Verortung & Perspektive _10

Zeugenstand 20.2.2022

Wisława Szymborska
(1923 – 2012)

Glückliche Liebe
und andere Gedichte

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius
Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012

ABC

Nie werde ich erfahren,
was A. von mir dachte.
Ob mir B. bis zuletzt nicht verziehen hat.
Warum C. so tat, als sei alles in Ordnung.
Welchen Anteil D. am Schweigen von E. hatte.
Was F. erwartete, falls er erwartete.
Weshalb G. vergaß, obwohl sie genau wusste.
Was H. zu verbergen hatte.
Was I. hinzufügen wollte.
Ob die Tatsache, daß ich dabei war,
irgendwas bedeutete
für J. und K. und den Rest des Alphabets.

*****

Wenn

Wenn Dinge sprechen könnten –
aber wenn sie sprechen könnten, könnten sie auch lügen.
Vor allem die gewöhnlichen, wenig geschätzten,
um endlich Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Grauenhaft sich vorzustellen,
was mir dein abgerissener Knopf sagen würde,
und dir – mein Wohnungsschlüssel,
der alte Schwätzer.

*****

Scheidung

Für die Kinder der erste Weltuntergang im Leben.
Für die Katze ein neues Herrchen.
Für den Hund ein neues Frauchen.
Für die Möbel Treppen, Krach, rauf und runter.
Für die Wände helle Quadrate von den abgenommenen Bildern.
Für die Nachbarn unten ein Thema, das die Langeweile zerstreut.
Für’s Auto wär’s besser, wenn es zwei davon gäbe.
Für den Roman, das Gedicht – in Ordnung, nimm was du willst.
Schlechter sieht’s aus mit Enzyklopädie und Videoanlage,
ja, und mit dem Handbuch für Rechtschreibung,
wo wahrscheinlich Hinweise sind auf zwei Namen –
soll man sie noch mit der Konjunktion »und« verbinden
oder schon mit einem Punkt trennen.

*****

Auf dem Flughafen

Sie laufen mit offenen Armen aufeinander zu,
rufen lachend: »Endlich! Endlich!«
Beide in dicker Winterkleidung,
in warmen Mützen,
Schals,
Handschuhen,
Stiefeln –
aber nur noch für uns.
Füreinander sind sie nackt.

*****

An mein Gedicht

Im besten Fall
wirst du, mein Gedicht, aufmerksam gelesen,
kommentiert und in Erinnerung behalten.

Im schlechteren Fall
nur durchgelesen.

Die dritte Möglichkeit –
du wirst geschrieben,
aber gleich in den Papierkorb geworfen.

Oder du kannst den vierten Ausweg wählen:
du verschwindest ungeschrieben
und murmelst zufrieden vor dich hin.

Kontrapunkt

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) : Piano Concerto No. 21 in C, K. 467: II. Andante

Perspektive 10

Wir wissen es:
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht angenommen werden.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht vergeben werden.

Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1996 ging an Wisława Szymborska.

Wir wissen es:
Ein Buch kann – muss aber nicht nobel gepriesen werden.
Ein nobel gepriesenes Buch kann – muss aber nicht erworben werden.
Ein erworbenes Buch kann – muss aber nicht aufgeschlagen werden.
Ein aufgeschlagenes Buch kann – muss aber nicht gelesen werden.

Wir wissen es:
Würde man die Bücher von Wisława Szymborska erwerben, aufschlagen und lesen:
es würde das jubelbegeisterte Lobpreisen kein Ende nehmen.
Denn viele Dinge, Befindlichkeiten, vermeintliche Tatsachen & erträumte Realitäten würden 
uns aus ungewohnter Perspektive erstaunen. Begegnen. Entkommen. Erschrecken. Beglücken. 
Würde man die Bücher von Wisława Szymborska erwerben, aufschlagen und lesen:
man würde lernen, zwischen den Zeilen zu lesen, zu denken, zu fühlen, zu leben, zu urteilen. 

Wir wissen es
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1996 ging an Wisława Szymborska.
Eine große polnische Dichterin, ungemein bescheiden, unbeirrbar öffentlichkeits- & medienscheu. 
Eine unbestechlich klar- & weitsichtige Zeit- & Leidzeugin von Weltsichten vor & hinter dem eisernen Vorhang. 
Die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska, wohnhaft in der kreisfreien Stadt Krakau,
(die zumeist Einladungen mit den Worten ablehnte: »Ich komme, sobald ich jünger bin.«), 
virtuose Meisterin der poetischen Verdichtung, der Verzauberung des Alltäglichen,    
hielt 1996 die kürzeste Dankesrede in der Geschichte der Nobelpreisvergabe:

»Der erste Satz einer Rede ist – sagt man – immer der schwerste.
Das also habe ich schon hinter mir…
Aber ich fühle, dass auch die nächsten Sätze schwer sein werden,
der dritte, sechste, zehnte bis hin zum letzten, denn ich soll über Poesie sprechen.
Zu diesem Thema habe ich mich selten geäußert, fast überhaupt nicht.
Und immer begleitet von der Überzeugung, dass ich es nicht sonderlich gut mache.
Deshalb wird mein Vortrag nicht allzu lang.
Unvollkommenheiten sind leichter erträglicher, wenn man sie in kleinen Dosen verabreicht.«

Wohl auch eine der schönsten. Ehrlichsten.

Haupt- & Nebensachen, Haupt- & Nebendarsteller, Haupt- & Nebenrollen, 
Haupt- & Nebenwörter, Haupt- & Nebensätze wusste sie wohl zu unterscheiden.

Manche haben es ihr gedankt, viele verübelt.

Wir wissen es:
Würde man die Bücher von Wisława Szymborska erwerben, aufschlagen und lesen:
wir würden ihre folgenden Zeilen nicht als Bedrohung, Gefährdung oder unvermeidbaren Wahlzwang lesen.

»Jedem wird einmal ein Angehöriger sterben,
zwischen Sein oder Nichtsein
gezwungen, letzteres zu wählen.«

Wie das Gedicht weitergeführt wird? : bitte: erwerben & lesen Sie: Glückliche Liebe: Seite 85: »Jedem wird einmal…«

P.s.:

Aus der Pressemitteilung der Schwedischen Akademie vom 3. Oktober 1996:
Der Nobelpreis für Literatur: Wisława Szymborska. (…)

»Man hat sie Mozart der Poesie genannt, und das hat seine Berechtigung, wenn man an den Reichtum ihrer Eingebung und gerade auch an die Leichtigkeit denkt, mit der die Worte auf ihren Platz zu fallen scheinen.

(Renald Deppe)

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