Verortung & Perspektive _03

Adelsstand 16.01.2022

Miyamoto Musashi (1584-1645)

Das Buch der fünf Ringe.
(Titel der japanischen Originalausgabe: »Gorin-no-sho«, 1645)
Deutsche Taschenbuchausgabe: Piper Verlag, München 2019
Aus dem Japanischen von Taro Yamada.

LEERE

Ich beschreibe nun das Prinzip der »Leere«.
Es betrifft die Angelegenheiten, die jenseits des menschlichen Verstandes liegen.
Man muss zu dem erwachen, was wirklich existiert, um zu verstehen, was nicht existiert.
Kann jemand etwas nicht begreifen, soll es deshalb aber nicht als »Leere« oder »Nichts« bezeichnet werden;
Unverständnis ist einfach eine Form der Unwissenheit.

Wer in der Kampfkunst nicht tief mit dem Weg der Samurai vertraut ist, 
wird die »Leere« nicht kennen lernen und stattdessen verwirrt bleiben.
Manche Menschen sehen irgendwann dem Tod ins Auge und bezeichnen diese Erfahrung als »Nichts«;
auch das ist falsch.

Ein Samurai kann wahres Verständnis des  »Nichts« durch ernsthaftes Üben der Kampfkunst erlangen.
Er soll sich in den Techniken erproben und seiner Pflichten im Alltag
bewusst werden.
Sein Geist soll frei von Täuschung sein und ebenso wie sein Körper stets diszipliniert werden.

Der Samurai soll sein durchdringendes und sein wahrnehmendes Auge und die Fähigkeit, Dinge auf die rechte Weise zu sehen und zu beurteilen, schulen.
Sein wahres »Nichts« verwirklicht sich, wenn keine Täuschung mehr seine Wahrnehmung vernebelt und er sich von der Welt der Verwirrung befreit hat.

Solange jemand nicht zum Weg der Wahrheit erwacht ist, könnte er seinen eigenen Weg für richtig halten,
ob es nun der Weg Buddhas ist oder der Weg irgendwelcher weltlicher Angelegenheiten.
Man kann tatsächlich aufgrund von Selbstbezogenheit und
Vorurteilen den wahren Weg übersehen.
Das sollte man nie vergessen.

Wenn man aber den Weg der Wahrheit beschreitet, soll man sich eine geradlinige und aufrechte Einstellung bewahren,
die ernsthaft darauf abzielen soll, das Prinzip der Kampfkunst mit dem Alltagsleben zu verschmelzen.
Dies wird möglich, wenn man die Bedeutung der Kampfkunst aus einem umfassenden Blickwinkel erkennt.
So wird die Welt des  »Nichts« zu einem Führer auf dem Weg zur Erleuchtung.

In der Welt des  »Nichts« gibt es nichts Böses, nur das Gute besteht.
Wissen und Talent stoßen in der Menschenwelt auf Grenzen;
das gilt sogar für die Kampfkunst.
Darum soll der Geist dem  »Nichts« gehören.
Dieses bedeutet: Unbegrenzt-Sein.

Kontrapunkt


Toshio Hosokawa (*1955): Atem-Lied

Perspektive 03

Der Kampf mit dem Leben & der Kampf mit dem Tod.
Der Kampf um das Leben & der Kampf um den Tod.
Der Kampf mit dem Eigenen & der Kampf mit dem Fremden.
Der Kampf um das Eigene & der Kampf um das Fremde.
Der Kampf gegen die Sucht & der Kampf gegen das Vergessen.
Der Kampf um Nähe & der Kampf um Distanz. 
Der Kampf mit dem Atem & der Kampf mit dem Gewicht.
Der Kampf im Sport & der Kampf in Beziehungen.
Der Kampf gegen die Gier & der Kampf gegen den Hunger. 
Der Kampf um Rechte & der Kampf um Pflichten. 
Der Kampf mit der Wahrheit & der Kampf mit der Lüge.
Der Kampf für gewählte Freiheiten & der Kampf für freie Wahlen.

Ob WIR es (wahrhaben) wollen oder nicht: der vielgestaltige Kampf gehört zur Bewältigung unseres Alltags.
Ob WIR ihn verleugnen, verdrängen, verstecken: niemand kann der Dynamik des Kampfes entkommen.
Ob WIR als Verlierer, Gewinner, Vertriebene, Getriebene, Besitzer oder Besatzer überdauern, überstehen, überleben:
der Kampf als Kunst des strategischen Handelns ist zumeist unausweichlich.

Obwohl der Krieger Miyamoto Musashi in seinem berühmten Buch eindeutig diagnostiziert:  
»Die beste Lösung eines Konfliktes ist es, zu gewinnen, ohne kämpfen zu müssen.«
Aber es könnte durchaus sein, das man um das „nicht kämpfen“ kämpfen muss. Kämpfen sollte. 

Obwohl der »Kensei« (Weiser und Heiliger des Schwertes) Miyamoto Musashi als bedeutendster Samurai Japans anmahnt:
»Der wahre Weg des Schwertes kann nicht allein im Üben des Schwertkampfes liegen.«
wird der von ihm stets eingeforderte Wert einer „inneren Haltung“, geprägt von Entspannung, Offenheit und Klugheit des Herzens,
oftmals vergessen. Oftmals mißachtet.

In fünf Kapiteln über Erde, Wasser, Feuer, Wind und Leere verhandelt Miyamoto Musashi den Frieden um, in, an, unter und mit uns.
In fünf Kapiteln über Erde, Wasser, Feuer, Wind und Leere geht Miyamoto Musashi (auch) der (fast) alles entscheidenden Frage nach:
Was ist zu tun, um ein Schwert nicht führen zu müssen…? 

Vielleicht helfen seine Ratschläge zum „richtigen Takt“ im Leben ein Leben ohne die Kampfkunst des Schwertes zu regeln:

• Hege moralisch einwandfreie Gedanken.
• Übe intensiv zu jeder Zeit.
• Mache dich mit verschiedenen Künsten vertraut.
• Eigene dir Wissen über Handwerke an.
• Denke bei allem über Nutzen und Schaden.
• Betrachte die Dinge im rechten Licht.
• Bemühe dich, auch das Nicht-Sichtbare zu erfassen.
• Achte auf die unscheinbarsten Kleinigkeiten.
• Vermeide nutzlose Tätigkeiten.  

1645 verfasste Miyamoto Musashi in den letzten Monaten seines Lebens seine Bedenkschrift.
1945 fielen auf Hiroshima und Nagasaki Atombomben.
Auch sonst wurde und wird das Schwert unablässig geführt. Zumeist ohne jegliche Kunst.

Was haben wir falsch gedacht?
Was haben wir falsch gemacht? 
Was denken wir falsch?
Was machen wir falsch? 
Was könnten/werden wir falsch machen/denken?

Miyamoto Musashi lesen. Es hilft. Es könnte helfen.  
Antworten zu finden. Oder wichtige Fragen zu stellen.

(Renald Deppe)

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