Verortung & Perspektive _19

Schießstand 8. Mai 2022

Bruno Schulz
(1892 – 1942)

Die Zimtläden
Aus dem Polnischen von Doreen Daume
Carl Hanser Verlag, München 2008

Polnische Originalausgabe:
Sklepy cynamonowe 
Rój, Warschau 1934

Adela kehrte in den strahlenden Morgenstunden wie Pomona aus dem Feuer eines lodernden Tages zurück
und schüttete die bunte Schönheit der Sonne aus ihrem Korb –
funkelnde Kirschen, wasserprall unter durchscheinender Haut,
geheimnisvolle schwarze Schattenmorellen, deren Duft noch übertraf, was in ihrem Geschmack verwirklicht war,
Aprikosen, deren goldenes Fleisch die Essenz langer Nachmittage enthielt;
und neben diese reine Poesie der Früchte lud sie vor Kraft und Nährwert strotzende Fleischstücke 
mit der Klaviatur von Kälberrippen, Wassergewächse, fast wie erschlagene Kopffüßler und Medusen –
das Rohmaterial einer Mahlzeit von noch ungeformtem Geschmack und Gehalt,
die vegetativen und tellurischen Ingredienzen einer Mahlzeit von wildem Feldgeruch.

Jeden Tag durchwanderte der große Sommer die dunkle Wohnung im ersten Stock des Hauses am Marktplatz:
die Stille flimmernder Luftschichten, die leuchtenden Quadrate, die
auf dem Fußboden inbrünstig ihren Traum träumten,
die Melodie eines Leierkasten, aus der tiefsten goldenen Ader des Tages hervorgelockt,
zwei, drei Takte eines Refrains, die irgendwo, immer wieder, auf einem Klavier gespielt wurden,
ohnmächtig auf den weißen Trottoirs zusammenbrachen und sich im Feuer der Tagesmitte verloren.
Adela zog nach dem Saubermachen die leinenen Vorhänge zu und ließ Schatten in die Zimmer.
Dann sanken die Farben um eine Oktave, 
das Zimmer füllte sich mit Schatten, als wäre es in das Licht der Meerestiefe versunken,
und die ganze Hitze des Tages atmete auf die Vorhänge, die sich von den Träumen der Mittagsstunde leise bauschten.

Samstag nachmittags ging ich mit meiner Mutter spazieren.
Man trat aus dem Dämmer des Flures plötzlich in das Sonnenbad des Tages.
so daß die hochgezogenen Oberlippen Zähne und Zahnfleisch entblößten.
Und alle trugen sie beim Waten im goldenen Tag diese Hitzegrimasse, 
als hätte die Sonne all ihren Anbetern ein und dieselbe Maske aufgesetzt – die goldene Maske der Sonnenbruderschaft;
und alle, die heute durch die Straßen spazierten, einander begegneten, aneinander vorbeigingen, 
Alte und Junge, Kinder und Frauen, grüßten sich im Vorübergehen mit der dick aufgetragen, goldfarbenen Maske im Gesicht
und schnitten einander diese bacchantische Grimasse – die barbarische Maske eines heidnischen Kults.

Der Marktplatz war leer und gelbglühend, heiße Winde hatten ihn vom Staub reingefegt wie eine biblische Einöde.
Die dornigen Akazien, die aus der Leere des gelben Platzes wuchsen, flirrten darüber mit hellem Laub,
mit Büscheln feingegliederten, grünen Filigrans, wie Bäume auf alten Gobelins.
Es schien, als spreizten sich die Bäume affektiert vor dem Wind, sie wühlten ihre Kronen theatralisch auf,
um in pathetischen Verrenkungen die Vornehmheit der Blattfächer mit ihren silbrigen Bäuchen wie die Pelze edler Füchsinnen zu zeigen.
Die alten, vom Wind vieler Tage polierten Häuser hatten sich im Widerschein der großen Atmosphäre verfärbt,
in den Echos und Erinnerungen der Farben, die in der Tiefe des bunten Wetters zerstreut waren.
Es war, als hätten ganze Generationen von Sommertagen 
(wie geduldige Stukkateure den Schimmel vom Putz alter Fassaden)
eine trügerische Glasur abgeklopft und dabei Tag für Tag das wahre Antlitz der Häuser deutlicher herausgemeißelt,
die Physiognomie der Schicksale und des Lebens, die sie von innen geformt hatten.
Jetzt schliefen die Fenster, vom Schein des leeren Platzes geblendet, die Balkone gestanden dem Himmel ihre Leere,
aus offenen Hausfluren roch es nach Kühle und Wein.

