Verortung & Perspektive _33

Sonnenstand (III) 14. August2022

Muhsin Mahdi 

Tausendundeine Nacht
Nach der ältesten arabischen Handschrift
in der Ausgabe von Muhsin Mahdi
erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott
Neue Orientalische Bibliothek
Verlag C.H.Beck, München 2004

Diese Neuübersetzung von Tausendundeine Nacht macht erstmals die älteste arabische Fassung der orientalischen Erzählsammlung in deutscher Sprache zugänglich.

Dreihundert Jahre nachdem Antoine Galland das Werk in Europa bekannt gemacht und mit zahlreichen Ergänzungen ins Französische übertragen hat, ist Tausendundeine Nacht nun in einer von allen europäischen Übermalungen, Ausschmückungen und Prüderien der letzten Jahrhunderte freien Form neu zu entdecken.

Die nächtlichen Erzählungen von Schahrasad, mit denen sie ihren königlichen Gatten verzaubert und so ihren Tod immer weiter aufschiebt, entführen den Leser in die Welt der Basare und Karawansereien, der weisen Kalifen und verschlagenen Händler, der vornehmen Damen und klugen Ehefrauen, der mächtigen Zauberinnen, Dschinnen und bösen Dämonen.

Sie berichten von erotischen Vergnügungen und harten Schicksalsschlägen.

Kein Leser wird sich dem ebenso leidenschaftlichen wie geistreichen Charme dieser Geschichten entziehen können.

(Klappentext)

Nikolai Rimsky-Korsakov (1844-1908) : Scheherazade op. 35, 2. Satz : Lento

Perspektive 33

Sommerzeit. Ferienzeit. Lesezeit?
Das Institut zur Verbesserung der Lage unterbreitet Ferragosto-Lese-Angebote.
Bücher zum Um-, Be-, Über-, Nach- & Vordenken.
Bücher (nicht nur) für Sommer-, Tropen- und Vollmondnächte. 
Auf den Bergen, an den Stränden, in den Wüsten, den Wohn-, Schlaf- & Traumwelten unseres Planeten.

Kinder brauchen Märchen. Geschichten. Erwachsene auch.
Kinder lieben Gespenster. Geisterbahnen. Erwachsene auch.
Kinder bewundern Helden. Widerständige. Erwachsene auch.
Kinder fürchten Dunkelheiten. Nachtschatten. Erwachsene auch.

Erwachsene fürchten das Scheitern. Die Scham. Kinder (eigentlich) nicht. 
Erwachsene bewundern den Realisten. Den Traumlosen. Kinder (eigentlich) nicht.
Erwachsene lieben Ordnungen. Ver- & Gebote. Kinder (eigentlich) nicht. 
Erwachsene brauchen Börsen-, Wetter-, Wellness-, Motor- & Modejournale. Kinder (eigentlich) nicht.

Tausendundeine Nacht: ein Buch für Erwachsene & Kinder.
Tausendundeine Nacht: ein Buch für Erwachsene die Kinder & Kinder die erwachsen werden wollen.
Tausendundeine Nacht: ein Buch der Märchen. Geschichten. Erzählungen. Fabeln.
Tausendundeine Nacht: ein Buch für Träumer & Traumlose. Hoffende & Hoffnungslose. Erfolgreiche & Erfolglose. 

Tausendundeine Nacht: ein Buch ohne nachweisbare Autoren. Ohne Urheberrechtsverfahren. Ohne Literaturpreise.
Die erste entdeckte Abschrift der seit Jahrhunderten erzählten Abenteuer des Lebens stammt aus dem 9. Jahrhundert n.d.Z.
Aufgefunden in Bagdad. Ein Fragment. Auf der Rückseite eines Dokumentes eines damaligen Rechtsberaters.
Ursprünglich eine persische Geschichtensammlung: »Hazār afsāna« (Tausend Romanzen). 
Später ins Arabische übertragen und erheblich erweitert: »Alf Laila« (Tausend Nächte).
Doch einige der verorteten Erzähl-Modelle jenes uralten Gedächtnis der Menschheit liegen woanders: in Indien & China.

