
Kopfstand 10. April 2022
Peter Bichsel
(*1935)
Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen.
21 Geschichten
Walter Verlag, Olten 1964
Neuausgabe:
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1996
73 Seiten
Erklärung
Am Morgen lag Schnee.
Man hätte sich freuen können.
Man hätte Schneehütten bauen können oder Schneemänner,
man hätte sie als Wächter vor das Haus getürmt.
Der Schnee ist tröstlich, das ist alles was er ist –
und er halte warm, sagt man, wenn man sich in ihn eingrabe.
Aber er dringt in die Schuhe, blockiert die Autos, bringt Eisenbahnen zum Entgleisen und macht entlegene Dörfer einsam.
Kontrapunkt
Perspektive 15
Eigentlich sollten sie Herrn Peter Bichsel kennenlernen.
Peter Bichsel schreibt stets Kurz- & Kürzestgeschichten.
Bichsel schreibt. Verknappt. Verkürzt. Verdichtet.
P. B. schreibt. Auch Leerzeilen.
B. schreibt, liest & entdeckt.
Zwischen den Zeilen.
Eigentlich sollten Sie das Institut zur Verbesserung der Lage kennenlernen.
Das Institut zur Verbesserung der Lage erklärt. Womit wir die Verbesserung der Lage erreichen können.
Das Institut zur Verbesserung freut sich. Über die Verbesserung der Lage.
Das Institut baut. Auf Verbesserer.
Das Institut türmt. Niemals.
Das Institut tröstet. Täglich.
Das Institut wärmt. Alle.
Aber.
Das Institut blockiert. Unverbesserliches.
Das Institut zur Verbesserung dringt ein. In Unverbesserliche.
Das Institut zur Verbesserung der Lage läßt entgleisen. Alle Strategien zur Verschlechterung.
Das Institut zur Verbesserung der Lage macht einsam. Alle Institute zur Verschlechterung der Lage.
Eigentlich sollten sie Peter Bichsel & das Institut zur Verbesserung der Lage kennenlernen.
Peter Bichsel schreibt als Schweizer nicht nur über die Schweiz.
Peter B. schreibt Kurz- & Kürzestkolumnen in der Schweiz.
P. Bichsel schreibt zur Verbesserung der Lage.
P. B. versucht die Lage zu beschreiben.
B. lernt. Nicht nur von der Schweiz.
Z. B.: P. B.: »Alles von mir gelernt«. (Kolumnen 1995-1999)
»Die Welt rast, und wer nicht mitrast, ist verloren.
Und so rasen wir halt – die Jungen etwas schneller und die Alten hinterher.
Und mitten in die Raserei hinein platzt kurz die Pisastudie, die feststellt,
daß es schlecht steht um die Lesefähigkeit der Jungen.
Und selbstverständlich kann das nur die Schule gewesen sein, die versagt hat.
Ja, darüber sind sich nun alle einig: Die Schule muss verbessert werden,
muss effektiver werden, muss mehr Leistung bringen.
Doch ich fürchte, die Schule hat nur insofern damit zu tun,
dass sie eben ein Teil der Welt ist – jener Welt, die längst zu schnell geworden ist für das Lesen.
Ich fürchte, wieder einmal mehr wird hier etwas auf die Schule geschoben,
was nicht die Schule angeht, sondern uns alle –
und eine Pisastudie unter Erwachsenen hätte wohl noch viel erschreckendere Ergebnisse.
Das Verhältnis der Gesellschaft zur Schule ist verlogen. Eine Welt, die nicht mehr liest, möchte lesende Schüler.
Eine Welt der Gewaltigen und in der Gewalt tätigen möchte eine Schule, die zur Gewaltfreiheit erzieht.
Die erfolgreichen Einzelkämpfer möchten eine Schule, die das Sozialverständnis fördert.
Aber in Wirklichkeit möchten wir doch nur eine Schule für Erfolgreiche, für eine erfolgreiche Wirtschaft zum Beispiel.
Und diese Schule haben wir doch – und diese Wirtschaft auch.
Und nicht die Schule hat die Welt schnell gemacht, sondern wir.
Ich danke, dass sie sich Zeit genommen haben, zu lesen.«
Eigentlich sollten sie Herrn Bichsel, Frau Blum und den Milchmann kennenlernen.
Haben Sie Kinder?
Lesen sie?
Lesen Sie?
Entschuldigung.
Danke.
(Renald Deppe)