Verortung & Perspektive _30

Gleichstand 24. Juli 2022

Nagib Machfus  
(1911-2006) 

Das Buch der Träume
Aus dem Arabischen von Doris Kilias
Unionsverlag, Zürich 2007
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Ahlam fatrat al-naqaha in Kairo.

Das Leben als höchstes Gut
Die Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2004

Ich will meine Worte mit einem Dankesgruß an Deutschland beginnen, das Land, in dem Johannes Gutenberg die Buchdruckkunst erfunden hat. Ohne diese großartige Leistung würden wir das Buch nicht kennen, würden wir uns nicht heute um das Buch scharen.

Es heißt, dass das Buch wegen der modernen Kommunikationsmittel in unserem Leben bald nicht mehr existieren wird. Das elektronische Buch soll die Quelle allen Wissens werden. Aber in Wahrheit ist es doch so, dass das Buch, das der Leser in den Händen hält oder das neben seinem Bett liegt, nicht durch das stundenlange Hocken vor dem Bildschirm ersetzt werden kann.

Selbst wenn sich die Zeit des gedruckten Buchs zum Ende neigen sollte, kann niemand leugnen, dass uns mit der Erfindung der Druckmaschine ein großartiges Geschenk gemacht wurde. Die Maschine, die Johann Gutenberg im Jahr 1450 erfand, blieb 500 Jahre lang bis ins 20. Jahrhundert die maßgebliche Technik für den Buchdruck, und zwar ohne einschneidende Veränderungen zu erfahren.

Aber es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, um Deutschland einen Dankesgruß zu übermitteln. Zu danken ist für die Wahl, die die Frankfurter Buchmesse getroffen hat, nämlich in diesem Jahr zum ersten Mal die arabische Welt des Buchs als Ehrengast zu präsentieren. Die arabische Welt besitzt eine jahrhundertealte Kultur und Zivilisation. Da mag es einem seltsam vorkommen, dass diese Wahl nicht schon früher einmal getroffen wurde, vor allem deshalb, weil die arabische Welt und Deutschland einander seit Jahrhunderten verbunden sind. In Deutschland hat sich eine große Anzahl von Autoren um die arabische Welt verdient gemacht, und arabische Geistesschaffende haben sich vornehmlich für Deutschland und seine Kultur interessiert. Viele unserer Schriftsteller sind von den Größen der deutschen Literatur und Philosophie geprägt worden, von Goethe, Thomas Mann, Nietzsche, Schopenhauer, um nur einige herausragende Persönlichkeiten zu nennen.

Musste es tatsächlich erst zu dieser bedauerlichen Konfrontation des Okzidents mit dem arabisch-islamischen Orient kommen, damit wir uns bewusst werden, wie wichtig es ist, unsere Beziehungen weiter zu pflegen? Musste sich der Okzident erst in seiner Sicherheit vom Orient bedroht fühlen, um sich erneut der Wiederentdeckung der islamischen Zivilisation und arabischen Kultur zuzuwenden? Mussten die Araber erst das Gefühl haben, dass die westlichen Medien tagtäglich ein verzerrtes Bild von ihnen geben, um sich dazu durchzuringen, sich höchst persönlich darzustellen?

Was auch immer geschehen sein mag, wir haben mit dieser Begegnung eine Etappe in unserer Geschichte erreicht, aus der wir im Interesse beider Seiten den größtmöglichen Nutzen ziehen müssen. Lassen Sie mich in diesem Sinne eine Antwort auf die Frage geben, die sich bestimmt viele Menschen stellen, die die Frankfurter Buchmesse besuchen: Worin besteht die arabische Kultur, und was sind ihre Quellen?

Die zeitgenössische arabische Kultur speist sich aus drei Quellen. Da sind zum Ersten die alten Zivilisationen, die die arabische Region erfahren hat, insbesondere das alte Ägypten und die Kultur des Zweistromlands im Irak, aber natürlich auch die Kultur, die sich im Jemen entwickelt hat sowie die der Assyrer und Akkader und vieler anderer.

