Verortung & Perspektive _18

Spielstand (II) 1. Mai 2022

Marina Zwetajewa
(1892 – 1941)

Lob der Aphrodite
Gedichte von Liebe und Leidenschaft
Übertragen und mit einem Essay von Ralf Dutli
Wallenstein Verlag, Göttingen 2021

Endlich hab ich dich getroffen
Den ich bitter brauch:
Sterbensnötig seine Hoffnung,
Denn er braucht mich sicher – auch.

Was dem Aug der Regenbogen,
Was dem Gras der schwarze Grund –
Der Mensch braucht zur Erprobung
Den Menschen, seinen Mund.

Mehr als Regen, Regenbogen
Notwendig mir die Hand, die lebt,
Dass ein Mensch ganz unverhohlen
Seine Hand in meine legt.

Das ist weiter als ein Binnenmeer,
Mehr als ein Berg – so felsenfest –
Dass ein Mensch von innen her
seine Wunde in meine Hand presst.

Dafür, dass du mit Geschwüren
Die Hand mir brachtest verbrannt –
Leg ich, um nur dich zu spüren,
Für dich ins Feuer meine Hand!

(11. September 1936)

Kontrapunkt

Wladimir Semjonowitsch Wyssozki (1938 – 1980) : Schwarze Augen

Perspektive 18

Marina Zwetajewa war Zeugin einer finsteren Zeit.
M. Z. erlebt ein behütetes wie begütertes Elternhaus in Moskau. Und eine tuberkulöse Mutter.
M. Z. erlebt als Tochter Kur- & Schulaufenthalte in Italien, der Schweiz, im deutschen Schwarzwald. 
M. Z. erlebt 1906 den Tot der Mutter. Reist mit 16 allein nach Paris. Begegnet Buhl-, Lieb- & Leidenschaften.
M. Z. erlebt Dresden. Die Krim. Lernt dort ihren zukünftigen Ehemann kennen. Hochzeitsreise nach Sizilien.
M. Z. erlebt die Geburt ihrer Tochter Ariadna. Den Tod des Vaters. Und immer wieder Paris.
M. Z. erlebt erfolgreiche Veröffentlichungen ihrer Gedichte. Erlebt & lebt mit Ossip Mandelstam. 
M. Z. erlebt den ersten Krieg der Welten, den Sturz des Zaren, die Russische Revolution.
M. Z. erlebt den anschließenden Bürgerkrieg im ehemaligen Zarenreich. Und die Verarmung ihrer Familie.
M. Z. erlebt die Absenz ihres Gatten Sergej Efron. Fünf Jahre galt S. E. als Verschollen. Ein- & Zweisamkeiten.
M. Z. erlebt den Tod ihrer 1917 geborenen Tochter Irina. Sie stirbt in Kunzewo an Unterernährung.
M. Z. erlebt die Nöte der Emigration: in Berlin, Prag, Paris. Mit ihrer Tochter Ariadna. Mittellos.
M. Z. erlebt die Wiederbegegnung mit ihrem Gatten. Die Geburt ihres Sohnes Georgij. Stets Mittellos.
M. Z. erlebt andere Beziehungen, andere Leidenschaften. Passionen. Ihr Mann setzt sich nach Moskau ab.
M. Z. erlebt Seelen- & Hungerqualen. Vereinsamung & Armut. Im Exil. In Paris. Schreibversuche. Täglich. 
M. Z. erlebt die Verurteilung ihrer Schwester. Ihrer Tochter Ariadna. Lagerhaft und Verbannung. 
M. Z. erlebt die Rückkehr nach Moskau. Und die anschließende Verhaftung ihres Gatten.
M. Z. wird Tochter und Ehemann seit deren Verhaftung 1939 nicht wiedersehen. Schreibversuche. Täglich.
M. Z. wird nach Jelabuga in die Tatarische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik evakuiert. Mit ihrem Sohn.
M. Z. wird 1941 Selbstmord begehen. Durch Erhängen. Im August. Im Oktober wird Efron erschossen. Im Gefängnis.

Ossip Mandelstam, Gatte von Nadeschda Mandelstam, beschreibt M. Z. wie folgt:
»Nachtigallenfieber«.
Nadeschda Mandelstam, Gattin von Ossip Mandelstam, beschreibt M. Z. ausführlicher:
»Sie war vollkommen eigensinnig. 
Sie suchte in allem die Ekstase und die Absolutheit des Gefühls.
Sie brauchte die Ekstase nicht nur in der Liebe, sondern auch im Verlassenwerden, in der Einsamkeit, im Unglück.«

Nadeschda Mandelstam. Eine unbestechliche wie sorgfältige Zeitzeugin.  
1979 erschien ihr Buch »Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe«.  

Im Jahrhundert der Wölfe schrieb Marina Zwetajewa. Tagebuch.