Tausendundeine Nacht: ein Kulturerbe. Erzählt & verschriftet in unterschiedlichen Zivilisationen. Aus fernen und nahen Zeiten. 
Ver- & geeint durch jene berühmt wie berüchtigte Rahmenhandlung entstand eine scheinbar unendliche Geschichte. 
Figuren und Handlungen dieser Nächte findet der Leser in mehr oder weniger abgewandelten Formen auch in der Gegenwart.
»Sesam, öffne dich…«: Ali Baba und Sindbad der Seefahrer sind selbst den Unterhaltungstigern in Hollywood nicht unbekannt.
»Sesam, öffne dich…«: Und die ungeheure Vielfalt des Guten & Bösen, der Gerechten & Geknechteten erglüht & erblüht.   
»Sesam, öffne dich…«: Neusprachlich komprimiert & Endreim-Prosaisch geht es in diesen Nächten um folgendes:   

Verwandlungen. Anwandlungen. Abwandlungen. Umwandlungen.
Metamorphosen. Seerosen. Neurosen. Samthosen. Psychosen. Puderdosen.
Diebe. Hiebe. Triebe. Liebe. Kriege. Siege. Spiele. Federkiele.
Eintracht & Zwietracht. Kummerfalten & Lichtgestalten.
Abenteuer & Ungeheuer. Sternenglanz & Derwischtanz. 
Haremsgeschöpfe & Safrantöpfe. Gotteskinder & Sklavenschinder.

Doch möge den geneigten LeserInnen die Sprachmagie im poetischen Original nicht vorenthalten werden.
Shopping im einstigen Bagdad. Hier ein Auszug aus der Geschichte: »Der Träger und die drei Damen«:

Er hatte sich an seinen Korb gelehnt und wartete auf Kundschaft.
Plötzlich blieb eine Frau vor ihm stehen.
Sie war in einen seidengefütterten Mantel aus Mosul gehüllt, trug ein feines, schwarz und weiß gemustertes Kopftuch mit goldenem
Saum, goldene Schuhe mit wehenden Schuhriemen und Gamaschen, deren Bänder ihre Beine umspielten.
Diese Frau blieb vor ihm stehen und hob ihren Schleier.
Schwarze Augen blickten darunter hervor mit langen Wimpern an den Augenlidern, deren äußere Winkel mit einem Lidstrich verlängert waren.
Ihr Blick war so sanft, ihre Gestalt so vollkommen, als hätten die Dichter mit ihren schönsten Versen keine andere beschrieben als sie.
Mit zarten Worten und süßer Stimme sprach sie ihn an: »Träger, nimm deinen Korb und folge mir.«

Damit nahm er den Korb und folgte ihr.
Vor dem Laden des Obsthändlers hieß sie ihn wieder stehenbleiben.
Dort kaufte sie Äpfel von der Sorte Fathi, osmanische Quitten, Chalani-Pfirsiche, Moschusäpfel, einen Strauß Jasmin der Sorte Hall Fasadati, Lotusblumen aus Damaskus, kleine Herbstgürkchen, Zitronen der Sorte Marakibi und Sultani, Myrte, Basilikum, Reseda, Kamillenblüten, Levkoyen, einen Strauß Iris, Lilien, Anemonen, Veilchen, Ochsenaugen, Narzissen und Sonnenblumen.
Alles das tat sie in den Korb des Trägers und er folgte ihr weiter.

Als Nächstes machten sie beim Fleischer halt.
»Schneide mir zehn Pfund mageres, gutes Fleisch ab!«, sagte sie und bezahlte auch gleich den Preis dafür.
der Fleischer schnitt ihr zurecht, was sie sich aussuchte, wickelte das Fleisch ein und gab ihr das Paket.
Sie legten es ebenfalls in den Korb und taten noch etwas Holzkohle dazu.
Dann wies sie den Träger wieder an: »Nimm deinen Korb und folge mir!«
Der Träger begann sich zu wundern. 
Er hob den Korb auf den Kopf, und sie gingen zu einem anderen Kaufmann.
Dort kauften sie die leckersten Spezialitäten, nämlich eingesalzene Sperlinge, gespaltene und gestampfte Oliven, Estragon, Sauerrahm, Damaszener Käse, saures Gemüse, gesüßt und ungesüßt, von allem soviel sie brauchte.
Sie tat es in den Korb des Trägers und sagte: »Träger, nimm deinen Korb und folge mir.«
Der Träger nahm den Korb auf und folgte ihr.

Die Dame aber ging von dem Kaufmann gleich weiter zu einem Nussverkäufer.
Von ihm kaufte sie Pistazienkerne, solche, die man zum Dessert verwendet, Rosinen aus Aleppo, Mandelkerne, irakisches Zuckerrohr, Baalbeker Süßigkeiten, die aus Stärkemehl, Mastix und Pistazien zubereitet waren, Haselnusskerne, geröstete Kichererbsen und noch dazu verschiedene andere Sorten gerösteter und gesalzener Kerne, so viel sie brauchte. 
Alles das lud sie in den Korb des Trägers, dann wandte sich sich zu ihm mit den Worten:
»Träger, nimm deinen Korb und komm mit mir.« Er hob den Korb auf und eilte ihr nach.