Gemessen an anderen Kulturen der alten Welt ist die alte ägyptische Kultur am stärksten von einer humanistischen Grundhaltung geprägt. Das menschliche Leben war ihr heilig, und deshalb gab es auch, im Unterschied zu anderen Zivilisationen, weder Sklaverei noch Rituale, bei denen Menschen geopfert wurden. Die Liebe zum Leben, der Grad der Verehrung des Lebens, ging so weit, dass das Bild des jenseitigen Lebens von dem des irdischen Lebens geprägt war. Wer die Wandmalereien in den alten ägyptischen Grabstätten aufmerksam betrachtet, wird auf der Stelle begreifen, dass es sich hier um eine Kultur handelt, die nicht etwa den Tod, wie manch ein flüchtiger Besucher meint, sondern das Leben als höchstes Gut verehrt. Diese Wandmalereien stellen all jene Dinge dar, die mit dem Toten in die andere Welt überführt werden sollen. Es sind irdische Vergnügungen, die köstlichsten Früchte, die schönsten Tänzerinnen und die feinsten Musikinstrumente zu sehen.

Wenn wir heute Deutschland dafür danken, dass es im 15. Jahrhundert nach Christus den Buchdruck erfunden hat, wollen wir daran erinnern, dass es die Zivilisation im Zweistromland war, die als Erste Alphabet einführte, und zwar Jahrtausende vor Christi Geburt. Es ist äußerst bedauerlich, dass nun diese Region die Bühne für eine blutige Konfrontation zwischen Orient und Okzident ist. Unsere jetzige Begegnung trägt ganz gewiss zur Linderung dieser Konfrontation bei.

Die zweite Quelle, die die Kultur der arabischen Welt speist, ist der Islam, jene Religion, die über ein gewaltiges Maß an Toleranz verfügt. Mit dieser Religion schenkte Gott den arabischen Völkern eine Satzung von Werten, die unsere gegenwärtige Identität prägen und zu denen die Freiheit gehört. Die Formulierung »Es gibt keinen Gott außer Gott«, auf die sich das islamische Glaubensbekenntnis gründet, meint nichts anderes, als dass Gott der alleinige Herrscher ist, sich also der Mensch über den Menschen nicht als Herrscher erheben darf. Zu diesen Werten gehört auch die Gleichberechtigung, denn alle Gläubigen, seien sie nun weiß oder schwarz oder gelb, gehören der islamischen Gemeinschaft an, und zwar unabhängig davon, welcher Herkunft sie sind. Ein weiterer Wert ist die Toleranz, dank derer das islamische Reich ein Klima schuf, in dem sich christliche und jüdische Gelehrte und Philosophen nicht nur wohl gefühlt haben, sondern auch hohe Ämter einnahmen, wie zum Beispiel in Andalusien den Posten des Ministerpräsidenten.

Noch ein Wert muss genannt werden – die Gerechtigkeit, die ein Grundprinzip darstellt. Es gibt zahlreiche historische Überlieferungen, die davon berichten, dass Herrscher selbst zum Schaden der Menschen, die ihnen am nächsten standen, ein gerechtes Urteil fällten.

Die dritte Quelle unserer arabischen Zivilisation ist die westliche Zivilisation, die heutzutage sogar als einer der wesentlichsten Faktoren unsere Gegenwart beeinflusst. Das betrifft nicht nur die Politik oder die Wissenschaft, sondern auch Literatur und Kunst. Ein Ergebnis dieses Reichtums besteht darin, dass die arabische Welt hier und da berühmte Persönlichkeiten hervorbringt, auch wenn diese Region zu den Entwicklungsländern gehört und mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Viele arabische Menschen sind auf den unterschiedlichsten Gebieten zu internationaler Anerkennung gelangt, angefangen bei Literatur, Film und den andern Künsten bis hin zu Medizin, Mathematik und Astronomie. Manche durften sogar höchste internationale Auszeichnungen entgegennehmen. Es zeigt sich also, dass dieser Andere, der Araber, dessen Wirklichkeit man bei dieser Begegnung erkunden will, kein ganz Fremder ist. Möglicherweise gibt es zwischen seiner und eurer Kultur Unterschiede, aber er steht, wie ihr, für humanistische Werte und erhabene Grundsätze ein. Das ist nicht verwunderlich, denn so wie die westliche Zivilisation heute unsere arabische Zivilisation beeinflusst, hat die arabische Zivilisation in der Vergangenheit die westliche Zivilisation beeinflusst. Die menschheitliche Zivilisation ist zahlreich an Kulturen, aber letztendlich ist sie ein großes Ganzes, das nicht teilbar ist.

Kontrapunkt

Las Estrellas de los cielos : Sepharade (Alexandrie)

Perspektive 30

Wir wissen es:
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht angenommen werden.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht vergeben werden.

Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1988 ging an Nagib Machfus.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1988 wurde damit zum ersten Mal einem arabischen Autor zuerkannt.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1988 wurde von 1901 bis 1979 achtzig (80) Mal verliehen.

Jeder im Dorf wartete auf den Brief, der über sein Schicksal entscheiden sollte.
Eines Tages war es für mich soweit.
Ich öffnete den Brief und las, das ich zum Tod durch den Strang verurteilt sei.
Wie üblich verbreitete sich die Nachricht in Windeseile.
Die Mitglieder des Dorfklubs kamen zusammen und verkündeten schließlich, dass das Ereignis zu gegebener Zeit gefeiert werde.
Bei mir zu Hause, wo ich mit meiner Mutter und meinen Brüdern und Schwestern lebte, herrschte eitel Freude.
An dem lang erwarteten Tag schlugen im Dorf die Trommeln.
Festlich angezogen und umringt von meinen Lieben, trat ich aus dem Haus.
Aber plötzlich benahm sich meine Mutter sonderbar, sie fing an zu weinen.
Wäre es unserem Vater doch nur vergönnt gewesen, schluchzte sie, diesen glücklichen Tag zu erleben.

Nagib Machfus (Das Buch der Träume)

Nagib Machfus wurde in Kairo geboren.
Nagib Machfus wuchs in Kairo auf, studierte Philosophie in Kairo, arbeitete in Kairo als Beamter.
Nagib Machfus verließ die Metropole mit ihren geschätzten 21 Millionen Einwohnern fast nie.
Nagib Machfus wurde zum Chronisten der bewegenden und bewegten Geschichte dieser Stadt.

Die Titel seiner Romane dokumentieren die explosive Topographie einer in jeder Hinsicht stets wachsenden Urbanität:
Das junge Kairo (1945). Karnak-Cafè (1974). Die Kinder unseres Viertels (1959). Die Midaq-Gasse (1947).
Die Kairo-Trilogie: Zwischen den Palästen (1956).  Palast der Sehnsucht (1957). Zuckergässchen (1957).
Die Gassen der Armen, der kleinen Leute, der verlorenen Träume und des betrogenen Glückes waren seine Schauplätze.

Nagib Machfus: »Meine Liebe gilt den Bewohnern der Gassen. Nicht nur der alten Gassen von Kairo, sondern der Gassen der ganzen Welt.«

 Der Produzent hatte mich beauftragt, eine Komödie zu schreiben.
Ich wählte als Schauplatz eine Stadt, in der die Menschen einen erbitterten Kampf um das tägliche Brot führen mussten.
Es herrschte Zwietracht unter ihnen, und Krankheiten und Unfälle rafften viele von ihnen hin.
Als wäre das nicht schon Unglück genug, gab es ein verheerendes Erdbeben, das jegliches Leben vernichtete.
Da war nichts mehr, was an die Stadt und ihre Bewohner hätte erinnern können.
Als der Produzent das Drehbuch zu Ende gelesen hatte, lachte er laut los und sagte: 
»Du bist wirklich der geborene Komödienschreiber.«

Nagib Machfus (Das Buch der Träume)

Nagib Machfus war langjähriger Stammgast eines berühmten Caféhauses in der alten Innenstadt von Kairo.
Nagib Machfus war als sorgsam beobachtender Zuhörer und Freigeist Dauergast im legendären Café Riche.
Nagib Machfus wusste um die Nöte, Sorgen, um Kummer und Verdruss seiner streit- & leidgeprüften Mitbürger.
Nagib Machfus war der Seismograph ihrer Irrungen & Wirrungen, Macht & Ohnmacht, ihrer Wut- & Mutaktionen.   

Das Café Riche war eine Oase für all jene, die das ereignisreiche „Ägyptische Jahrhundert“ gestalten & verwalten durften.
Erleiden, erleben & erdulden mussten. Verändern, umgehen & bewahren wollten. Betrügen, belauschen & bereichern konnten: 
Studenten, Arbeiter, Beamte, Revolutionäre, Islamisten, Geheimdienstler, Generäle, Gelehrte, Hand- & Schandwerker, Kauf- & Raufleute.
Sie alle waren u.a. Zeugen des 2. Weltkriegs, der Julirevolution 1952, des verlorenen Krieges gegen Israel 1967. Zum Beispiel.

