vor Sonnenuntergang.
Gedalis Laden lag versteckt in den dicht verrammelten
Handelsreihen.
Du hättest in diesem Trödelladen vergoldete Pantoffeln und Schiffstaue gefunden,
einen alten Kompass und einen ausgestopften Adler,
ein Winchester Jagdgewehr mit der eingravierten Jahreszahl 1810 und einen zerbrochenen Kochtopf.

Der alte Gedali geht zwischen seinen Schätzen auf und ab in der rosigen Leere des Abends
– ein kleiner Herr mit rauchgrauer Brille und einem grünen Gehrock bis auf den Boden.
Er reibt sich die weißen Händchen, er zupft sich das graue Bärtchen und lauscht,
den Kopf geneigt, auf unsichtbare Stimmen, die ihm zufliegen.

Dieser Laden ist wie die Schachtel eines wißbegierigen und ernsten kleinen Jungen,
aus dem einmal ein Professor für Botanik werden wird.
In diesem Laden gibt es sowohl Knöpfe, als auch tote Schmetterlinge, und ihr kleiner Besitzer heißt Gedali.
Alle haben den Basar verlassen, Gedali ist geblieben.
Und er geistert durch sein Labyrinth aus Globen, Schädeln und toten Blumen,
wedelt mit einem bunten Wisch aus Hahnenfedern und bläst den Staub von den gestorbenen Blumen.

– die Revolution, sagen wir zu ihr ja, aber sagen wir darum zum Sabbat nein?
– so beginnt Gedali und umschlingt mich mit den seidenweichen Riemen seiner rauchigen Augen.
– Ja, rufe ich der Revolution zu, ja, rufe ich ihr zu, doch sie versteckt sich vor Gedali und sendet voraus immer nur Schießen…
– In geschlossenen Augen fällt keine Sonne,
– antworte ich dem Alten,
– doch wir werden die geschlossenen Augen aufreißen…
– der Pole hat mir die Augen verschlossen,
– flüstert der Alte kaum hörbar,
– der Pole, der böse Hund. Er packt den Juden und reißt ihm den Bart aus, ach, der Köter!

Und jetzt wird er verprügelt, der böse Hund.
Das ist wunderbar, das ist Revolution.
Und dann kommt der, der den Polen verprügelt hat, und sagt zu mir:
Gedali, gib mir dafür dein Grammophon…
Ich liebe die Musik, Pani – antworte ich der Revolution.
»Du weißt nicht was du liebst, Gedali, ich werde auf dich schießen, weil ich bin die Revolution«…

– Sie kann nicht anders als schießen, Gedali,
– sage ich zu dem Alten, 
– weil sie ist die Revolution…
– Aber der Pole hat geschossen, mein freundlicher Pan, weil er ist die Konterrevolution.

Ihr schießt, weil ihr seid die Revolution. Aber die Revolution ist doch ein Vergnügen.
Und es ist ein schlecht Vergnügen, das Waisen im Haus zurückläßt.
Gute Taten begeht ein guter Mensch. Die Revolution ist eine gute Tat von guten Menschen.
Aber gute Menschen töten nicht. Also machen die Revolution böse Menschen.
Aber auch die Polen sind böse Menschen.
Wer also sagt Gedali, wo ist die Revolution und wo die Konterrevolution?
Ich habe früher den Talmud studiert, ich liebe die Kommentare von Raschi und die Bücher des Maimonides.
Und es gibt noch andere Menschen in Žytomir, die verstehen.
Und so fallen wir alle, die gelehrten Menschen, auf das Gesicht und rufen mit einer Stimme:
weh uns, wo ist die süße Revolution?…

Der Alte verstummte.
Und wir erblickten den ersten Stern, der sich die Milchstraße hinab den Weg bahnte.