Nun blieb sie beim Süßwarenhändler stehen und kaufte einen riesigen Teller, auf dem alle Süßigkeiten, die er anzubieten hatte, angeordnet waren:
Kairiner süße Stückchen, geflochtene Zöpfe nach Art der Armenier in Balaikan, dreieckige Blätterteigkrapfen, gefüllt und mit Moschus parfümiert, eine weiche lockere Süßspeise mit dem Namen »Wunder von Umm Salih«, osmanisches Schmalzgebäck, in Sesamöl frittierte Dattelpasteten, Mandel-Honig-Gelee, süße Fladen aus Marzipan, Amberkämme, Küchlein mit dem Namen »Finger von Banid«, Witwenbrot, eine persische Spezialität mit dem Namen »Basandud«, Kadi-Häppchen, eine Sorte, die man »Iss und Danke« nannte, Zuckerbiskuits der Marke »Für feine Leute« und Liebesplätzchen. 
All diese verschiedenen Sorten Süßigkeiten ließ sie auf einem Teller anordnen und stellte ihn dann in den Korb.

Da sagte der Träger zu ihr: »Gute Frau, hättest du mir das nicht eher sagen können?
Dann hätte ich ein Lastpferd oder ein Kamel mitgenommen, um all diese Einkäufe zu tragen.«
Sie aber lächelte nur und ging weiter zu einem Drogisten, von dem sie zehn Flaschen Weidenblütenlikör kaufte, ebenso viel Lotuswasser, zwei Zuckerhüte, eine Spritzflasche Rosenwasser mit Moschusaroma, ferner Moschus, Weihrauchharz in Kieselform und Adlerholz mit Amber zum Räuchern, Leuchterkerzen aus Wachs und solche für die Handlaterne. »Träger«, sagte sie, »nimm deinen Korb und komm mit mir.»
Und der Träger nahm den Korb.

Sie ging vor ihm her bis sie endlich an ein hübsches Wohnhaus gelangte, vor dem sich ein weiter Platz öffnete.
Das Haus war hoch gebaut und mit starken Säulen gestützt. Die beiden Flügel der Eingangstür bestanden aus reinem Elfenbein und waren mit funkelndem Gold überzogen. Vor dieser Tür blieb die Dame stehen.
Sie klopfte leise… 

Geneigter Leser, geneigte Leserin: alles Zutaten zur Verbesserung der Lage. Nicht nur im Sommer. Und in Bagdad.
Falls Sie wo auch immer jenen Supermarkt finden sollten, der all diese Feinkost heute führt: bitte um Rückmeldung.
Ach, und wenn Sie den spannenden Ausgang dieser 28. Tausendundeine Nacht-Geschichte erfahren wollen:
Dann lesen Sie doch bitte am besten die restlichen 973 Tausendundeine Nacht-Geschichten.
Nur soviel sei hier verraten: gleich beim Betreten des Hauses trifft unser Korbträger auf eine weitere Dame:

 Es war ein Mädchen, fünf Spannen hoch gebaut, mit wohlgeformten, festen Brüsten, voller Schönheit und Anmut, Glanz und Vollkommenheit, von aufrechter und ebenmäßiger Figur.
Ihre Stirn war so weiß wie der weiße Stirnfleck des Halbmonds, ihre Augen wollten es den Augen der Gazellen und Bergantilopen nachtun, sie hatte Augenbrauen, so schön und so rund wie die Mondsichel im Monat Schaaban, und Wangen wie roter Mohn.
Ihr Mund war wie der Siegelring Salomons, mit Lippen, rot wie Karneole, und Zähnen, wie Perlen aufgereiht in einer Fassung aus Korallen.
Ihr Hals war wie ein schlankes persisches Weißbrot auf der Tafel eines Sultans, ihre Brust war frisch wie ein Springbrunnen, und ihr Busen ähnelte zwei prächtigen Granatäpfeln.
Ihr Bauchnabel fasste zwei Unzen Behennussöl, und darunter saß etwas, das glich einem Kaninchen mit flauschig behaarten Ohren… 

Und: unbedingt und nicht hoch genug zu loben ist die Editions- & Übersetzungsarbeit von Frau Claudia Ott. 

(Renald Deppe)

error: Content is protected !!