Nagib Machfus: »Während meiner Abende im Café Riche hörte ich von vielen Dingen, die die Menschen bedrückten. 
Hätte ich sie nicht niedergeschrieben, wären sie wohl verlorengegangen.«

In Kairo leben die Menschen auf und unter den Häusern. Illegal. Geduldet. Als Dach- oder Kellernomaden.
In Kairo leben die Menschen auf den Friedhöfen. Illegal. Geduldet. Als Tote unter Lebenden. Und umgekehrt.
In Kairo leben die Menschen vom, im und mit dem Müll. Illegal. Geduldet. Als Beute & Meute. Frei- & Ausbeuter.
In Kairo leben Menschen. Und sollte nicht die Würde des Menschen unantastbar sein? In den 1., 2. und 3. Welten?

 Das Haus war fertig gebaut – ein Glanzstück des Architekten.
Von überall her kamen Interessenten, die es gern gekauft hätten. Das Feilschen begann, es wurde heiß gestritten.
Plötzlich bahnte sich ein Riese von Mensch einen Weg durch die Menge.
Mit donnernder Stimme rief er: »Mit Gewalt geht alles!«
Verängstigt wichen die Leute zurück. 
Nur einer wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen. Es kam zu einem erbitternden Kampf, der ein schnelles Ende fand.
Der Riese versetzte seinem Gegner einen kräftigen Schlag ins Gesicht, worauf er ohnmächtig zu Boden ging.
Dann stürmte er in das Haus und verriegelte Türen und Fenster.
Die Menge harrte stundenlang aus in der Hoffnung auf eine Gelegenheit, Rache zu nehmen.
Das Haus zu stürmen, wagte niemand, aber fortgehen wollte auch keiner. 

Nagib Machfus (Das Buch der Träume)

Nagib Machfus erlebte Triumph & Tragödie von Gamal Abdel Nasser. Monarchen-, Oppositions- & Hoffnungsvertilger.
Nagib Machfus erlebte Glanz & Abglanz von Anwar al-Sadat. Militärstratege, Friedensnobelpreisträger & Sozialistenkiller.
Nagib Machfus erlebte Auf- & Abstieg von Hosni Mubarak. Größen-, Macht-, Familien-, Selbst- & Dollarverliebter.
Nagib Machfus erlebte Prügel, Auf- & Widerstand, Zensur, Karrierismus & Opportunismus, Denunziation & Verrat.
Nagib Machfus überlebte schwerverletzt 1994 ein Messerattentat eines religiösen Fanatikers in Kairo. Als Freigeist.

Nagib Machfus erlebte Zeiten, in denen die Wände seines Café Riche Ohren, Wanzen, Augen & Linsen hatten.
Kairo erlebte Zeiten, in denen Korruption, Konspiration, Verarmung, Pfusch am Bau & Menschen auf der Ordnung der Tage standen. 
Und was in Kairo passierte oder nicht passierte: das galt für Ägypten. Und auch zumeist im sunnitischen Anderswo. 
Ägypten erlebte Zeiten der religiösen Radikalisierung, der chaotischen Ordnungen und dem geordneten Chaos.
Und bitte nicht zu vergessen: Ägypten erlebte stets Fremd- & Selbstbestimmung. Bis Heute. Leider.

Und trotzdem: das Ende der Dankes-Rede eines Nagib Machfus anläßlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1988 lautet wie folgt:

»Trotz allem, was um uns herum geschieht, werde ich bis an mein Lebensende Optimist bleiben. 
Und ich werde nicht wie der Philosoph Kant sagen, dass das Gute erst in der nächsten Welt siegt. 
Nein, es erringt täglich einen Sieg, und vielleicht ist das Böse sogar schwächer, als wir gemeinhin denken. 
Unsere ersten Vorfahren, die den wilden Tieren, den Insekten, den Unbilden der Natur, den Seuchen, der Angst und dem Egoismus schutzlos ausgeliefert waren, sind der unwiderlegbare Beweis für meine Behauptung. 
Ohne den täglichen Sieg des Guten hätten sie ebensowenig überlebt wie die Menschheit sich hätte weiterentwickeln, Staaten errichten, sich ausbreiten, Erfindungen machen, den Kosmos erobern und die Menschenrechte verkünden können. 
Und doch ist das Böse ein Ungeheuer, das brüllend um sich schlägt, und bekanntlich empfindet der Mensch viel intensiver das, was ihm Schmerzen bereitet, als das, was ihn erfreut. 
Deshalb hatte unser Dichter Abou Alaa recht, als er sagte: Die Trauer in der Stunde des Todes ist um ein Mehrfaches tiefer als das Glücksgefühl, das einen in der Stunde der Geburt durchströmt. Ich danke Ihnen und bitte um Ihre Nachsicht.«

Abschließend kann das Institut zur Verbesserung der Lage sich nur der Ein- & Weitsicht eines Herrn Machfus anschließen:
»Ob ein Mensch klug ist, erkennt man an seinen Antworten. Ob ein Mensch weise ist, erkennt man an seinen Fragen.«

Das Institut zur Verbesserung der Lage bittet um Fragen. Überall & Jederzeit.

(Renald Deppe)

p.s.: Nagib Machfus anläßlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1988: Vorschläge zur Verbesserung der Lage:

Zum Glück macht uns die Kunst hochherzig und gütig. 
Und so wie sie unter glücklichen Menschen zu Hause ist, so ist sie es auch unter den Unglücklichen und bietet beiden gleichermaßen ein willkommenes Mittel, ihr Innerstes auszudrücken. 
Deshalb wäre es in diesen Schicksalstagen der Entwicklung unserer Zivilisation unverständlich und unannehmbar, das Stöhnen der Menschen ungehört verhallen zu lassen. 
Ohne Zweifel aber ist die Menschheit ihren Kinderschuhen entwachsen, und unsere Zeit ist erfüllt von der Hoffnung auf Entspannung zwischen den Supermächten. 
Die Vernunft kämpft gegen alle Kräfte an, die uns in die Katastrophe treiben. 
Und so wie sich die Naturwissenschaftler bemühen, die Umwelt von den Verschmutzungen der Industrie zu reinigen, so müssen auch die Intellektuellen daran gehen, die Menschheit von allen Zerstörungen des Geistes zu befreien. 
Wir haben das Recht und die Pflicht, die Politiker und Wirtschaftsmanager der Industrienationen aufzufordern, sich endlich den wahren Aufgaben unseres Jahrhunderts zu stellen. 
In der Vergangenheit war jeder Herrscher nur darauf bedacht, der eigenen Nation den größtmöglichen Vorteil zu sichern. 
Die übrigen Nationen sah er ausschließlich als Gegner oder Objekte der Ausbeutung. 
Seine obersten Ziele waren Überlegenheit und Mehrung des persönlichen Ruhms. 
Dafür wurden so viele Ideale und Werte missbraucht, so viele Mittel geheiligt. 
Unzählige Menschen wurden ermordet, Lüge, Arglist, Erniedrigung und Brutalität als Zeichen von Kraft und Klugheit ausgegeben. 
Heute muss diese Art von Politik mit ihren Wurzeln ausgerottet werden. 
Die wirkliche Größe der Regierenden darf heute einzig an ihrem Weitblick und ihrem Verantwortungsgefühl für die gesamte Menschheit gemessen werden. 
Denn die Industriestaaten und die Staaten der Dritten Welt sind eine Familie, und ein jeder von uns ist entsprechend seiner Entwicklung, seiner Bildung und seiner Erfahrung für deren Gedeihen mitverantwortlich. 
Deshalb überschreite ich nicht meine Kompetenzen, wenn ich den Politikern im Namen der Dritten Welt sage: Schauen Sie nicht von oben auf unsere Katastrophen herab, nutzen Sie Ihre Position für deren Überwindung. 
In Ihren Positionen sind Sie für jede Fehlentwicklung verantwortlich, nicht nur für den Menschen, auch für die Tiere und die Vegetation bis in die hintersten Ecken und Enden unserer Erde. 
Wir haben genug von Ihren Reden. 
Wir wollen, dass Sie endlich anfangen zu handeln und den Dieben und Wucherern das Handwerk legen. 
Sie, die Sie das Schicksal unseres Planeten bestimmen, retten Sie die versklavten Bürger Südafrikas; 
retten Sie die Hungernden in Afrika; 
retten Sie die Palästinenser vor den Kugeln und der Folter, 
retten Sie die Israelis davor, ihre eigenen großen geistigen Traditionen zu besudeln; 
retten Sie die Schuldnerländer vor den erbarmungslosen Gesetzen der Ökonomie, 
kontrollieren Sie die Mächte der Wirtschaft, 
und zwingen Sie sie, die Verantwortung gegenüber der Menschheit höher zu stellen als die Gefolgschaft zu einer Wissenschaft, deren Gesetze in unserer Zeit schon längst hinfällig geworden sind.

(Renald Deppe)

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