»Der erste Liebesblick ist jene kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten,
jene göttliche Gerade, wie es keine zweite gibt.«

(M. Z. – Tagebuchprosa, 1917 – 1920)

 »Einzig Frauen zu lieben (für eine Frau) oder einzig Männer (für einen Mann),
bewusst das übliche Entgegengesetzte auszuschließen – wie grausig!
Aber nur Frauen (für den Mann) oder nur Männer (für die Frau) zu lieben,
bewusst das ungewohnte Eigene ausschließend – wie langweilig!
Und alles zusammen – welche Erbärmlichkeit.
Hier ist tatsächlich der Ausruf angebracht: Seid wie die Götter!
Jeder bewußte Ausschluss – ein Graus.«

(M. Z. – Entwurfheft 1921)

Im Jahrhundert der Wölfe schrieb Marina Zwetajewa. Briefe.

 »Liebe, das grausamste Spiel zum Krallenschärfen gegen sich selbst.«

(M. Z. an Jewgenij Lann, 1920)

 »Das Schmerzhafte in der Liebe ist persönlich, das Genussvolle gehört allen.
Der Schmerz heißt DU, das Genussvolle ist namenlos (Urgewalt des Eros).
Deshalb können wir uns wohlfühlen mit irgendwem, den Schmerz aber wollen wir nur von einem.
Der Schmerz ist das DU in der Liebe, unser persönliches Merkmal an ihr.
(NB! Man braucht dieses »Wohlgefühl« nicht von jedem anzunehmen.)
Deshalb: »Mach es schmerzhaft«, d.h. sage, dass du es bist, nenne deinen Namen.«

(M. Z. an Alexander Bachrach, 1923)

 »Liebe lebt von Worten und stirbt an Taten.«

(M. Z. an R. M. Rilke, 1926)

 »Wenn ich eine Weide verzweifeln sehe, begreife ich Sappho.«

(Brief an die Amazone, 1932)

 »Ariadna! Meine Mutter wollte einen Sohn Alexander, da wurde ich geboren,
aber mit der Seele (und auch dem Kopf) ihres Sohnes Alexander,
d.h. verurteilt zur – sagen wir es ehrlich – Nicht-Liebe der Männer – und zur weiblichen Liebe,
denn Männer konnten mich nicht lieben – vielleicht ich sie auch nicht:
ich liebte Engel und Dämonen.«

(M. Z. an Ariadna Berg, 1937)

 »Und Hinrichtungen, mein Täubchen, alle Henker sind Brüder,
egal, ob es sich um die Hinrichtung eines Russen nach einem ordentlichen Gericht
oder um einen Schuss in den Rücken durch einen Tschekisten handelt -,
ich schwöre Ihnen, dass alles das gleiche ist, wie immer es sich nennt:
eine Gemeinheit, der ich mich nie unterordnen werde, 
wie überhaupt keiner organisierten Gewaltanwendung, gleich, in wessen Namen sie begangen wird
und wessen Name dafür als Aushängeschild steht.

(M. Z. an Anna Tesková)

 »Ich bin schon lange nicht mehr am leben – denn so ein Leben – 
ist kein Leben, sondern ein endloser Aufschub.«

(M. Z. an Ariadna Berg, 1938)

Im Jahrhundert der Wölfe schrieb Marina Zwetajewa. Gedichte. (1924)

Meinem Bruder in der fünften Jahreszeit,
im sechsten Sinn und in der vierten
Dimension – Boris Pasternak

Im Jahrhundert der Wölfe schrieb Marina Zwetajewa. Gedichte. (1941)

Ich weigre mich, zu leben
Im Tollhaus, unter Vieh.
Ich weigre mich, ich heule
Mit den Wölfen nie.

Im Jahrhundert der Wölfe schrieb M. Z. Gedichte.

Zeit, sich vom Bernstein zu trennen,
Zeit, die Dinge neu zu benennen;
Laß die Laterne nicht brennen
Über der Tür…

Das Jahrhundert der Wölfe. In Russland.
Der erste Krieg der Welten. Bis 1917. 8 Millionen Gefangene, Vermisste und Tote.
Der Bürgerkrieg. Bis 1922. 16 Millionen Menschen starben. Auch den Hungertod.
Die Tscheka. OPGU. NKWD. Verhaftungen. Folter. Morde. Deportationen. Ungezählte. 
Die Errichtung des Gulag-Systems. 18 Millionen Inhaftierte. 2,7 Millionen Tote. Morde.
Der große Terror unter Stalin. 1,5 Millionen Verhaftete. 800000 Morde. Bis 1938.
Der zweite Krieg der Welten. 24 Millionen sowjetische Bürger verloren ihr Leben.
Das Jahrhundert der Wölfe überdauerte. In Russland. Und anderswo. Bis…?

Wer seine Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen.
Wer die Geschichte nicht benennt, ist versucht, sie zu wiederholen.
Wer Geschichte nicht erinnert, wird verführt, sie zu wiederholen.

Das Institut zur Verbesserung der Lage erinnert an das Jahrhundert der Wölfe.
An Marina Iwanowna Zwetajewa.

(Renald Deppe)

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