– der Sabbat beginnt, – sagte Gedali mit Ernst, – die Juden müssen in die Synagoge… Panie Genosse,
– sagte er im Aufstehen, und der Zylinder auf seinem Kopf begann zu schwanken, wie ein schwarzes Türmchen,
– bringt ein paar gute Menschen nach Žytomir. Ach, in unsere Stadt ist an ihnen ein Mangel, ach welch ein Mangel!
Bringt gute Menschen, und wir geben ihnen alle Grammophone. Wir sind keine Ignoranten.
Die Internationale – wir wissen was ist die Internationale. Und ich
will die Internationale der guten Menschen,
ich will, daß jede Seele zählt und man soll ihr geben Lebensmittel der ersten Kategorie.
Nimm, Seele, bitte, iß, empfang vom Leben dein Vergnügen.
die Internationale, Panie Genosse, Sie wissen nicht, womit sie gegessen wird…

– Gegessen wird sie mit Pulver, – antworte ich dem Alten, – und gewürzt mit bestem Blut…

Und da bestieg er aus blauem Dunkel seinen Thron, der junge Sabbat.

– Gedali, – sage ich, – heute ist Freitag, und es ist schon Abend.
Wo kann ich jüdische Barches bekommen, ein jüdisches Glas Tee 
und ein wenig von diesem pensionierten Gott in dem Glas Tee?…

– Gibt es nicht, -antwortete mir Gedali und hängt ein Schloß vor seinen Laden, – gibt es nicht.
Nebenan gibt es ein Wirtshaus, und gute Menschen habe es betrieben,
aber dort wird nicht mehr gegessen, dort wird geweint…
Er knöpfte seinen grünen Gehrock an den drei Hornknöpfen zu.
Er staubte sich mit Hahnenfedern ab, sprengte Wasser über seine weichen Handflächen und entfernte sich
– winzig, einsam, verträumt, im schwarzen Zylinder und mit einem großen Gebetbuch unterm Arm.

Der Sabbat beginnt. Gedali – Begründer einer unerfüllbaren Internationale – geht in die Synagoge beten.

Kontrapunkt

Jiddisches Lied : ‚S Brent, Briderlekh

Perspektive 23

Isaak Babel wurde als Sohn einer jüdischen Händlerfamilie im Zarenreich geboren.
In Odessa. »Marseille des Ostens« wurde diese Stadt am Schwarzen Meer genannt.
Der Hafen brachte Träume. Fremde. Syphilis. Zuzug. Wohlstand. Armut. Kriminalität.

Isaak Babel sah nicht weg. Er kannte das Massen-Pogrom. 1905 im Babylon der Hoffnung.
In Odessa. Die Stadt mit dem Freihafen. Und den Freigeistern der jüdischen Aufklärung.
Später schrieb Isaak seine „Geschichten aus Odessa“. Verzauberte Klagelieder. Dunkle Trauergesänge. 

Isaak Babel kannte auch Wohlstand. Besuchte die Wirtschaftsschule der Handelsmetropole.
Und begann zu lesen. Französische Literatur. Begann Gedichte zu schreiben. Auf Französisch. 
Studieren durfte er nicht. Die Quoten für jüdische Studierende in Odessa ließen es nicht zu.

Isaak Babel ging nach Kiew. An das Institut für Ökonomie und Finanzen. Und lernte. Schnell.
Kennengelernt hat Babel dort Jewgenija Gronfein, seine zukünftige Frau. Sie gingen nach Petersburg.
Dort befreundete sich der junge Dichter mit Maxim Gorki. Es war Krieg. Das war 1916.

Isaak Babel vernahm den Rat des älteren Dichterkollegen. Unbedingt mehr Lebenserfahrung zu sammeln.
Der erste Krieg der Welten wurde verloren. Die Oktoberrevolution wurde gewonnen. Lebenserfahrungen.
Der Russische Bürgerkrieg brachte Hunger. Not. Elend. Mord. Verwahrlosung. Überlebenserfahrungen.

Isaak Babel wurde als Reporter der 1. Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt. Das war 1920.
Mitten im Russischen Bürgerkrieg noch ein Polnisch-Sowjetischen Krieg. Ein Krieg ohne Gewinner.
Opfer: polnische, ukrainische, russische, podolische, galizische, wolhynische Juden, Christen, Atheisten.

