Verortung & Perspektive _16

Zustand 17. April 2022

Fernando Pessoa
(1888 – 1935)

Das Buch der Unruhe
des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares
Herausgegeben von Richard Zenith.
Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel.
Fischer Verlag, