Verortung & Perspektive _22

Notstand 29. Mai 2022

Anaïs Nin
(1903 – 1977)

Das Delta der Venus
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Eva Bornemann
Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2012

Amerikanische Originalausgabe:
Delta of Venus
Verlag Harcourt Brace, New York 1977

POSTSKRIPTUM

Damals, als wir alle Erotika für einen Dollar die Seite verfassten, war es mir klargeworden, daß wir jahrhundertelang nur ein einziges Vorbild für diese literarisches Genre gehabt hatten:
Die Schriften der Männer. Schon damals fiel mir der Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Sexualität auf. Ich hatte erkannt, daß es wesentliche Gegensätze zwischen der Ausdrücklichkeit eines Henry Miller und meinen Verschleierungen – zwischen der derb-komischen Sicht des Sexus und meinen eher lyrischen Schilderungen erotischer Beziehungen in den unveröffentlichten Passagen meines Tagebuchs, in dessen drittem Band ich andeutete, Pandoras Büchse enthielte eigentlich die Rätsel weiblicher Sexualität, die so anders war als die männliche und für welche die Sprache des Mannes nicht ausreichte. Frauen, meinte ich, neigten dazu Geschlechtlichkeit mit Gefühl, mit Liebe zu verschmelzen und sich lieber einen einzigen Mann auszusuchen, als häufig den Partner zu wechseln. Dies wurde mir, während ich die Romane und das Tagebuch verfaßte, klar und wurde noch deutlicher,
als ich mit dem Unterricht begann. Obwohl die Einstellung der Frauen dem Sex gegenüber ganz anders als die der Männer war,
hatten wir es nicht gelernt, darüber zu schreiben. Diese Erotika, die ich ja nur als Unterhaltung und auf Bestellung verfasste, unter dem Druck eines Auftraggebers, der mir aufgetragen hatte, »die Poesie wegzulassen«, schrieb ich unter dem Eindruck einer von Männern verfaßten Literatur. Deshalb glaubte ich immer, ich hätte die weibliche Sache verraten. Aber wenn ich nun diese, vor so langer Zeit verfaßten Texte wieder lese, merke ich, daß meine eigene Stimme nicht ganz unterdrückt war, denn in vielen Passagen sprach ich intuitiv in der Sprache der Frau und schilderte sexuelles Erleben aus weiblicher Sicht. Am Ende entschloß ich mich zu einer Veröffentlichung der Erotika, weil sie die ersten Schritte einer Frau auf einem Gebiet belegen, das bisher nur Männern überlassen war.
Sollte die unzensierte Fassung des Tagebuches je veröffentlicht werden, wird diese weibliche Sicht deutlicher werden. Sie wird zeigen, daß Frauen (wie auch ich, im Tagebuch) niemals Sexualität von Gefühl, von Liebe zum ganzen Mann getrennt haben.

Anaïs Nin, Los Angeles, September 1976

Kontrapunkt

Carla Bruni (*1967) : Tu Es Ma Came

Perspektive 22

Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Aufforderung zum Tanz.
Das Institut zur Verbesserung. Eine Herausforderung.
Das Institut. Ein Diskurs.

Literaturen der Welt.
Erotische Literaturen von Welt.

Tagebücher als Traumwelten.
Drehbücher als Lehrbücher für Innenwelten.
Sudelbücher als Literatur für & über Scheinwelten?
Schmuddelbücher als erotische Literatur von & über Unterwelten?
Kassenbücher als erotische Literatur von & für & über Geschäftswelten?

Sex sells.
Sex & crime.
Tristan & Isolde. Romeo & Julia. Carmen. Don Giovanni. Salomé. Falstaff: Così fan tutte.

Sex hat Macht.
Macht braucht Sex.
Sex gebraucht Macht.
Macht missbraucht Sex.

Sex kauft Bilder.
Bilder verkaufen Sex.
Sex zahlt Politik.
Politik bezahlt Sex.

Sex kennt Kirchen.
Kirchen verkennen Sex.
Sex nutzt Religionen.
Religionen benutzen Sex.

Sex kennt Pornographie
Pornographie braucht Verlangen.
Verlangen sucht Befriedigung.
Befriedigung ist käuflich.  

Sex. Oralsex. Cybersex. Gruppensex. Telefonsex. Zum Beispiel.
Sexus. Geschlecht. Geschlechtstrieb. Grammatikalisches Geschlecht. Zum Beispiel.
Sexualität. Bisexualität. Asexualität. Homosexualität. Transsexualität. Intersexualität. Zum Beispiel.

Eros. Gott der Liebe.
Erotik. Analerotik. Objekterotik. Zum Beispiel.
Erotomane. Erotomanie. Erotikon. Zum Beispiel.

Lust. Lebenslust. Wollust. Fleischeslust. Mordlust. Zum Beispiel.
Gier. Beutegier. Geldgier. Raffgier. Liebesgier. Begierde. Begehren. Zum Beispiel.
Sucht. Sehnsucht. Habsucht. Eifersucht. Rachsucht. Gefallsucht. Drogensucht. Fresssucht. Zum Beispiel.

Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Aufforderung zum Tanz.
Das Institut zur Verbesserung. Eine Herausforderung.
Das Institut. Eine Überforderung?

Ein Diskurs.
Ein Diskurs über ein Deltabuch.
Ein Diskurs über das »Delta der Venus« von Anaïs Nin: 

»Dann verlor sie schließlich die Beherrschung und fiel vor dem stocksteifen Ständer auf die Knie.
Sie berührte ihn nicht, sie verschlang ihn nur mit den Augen.
Sie flüsterte: „Wie schön er ist!“
Er war sichtlich betroffen, und sein Glied wurde noch steifer.
Sie kniete dicht daneben, die hätte es fast mit dem Mund berühren können,
aber sie wiederholte nur: „Wie schön er ist!“.
Da er sich nicht bewegte, rutschte sie näher, die Lippen leicht geöffnet,
und zart, ganz zart berührte sie die Spitze des glänzenden Schaftes mit der Zunge.
Er rührte sich nicht.
Statt dessen beobachtete er ihr Gesicht und die flinke Zunge,
die immer zärtlicher die Spitze seines Schwanzes umspielte.
Sie leckte ihn sanft und mit der Behutsamkeit einer Katze.
Dann nahm sie ihn ein Stück in den Mund und umschloß es fest mit den Lippen.
Es bebte.
Sie hielt sich zurück, sie wollte nicht weitergehen, denn sie hatte Angst, er könnte sich wehren.
Als sie innehielt, ermutigte er sie nicht, fortzufahren. Es schien ihm zu genügen.
Marianne glaubte, sie dürfte sich nicht mehr herausnehmen.
In ihrem Innern brauste ein Sturm.«

Zum Beispiel.

Studiert hat Anaïs Nin Psychoanalyse. Bei Otto Rank.
Studiert hat Anaïs Nin das Leben. In Brüssel, Arcachon, Barcelona, Paris & New York.
Studiert hat Anaïs Nin das Überleben. Mit Bankangestellten, Sigmund Freud & C.G. Jung.   
Berüchtigt war Anaïs Nin für ihre vielen gleichzeitig gelebten Lieb- & Leidenschaften.
Berühmt wurde Anaïs Nin als schreibende Lebensabschnittsparterin von Henry Miller. 
Weltberühmt wurde Anaïs Nin durch die Veröffentlichung ihrer weltoffenen Tagebücher.

1974 wurde sie in die American Academy of Arts and Letters gewählt.

Als das von Anaïs Nin lange zurückgehaltene Buch kurz vor ihrem Tod 1977 erschien, schrieb die weltoffene »New York Times«:
»Dies ist das schönste und direkteste Buch, das je von einer Frau geschrieben wurde.
Was es zum doppelten Genuss macht, ist seine Sprache: delikat und geschmeidig, direkt und sinnlich.« 
Als ihr lange zurückgehaltenes Buch 1983 in Deutschland erschien, wurde es als pornographisch und jugendgefährdend bewertet und beschlagnahmt. Zum Beispiel.

Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Aufforderung zum Tanz.
Das Institut zur Verbesserung. Eine Herausforderung.
Das Institut. Eine Überforderung? Unterforderung? Anforderung? Einforderung? Nachforderung? Rückforderung?

Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Anleitung zum Gebrauch von Herz oder Zunge, Hirn oder Schwanz?
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Anleitung zum Gebrauch von Hirn und Zunge, Herz und Schwanz?
Antworten nach dem Lesen des Buches. Vielleicht.
Fragen nach dem Lesen das Buches. Bestimmt.
Schweigen nach dem Lesen des Buches. Vermutlich.

Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Versuchung?
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Verführung?
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Verortung?
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Perspektive über die Tabulaturen unserer Tabus zu staunen. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Möglichkeit über die Boten der Verbote zu erstaunen.
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Möglichkeit das Verbotene an dessen Boten zu bestaunen. 
Das Institut zur Verbesserung der Lage. Eine Bestandsaufnahme von Bedrängnis und Verdrängung, von Scham und Schamlosen?

All das ist zu klären. Zu diskutieren. 
Nach dem Lesen des Buches.

Oder auch nicht.
Oder öfters?
Oder?

(Renald Deppe)

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