Isaak Babel führte Tagebuch. Dort verzeichnete er vieles. All das nicht für die Agitprop-Redaktion bestimmte.
Genosse Budjonny. Sohn landloser Don-Bauern. Marshall. Held der Sowjetunion. Freund Stalins. Gewinnler. 
Schwarzer Schlachtruf seiner roten Kosakenreiter: »Schlagt die Juden, schlagt die Kommunisten, rettet Russland!«

Isaak Babel sah die Not der Christen. Polnische Katholiken. Ukrainische Orthodoxe. Und der Chassiden.
Fronten. Überall. Vorstoß. Rückzug. Gegenschlag. Rückschlag. Lebens-, Leidens- Todes-, Seinserfahrungen.
Es brannte. Im Schtetl. Im Herzen. In der Seele. Im Hirn. Im Blut. Mächtige wie ohnmächtige Wutglut. 

Isaak Babel bezeugte den Anfang vom Ende. Das kam später mit dem Morden des Dritten Tausendjährigen Reiches.
Ab 1923 wurden seine Reiterarmee-Geschichten veröffentlicht. Genosse General Budjonny protestierte. Wütend.
Babel schrieb über den Untergang einer Region. Religion. Über das Verschwinden des jüdischen Schtetls. Und mehr.

Isaak Babel erlebte die Schauprozesse in Moskau. 1936 Nr. 1: 16 -, 1937 Nr. 2: 13 Todesurteile. Ein Beginn.
Bald führte NKWD Genosse Jeschow einen Vernichtungskrieg gegen die Elite der Roten Armee. Stalinverordnet.  
Und nutze Gelegenheiten. Unzählige dichtende & nicht dichtende Freigeister fielen den „Säuberungen“ zum Opfer.

Isaak Babel wurde verhaftet. Am 26. 02. 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden. Einen Tag später erschossen.
Seine Frau erfuhr es 15 Jahre später. Vieles an Wahrheit erst 1988. Wann erfuhr es der Westen? Der vermeintlich freie?
Genosse Budjonny überlebte. Als dreimaliger Held der Sowjetunion. Als Trinker & Pferdezüchter. Mit 8 Leninorden.

Genosse Budjonny schrieb 1924 über Isaak Babel:
»Um den heroischen, in der Menschheitsgeschichte nie dagewesenen Klassenkampf zu beschreiben, 
muß man zuerst das Wesen dieses Kampfes und die Natur der Klassen begreifen, d. h. man muß Dialektiker, muß Marxist und Künstler sein.
Weder das eine noch das andere ist dieser Autor.«

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an den Künstler und Menschen Isaak Babel.
Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an die Opfer von Wahn ohne Sinn. Und Wahnsinn.
Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an die Menschen im jüdischen Schtetl. Und anderswo.

Möge das Buch von Isaak Babel hilfreich sein.
Der Erinnerung an zumeist verlorene Welten dienen. In Europa. Und anderswo.
Der Erinnerung an zumeist vernichtete Welten dienen. In Europa. Und anderswo.
Der Erinnerung an viele zu schützende Welten dienen. In Europa. Und anderswo.

Möge dabei folgendes Glossarium hilfreich sein. 

(Renald Deppe)


A

Aschkenasim
Juden aus Mittel- und Osteuropa sowie deren Nachkommen.

Ansiedlungsrayon
Als Ansiedlungsrayon wird das Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches bezeichnet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war. 
Das Gebiet war zuvor größtenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen und mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt.
Der Ansiedlungsrayon, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, umfasste mehr als eine Million Quadratkilometer. 
Dort lebten Ende des 19. Jahrhunderts beinahe fünf Millionen Juden, 
die nach dem offiziellen Zensus von 1897 circa 11,5 % der Bevölkerung ausmachten. 

*****

B

Bar Mizwa
Die Zeremonie, mit der im Judentum der Eintritt eines Jungen oder Mädchens in die religiöse Gemeinde vollzogen wird.

Bund
Eine Vereinbarung zwischen Gott und dem jüdischen Volk, mit der er dieses dazu »auserwählte«,
eine besondere Rolle unter den Menschen einzunehmen.

Barches
Jüdisches Weizengebäck, das am Sabbat gegessen wird, meist geflochten, Zopf, Striezel.

Brit Mila
Beschneidung eines Knaben am achten Tag nach seiner Geburt.
Gilt als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Mensch..

Braclav
Kreisstadt in Podolien mit ehemals 6300 Einwohnern, davon mehr als 40% Juden.
Heimat von Nachmann ben Simcha (1771-1810). 
Lehrer der Chassidim, der die Rückkehr zur ursprünglichen Herzenseinfalt predigte 
und vor allem durch allegorische Parabeln wirkte, laut Martin Buber »der einzige jüdische Märchenerzähler«.

*****

C

Chalat
Kittel, wie die Zobelmütze Teil der chassidischen Kleidung,
die in bestimmten chassidischen Gemeinden nur der Rabbi trug.

Chassidismus
Das hebräische Wort »Chassid« bedeutet »der Fromme«.
Das chassidische Judentum ist ein Zweig des orthodoxen Judentums, der die mystische Verbindung mit Gott betont
und jede Form der Aufklärung und Erneuerung ablehnt.
Der Chassidismus – ursprünglich eine osteuropäische, heute eine weltweite Bewegung – 
zählt zu den konservativsten Kräften des Judentums.
Er wurde von Israel ben Elieser, auch Baal Shem Tov oder Bescht genannt, Mitte des 18. Jh. gegründet.
Die Bewegung entwickelte sich ab den 1740er-Jahren in kleinen jüdischen Gemeinden Zentral- und Osteuropas,
deren Lebensweise sich von der urbaner Juden sehr unterschied.
Die jüdische Philosophie war zu dieser Zeit vorwiegend intellektuell, die Religion durch wachsenden Legalismus geprägt.
Beide Entwicklungen entsprachen nicht den Bedürfnissen der Juden vor allem in den südpolnischen Dörfern, den sogenannten Schtetln.
Ein Chassid sondert sich von der Welt ab, meditiert und studiert die Thora, um die Gebote zu verstehen,
um ein Baal Shem (Meister des Wortes) zu werden. Für die Chassidim ist Gott zugleich Mittelpunkt des Kosmos und unendlich.
Über solche Außenstehenden schwer zugänglichen Begriffe hinaus zeichnet sich diese Richtung durch einen sinnlichen Bezug zu Gott aus.
Um den Zusammenhalt der chassidischen Gemeinden vor allem angesichts der Pogrome durch die Kosaken zu bewahren,
zogen Religionslehrer von Dorf zu Dorf und boten den Juden neben praktischen Ratschlägen die Möglichkeit,
sich aktiv an Gottesdiensten zu beteiligen.
Kennzeichnend sind Enthusiasmus sowie Rituale der Massenekstase, die ein spiritueller Lehrer (Zaddik) anleitet.
Der Lehre des Chassidismus zufolge wohnt das Göttliche in jedem Menschen.

Cheder
Die jüdische Elementarschule.

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D

Davidstern
Seit den 18. Jh. gilt der Davidstern als jüdisches Glaubenssymbol.
Die Ursprünge des sechseckigen, aus zwei ineinandergreifenden Dreiecken gebildeten Sterns liegen im Dunkel.
Einige meinen, die Form symbolisiere den Schild König Davids,
andere glauben, die Dreiecke stehen für den hebräischen Buchstaben »daleth«, die Initiale des Namens David.
Eine verbreitete Interpretation deutet die sechs äußeren Dreiecke als die sechs Arbeitstage
und das innere Sechseck als den Ruhetag Sabbat.

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E

Elia, Gaon von Wilna
Elia Wilna (1720-1797), bedeutender jüdischer Geistlicher, Philosoph und Pädagoge.
Entschiedener Gegner des Chassidismus.

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G

Galizien
Galizien liegt zwischen den Karpaten im Süden (Beskiden im Südwesten, Ostkarpaten im Südosten) und der Weichsel im Nordwesten sowie den Flüssen Bialka (poln. Biała) im Westen und Sbrutsch (poln. Zbrucz) im Osten. 
Im Allgemeinen werden heute die bis zur polnisch-ukrainischen Grenze reichenden südpolnischen Gebiete als Westgalizien und die östlich davon liegenden als Ostgalizien bezeichnet.
Im Westen Galiziens lebten mehrheitlich Polen, im Osten Galiziens mehrheitlich Ruthenen (Ukrainer). 
Juden lebten in beiden Teilen Galiziens, mehrheitlich jedoch in ostgalizischen Städten, 
da in zahlreichen westgalizischen Städten noch das Privileg »De non tolerandis Judaeis« aus dem 16. Jahrhundert seine Wirkung zeigte.

Gebet
Das persönliche Gebet bildet den Kern der jüdischen Glaubenspraxis.
Fromme Juden beten morgens, nachmittags und abends – am Sabbat und an Feiertagen noch zusätzlich.
Männliche fromme Juden bedecken während des Gebets ihren Kopf mit einer Kappe (Kippa).
Sie tragen dazu einen Gebetsschal (Tallit).
Zum Morgengebet legen sie zudem einen Gebetsriemen (Teffelin) an.
An diesem Lederriemen befinden sich kleine Kapseln, die Pergamentstreifen mit biblischen Texten enthalten.
Eine Kapsel wird auf der Stirn platziert, die andere am linken Arm, damit der Betende seinen Glauben im Kopf und am Herzen trägt.

Gaon
Jüdischer Titel, wörtlich: Macht, Erhabenheit, Glanz, bedeutet soviel wie Exzellenz.

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H

Haggada
Die Schriftensammlung der frühen Rabbiner;
sie enthält historische Erzählungen, Legenden und ethische Lehren.

Haskala
Die jüdische Aufklärung, 
eine Bewegung im europäischen Judentum des 18. und 19. Jh.

Hebräische Bibel
Eine Sammlung der wichtigsten heiligen Schriften im Judentum;
sie enthält die Tora, die Offenbarungen der Propheten und weitere heilige Texte;
in der christlichen Bibel das Alte Testament.

Hersch von Ostropol
Hersch Ostropoler, Urenkel des Samson Ostropoler, eines polnischen Kabbalisten;
lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jhdt. am Hof des chassidischen Rabbi Baruch aus Tulcyn,
wo er die Rolle des Hofnarren spielte; 
ihm werden zahlreiche, oft boshafte Streiche gegenüber unwissenden Juden und einfältigen Bauern zugeschrieben,
eine Art jüdischen Till Eulenspiegels.

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I

Ibn Esra
Abraham ben Meir Ibn (1089-1167), jüdischer Dichter, Philologe, Gelehrter.
Verfasser berühmter Bibelkommentare.

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J

JHWH
Die 4 Buchstaben des Gottesnamens (»Jahwe«),
der zu heilig ist, um vollständig ausgesprochen zu werden.

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K

Kabbala
Eine alte mystische Tradition, die auf einer esoterischen Deutung der Hebräischen Bibel basiert.
Diese ursprünglich mündlichen Überlieferungen wurden im späten 13. Jh. in Spanien im Sohar (»Glanz«) zusammengestellt.
Für Juden im Exil, nachdem sie Ende des 15. Jahrhunderts aus dem heutigen Spanien und Portugal vertrieben worden waren,
von besonderer Bedeutung. Der Kabbala zufolge hilft die Einhaltung der Gebote, Menschen im Exil der Erlösung entgegenzuführen.
Im 18. Jh. bildete die Kabbala die Basis für die Bewegung der Chassidim, in der die mystische Beziehung zu Gott einen wichtigen Platz einnahm.

Kapotes
Langer, kaftanähnlicher schwarzer Rock, der von den ärmeren Juden in Ermangelung eines Kaftans getragen wurde.

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M

Mischna
Die erste große Niederschrift der mündlichen Traditionen des Judentums
und das erste bedeutende Werk des rabbinischen Judentums.