Kontrapunkt

Johann Sebastian Bach (1785 – 1750) : Sonata for Violin Solo No. 3 in C, BWV 1005: I. Adagio

Perspektive 19

Wer seine Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen.
Wer die Geschichte nicht benennt, ist versucht, sie zu wiederholen.
Wer Geschichte nicht erinnert, wird verführt, sie zu wiederholen.

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an das Jahrhundert der Wölfe.
An Bruno Schulz.

Bruno Schulz wurde 1942 in seiner Heimatstadt Drohobycz auf offener Straße erschossen.
Bruno Schulz wurde von einem deutschen SS-Mann ermordet. Das Grab ist unbekannt.

Die SS verbrannte Bücher. Und Menschen. Und Erde.
Bruno Schulz schrieb Bücher. Für Menschen. Auf dieser Erde.

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert.
Gestattet sich zu wiederholen.
Erlaubt sich zu benennen:

Bruno Schulz kam als 3. Kind jüdischer Eltern 1892 in Drohobycz zur Welt.

Drohobytsch. (ukrainisch: Дрогобич•russisch: Дрогобыч•polnisch: Drohobycz•jiddisch: דראָביטש)
Drohobytsch. Siedlungsgründung im späten 11. Jahrhundert. Ein erster Kreuzzug eroberte Jerusalem.
Drohobytsch. Stadt im Königreich Polen. Verwaltungseinheit der Adelsrepublik Polen-Litauen. Bis 1772.
Drohobytsch. Stadt der Habsburger. Im österreichischen Kronland Galizien und Lodomerien. Bis 1918.
Drohobytsch. Deutsch war offizielle Amtssprache. War erste Fremdsprache an den Schulen. Wien ein Traum.
Drohobytsch. Öl wurde gefunden. Die Stadt „boomte“. Die Armut auch. Eine „Galizische Hölle“ entstand.
Drohobytsch. Frontstadt. Schulzens Elternhaus samt Wohnung & Geschäft wurde von russischen Militärs in Brand gesteckt.
Drohobytsch. Albtraum. Im verheerenden ersten Krieg der Welten. Danach eine Stadt in Polens Zweiter Republik.
Drohobytsch. 35 000 Einwohner. 35% Polen. 20% Ukrainer. Über 40% gehörten zur jüdischen Gemeinde.
Drohobytsch. Stadt mit der größten Synagoge Polens. Stadt der Chassidim. Das Jerusalem Galiziens.
Drohobytsch. Die Rote Armee besetzte die Stadt. 1939 Teilung Polens. Ein deutsch-sowjetisches Geheimabkommen.
Drohobytsch. Galizien wurde Sowjetische Verwaltungseinheit. Pogrome. Not. Gewalt. Willkür. Hunger. Und Lieder.
Drohobytsch. Frontstadt. Im verheerenden zweiten Krieg der Welten. Ab 1941 von der Deutschen Wehrmacht besetzt.
Drohobytsch. Ermordung, Vernichtung, Deportation der jüdischen Gemeinde. Tödliche Zwangsarbeit in der Ölindustrie.
Drohobytsch. Mit Unterstützung der ukrainischen Hilfspolizei und Wehrmachtsduldung mordete die SS. Endlösungsgetreu.
Drohobytsch. Von 15 000 jüdischen Mitbürgern überlebten bis 1944 gerade 400 Seelen. Zufällig.Meistens. Hilfe. Selten.
Drohobytsch. Eine Welt ohne Erbarmen. Eine Welt zum Erbarmen. 1944 Befreiung & Besetzung durch die Rote Armee.
Drohobytsch. Die Stadt wurde der der Sowjetunion zugeteilt. Ukrainische SSR. Polnische Bevölkerung wurde vertrieben.
Drohobytsch. Der Terror Stalins wütete. 1991 Eingliederung der 76 300 Einwohner in die Ukraine. Vorläufig?

Die Gegenwart feiert Supermärkte. Nicht nur in Drohobytsch.
Läden gibt es kaum noch. Nicht nur in Drohobytsch.
Zimtläden verschwanden. Überall.

Mit den Zimtläden ging wertvolles Kulturgut für immer verloren. Nicht nur für Osteuropa.
Mit den Zimtläden verbrannte das jüdische Schtetl. Nicht nur in Drohobytsch.
Mit den Zimtläden von Bruno Schulz kann man ohne Zimtläden überleben.
Hoffnungsfroher. Wutbefreiter. Zimtlädenbeflügelt.

Es bleibt die Trauer.
Es bleibt die Erinnerung.
Es bleibt die Verantwortung.

Wer seine Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen.
Wer die Geschichte nicht benennt, ist versucht, sie zu wiederholen.
Wer Geschichte nicht erinnert, wird verführt, sie zu wiederholen.

Es bleiben die Zimtläden von Bruno Schulz. 
Weil benannt. Weil aufgeschrieben. Weil nachzulesen.

Warum? Weshalb? Wozu? 
Bruno Schulz gibt zimtfarbenweise Auskunft:

 Das Wesen der Wirklichkeit ist der S i n n.
Was keinen S i n n hat, ist für uns nicht wirklich.
Jedes Stück Wirklichkeit lebt dadurch, daß es an einem universalen S i n n teilhat.

 Am Anfang war das Wort.
Was unbenannt ist, existiert für uns nicht.
Etwas zu benennen bedeutet, es in einen universalen S i n n einzubeziehen.

 Das Leben des Wortes besteht darin, daß es sich nach tausend Verbindungen dehnt und streckt,
wie der zerstückelte Leib der Schlange in der Legende, deren Einzelteile einander in der Dunkelheit suchen.

 Das isolierte Wort, das Wort als Mosaikstein, ist ein späteres Produkt, es ist bereits ein Resultat der Technik.
Das ursprüngliche Wort war ein Phantasiegebilde, das den S i n n der Welt umkreiste,
es war ein großes universales Ganzes.

 Das Leben des Wortes, seine Entwicklung, wurde auf neue Gleise, 
auf die Gleise der Lebenspraxis gelenkt und neuen Vorschriften unterworfen.

 Doch wenn die Gebote der Praxis auf die eine oder andere Weise ihre Zügeln lockern,
wenn das Wort, von diesem Zwang befreit, sich selbst überlassen ist und wieder den eigenen Gesetzen zurückgegeben wird,
dann regrediert es, strömt zurück, strebt nach früheren Verbindungen, möchte wieder vollständig S i n n werden –

 – und diesen Drang des Wortes zurück zum Ursprungsort, seine zurückgewandte Sehnsucht,
die Sehnsucht nach der Urheimat des Wortes nennen wir Poesie.

 Die ursprünglichste Funktion des Geistes ist das Fabulieren, das Erfinden von »Geschichten«.

 Der Motor menschlicher Wissenschaft ist die Überzeugung, 
daß der absolute Sinn der Welt am Ende aller Forschungen gefunden wird.
Sie sucht ihn auf dem Gipfel ihrer künstlichen Stapel und Gerüste.

 Doch die Elemente, die sie zum Bau verwendet, sind schon einmal gebraucht worden,
sie stammen aus vergessenen und zertrümmerten »Geschichten«.

 Die Poesie erkennt diesen verlorenen Sinn wieder, sie gibt den Worten ihren Ort zurück
und fügt sie gemäß ihrer früheren Bedeutung wieder zusammen. 

 Wir halten das Wort üblicherweise für den Schatten der Wirklichkeit, für ihr Abbild.
Richtiger wäre die umgekehrte Behauptung.

Die wundersamen Zimtläden von Bruno Schulz wurden neu übersetzt.
Von Doreen Daume. Einfühlsam, liebevoll feinhörig & zartfühlend sprachgewaltig.

In ihren Anmerkungen zur Übertragung aus dem Polnischen schreibt Doreen Daume:

»Schulz empfand sehr stark die Parallelen zwischen Sprache und Musik 
und spielte virtuos mit musikalischen Elementen. In einem Moment der tiefsten Depression, 
der Selbstzweifel und der Schaffenskrise schrieb er 1936 an seine Freundin Romana Halpern:

„Ich möchte müßig gehen, nichts tun, mich treiben lassen, mich ein wenig an der Landschaft freuen,
an einer Himmelskuppel, deren Vorabendwolken sich ins Jenseits auftun.
Vielleicht käme dann wieder eine Melodie zu mir, 
vielleicht  strömte mir dann eine Welle der Prosa zu.“

Man kann Musik als Sprache verstehen und Sprache als Musik hören,
und man kann auch die instrumentale Ausführung eines Musikstücks
und das Übersetzen eines poetischen Textes in vielerlei Hinsicht miteinander vergleichen.«

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an ein Jahrhundert der Wölfe.
Benennt dessen Klänge & Strenge, Sprache & Rache, Klagen & Fragen. 
Verortet Leises & Weises, Lautes & Vertrautes, Bilder & Schilder,  Zeichen & Weichen.  
Hoffnungen, Träume, Trauer, Verluste, Widerstände, Hin-, Ab-, An-, Aus-, Ein-, Zu- & Aufgaben. 

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an ein Jahrhundert der Wölfe. 
An Bruno Schulz.

(Renald Deppe)

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