Mitzwa
Ein Gebot Gottes,
insbesondere eines der Zehn Gebote oder der 613 Gesetze in der Tora.

Mizrachim
Juden, die aus dem nahen Osten, aus den arabischen Ländern und aus Asien stammen, sowie deren Nachkommen.

Maimonides
Moses ben Maimon (1135-1204), bedeutender jüdischer Philosoph und Kodifikator.

Mesua
Der Bibel zufolge sollen Juden das Gesetz nicht nur am Körper tragen, sondern auch an die Türpfosten ihrer Häuser schreiben.
Daher bringen Gläubige am Eingang ihrer Wohnung ein kleines Kästchen an, das Verse aus dem 5. Buch Mose enthält
und ihr Heim zu einem heiligen Ort macht. 

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O

Odessa
Der russische Zensus 1897 ergab einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 30,83 % in Odessa. 
Juden waren damit die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe der Stadt, 
nach den Russen mit 49,09 % und deutlich zahlreicher als die Ukrainer in Odessa (9,39 %). 
Den Chassidim galt Odessa als Sündenbabel und Zentrum der Haskala, der Aufklärung.
Odessa gilt als Ort der ersten grausamen Judenpogrome, von dem alles, gleichsam deshalb,
seinen Ausgang nahm (Quell unseres Elends).
Die ersten Judenpogrome in Rußland vor denen im Frühjahr 1881 fanden alle in Odessa statt: 1821, 1859, 1871;
den Massenpogrom vom 18.-19. Oktober 1905 (in Odessa und 660 Städten und Dörfern der Ansiedlungsrayons)
beschreibt Isaak Babel in der »Geschichte meines Taubenschlags«.

Orthodoxes Judentum
Das orthodoxe Judentum war besonders in Osteuropa verwurzelt, vor allem in Polen und Russland.
Orthodox orientierte Juden richten ihre Lebensweise nach der Thora aus, die ihnen vorgibt, wie sie sich kleiden und was sie essen dürfen.
Aufgrund ihrer strengen Befolgung der Thora pflegen die orthodoxen Juden zahlreiche Traditionen, die nur sie allein kennen.
Das gilt insbesondere für das ultraorthodoxe Judentum osteuropäischer Tradition,
wo die Männer schwarze Kleidung und – nach Anweisung des biblischen Buches Leviticus – lange Bärte und Schläfenlocken tragen.
Die orthodoxen Juden habe entschieden, für sich zu bleiben, um im Einklang mit dem Gesetz Gottes zu leben.
Viele sprechen auch heute noch Jiddisch, die aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Sprache ihrer Väter.

*****

P

Pessach
Das »Überschreitungsfest« oder Fest der ungesäuerten Brote,
beginnt am 14. Nissan (März – April) und dauert 8 Tage.
Erinnert an die Zeit, in der Moses die Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft führte.

Podolien
Podolien ist ein historisches Gebiet in der südwestlichen Ukraine 
und im nordöstlichen Teil der Republik Moldau (hier die nördliche Hälfte Transnistriens).

Privileg »De non tolerandis Judaeis«
Mit der Verleihung dieses Privilegs war es Juden nicht gestattet, sich in der Stadt niederzulassen und Handel zu treiben. 
Ein Ergebnis wiederholter Forderungen christlicher Bürger, vor allem Handwerker und Einkommenshändler, 
die ihre jüdischen Konkurrenten ausschalten wollten.
Die jüdischen Bürger mussten die betreffende Stadt verlassen und zogen in Ortschaften, denen das Privileg nicht verliehen wurde.

Pogrom
Der oder das Pogrom (Verwüstung, Zertrümmerung) steht für Hetze und gewalttätige Angriffe gegen Leben und Besitz einer religiösen, 
nationalen oder ethnischen Minderheit mit Duldung oder Unterstützung der Staatsgewalt. 
Das Judenpogrom von Odessa im Jahr 1821 war der erste Vorfall, der als Pogrom bezeichnet wurde.
International entwickelte sich der Begriff ab 1881 aus den antijüdischen Angriffen im zaristischen Russland.
Die Ermordung des Zaren Alexander II. von Russland durch die Untergrundorganisation Narodnaja Wolja im März 1881 wurde den Juden angelastet. 
Die nachfolgenden jahrelangen Judenverfolgungen wurden mit dem Begriff Pogrom bezeichnet, damit wurde der Begriff auch international bekannt.
In der Nachwirkung des Ersten Weltkriegs und der folgenden Konflikte, die Osteuropa heimsuchten 
(Russische Bürgerkrieg & Polnisch-Sowjetische Krieg) fanden Pogrome gegen die Juden statt. 
Da vielfach den Juden unterstellt wurde, die Bolschewiki in Russland zu unterstützen, 
litten sie unter ständigen Angriffen der Gegner des Bolschewiki-Regimes. Sowohl Rote Armee und polnische Armee organisierten Pogrome.
Der Begriff „Pogrom“ hat sich inzwischen von seiner russischen Herkunft gelöst. 
Verwendet wird er in der Umgangssprache und in historischen Einordnungen; er ist in die wissenschaftliche Fachsprache übergegangen. 
Der Begriff wird auch rückwirkend verwendet, z. B. für mittelalterliche Geschehnisse.

*****

R

Rabbiner
Der Lehrer und spirituelle Führer einer jüdischen Gemeinde.

Rabbi
Jüdischer Titel: Mein Herr; ursprünglich Anrede für Höhergestellte,
wurde später Titel für diplomierte Gelehrte,
im Chassidismus für den geistlichen Führer der Gruppe der Chassidim, dessen Stelle auf den Sohn überging, daher der Begriff »Dynastie«.

Raschi
Rabbi Salomo ben Isaak (1040-1105), bedeutender Bibel- und Talmudinterpret,
Pflichtlektüre im Cheder.

Reb (jiddisch)
Herr; steht vor dem Vornamen;
nicht zu verwechseln mit Rebbe, dem chassidischen Rabbiner.

*****

S

Sabbat
Der Ruhetag in der jüdischen Woche.
Er beginnt am Freitagabend bei Sonnenuntergang und endet am Samstag bei Sonnenuntergang.
Gläubigen Juden war es am Sabbat verboten zu rauchen und Geld in die Hand zu nehmen.

Sefirot
Die zehn Emanationen (Eigenschaften) Gottes in der Kabbala.

Sephardim
Juden, die aus Spanien, Portugal sowie Nordafrika stammen, sowie deren Nachkommen.

Synagoge
Im Zentrum des jüdischen Glaubens steht die Synagoge.
Das Wort »Synagoge« bedeutet ursprünglich »Versammlung«.
Ein Ort, an dem 10 männliche Juden zusammenkamen, galt als Synagoge, d.h. als Ort des Gebets und des Gottesdienstes.
Synagoge bezeichnet nicht nur die Versammlung, sondern auch das Gebäude, in dem gebetet und studiert wird.
Das Judentum legt großen Wert darauf, dass die Synagoge ein Ort der Bildung ist, 
an dem Hebräisch gelernt und über die Auslegung der Thora diskutiert wird.
Bilder und Statuen sind in der Synagoge nicht anzutreffen, denn die Thora verbietet »Götzenbilder«.

*****

T

Talmud
Der Textkörper aus Diskussionen und Interpretationen der Tora,
den Rabbiner und Gelehrte im Laufe von Generationen zusammengestellt haben;
orthodoxen Juden dient er v.a. in moralisch-ethischen Fragen zur Orientierung.
Die erste Zusammenfassung des Stoffes wird als »Mischna« bezeichnet.
Spätere Deutungen und Neuformulierungen sind in der »Gemara« dokumentiert.
Mischna und Gemara bilden den Talmud.
Diese Sammlung von Kommentaren enthält etwa zweieinhalb Millionen Wörter.
Der gewaltigen Umfang mit einem breiten Themenspektrum deckt jeden erdenklichen Aspekt des menschlichen Lebens ab. 
Es gibt zwei Versionen des Talmud: Der Jerusalemer Talmud wurde im 4. Jahrhundert in Israel zusammengestellt,
der umfangreichere Babylonische Talmud stammt aus Babylon (heute Irak) und entstand um das Jahr 500.

Tora
Die ersten fünf Bücher der Hebräischen Bibel;
sie werden als Offenbarungen Gottes betrachtet, die Moses auf dem Berg Sinai empfing.
Das hebräische Wort »Thora« wird allgemein mit »Gesetz«, »Lehre« oder »Weisung übersetzt.
Die Thora, die die Geschichte der ersten Juden schildert und Gottes Gebote an sein Volk darlegt,
ist der heiligste Text des Judentums; in jeder Synagoge findet sich ein Exemplar in hebräischer Sprache.
Die handgeschriebene Schriftrolle wird in einem Thoraschrein aufbewahrt, der den Mittelpunkt der Synagoge bildet.
Die Thorarolle wird mit größter Sorgfalt geschrieben, denn der originale Text muss akkurat übernommen werden.
Der Text ist zu heilig, um von Menschenhand berührt zu werden.
Wer in der Synagoge aus der Thora vorliest, verwendet einen Zeigestock mit einer Metallhand an der Spitze (Yad),
um den Zeilen zu folgen, damit die Rolle nicht beschmutzt oder anderweitig beschädigt wird.
Wäre dies der Fall, müsste sie für unbrauchbar erklärt und in einem Tonkrug auf einem jüdischen Friedhof begraben werden.

***** 

W

Wolhynien
Die historische Region Wolhynien erstreckt sich von ca. 52º bis 50º nördlicher Breite und 27º bis 24º östlicher Länge. 
Im Westen wird sie begrenzt vom westlichen Bug, nördlich vom Prypjat und seinen Nebenflüssen bzw. die durch sie gebildeten Sumpfgebiete, 
im Süden und Osten gibt es keine naturräumliche Begrenzung. Hier reicht Wolhynien etwa bis Dubno bzw. Schitomir/Žytomyr. 
Die Größe der Region Wolhynien beträgt ca. 90.000 qkm. 
Heute liegt der Großteil der historischen Region Wolhynien in der Ukraine, kleinere Anteile in Südostpolen und im Südwesten Weißrusslands.
Seit dem 12. Jahrhundert entstanden jüdische Gemeinden, die polnisch-litauische Adelsrepublik (1569–1795) entwickelte sich aufgrund einer toleranten Politik zum Zentrum jüdischen Lebens in Ost- & Mitteleuropa, das wolhynische Schitomir zu einem Zentrum der chassidischen Bewegung.
Die Mehrzahl der Bewohner der Region waren Ukrainer, die Bevölkerung bis zum Zweiten Weltkrieg multiethnisch. 
In vielen Städten stellten Juden die Bevölkerungsmehrheit.

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Z

Zaddik
Dem Zaddik wurden von seinen chassidischen Anhängern wundertätige Kräfte nachgesagt.

Zobelfellmütze
Traditionelle Kopfbedeckung des chassidischen Rabbiners.

Žytomir
Stadt in der heutigen Ukraine.
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in Schytomyr eine bedeutende jüdische Gemeinde. 
Die Stadt war ein Zentrum der chassidischen Bewegung und gehörte im Zarenreich zum Ansiedlungsrayon. 
Im Jahre 1891 war über ein Drittel der Stadtbevölkerung jüdisch. Zusammen mit Vilnius war dies der einzige Ort, 
an dem die russische Regierung ein Rabbinerseminar zur Ausbildung von Rabbinern im Staatsdienst errichten ließ. 
Zu den bekannten Studenten des Rabbinerseminars gehörte der Begründer des jiddischen Theaters, Abraham Goldfaden. 
Der Schriftsteller Mendele Moicher Sforim wohnte in Schytomir, 
und als Kind wuchs hier der bedeutende hebräische Dichter Chaim Nachman Bialik auf. 

*****

(Renald Deppe)

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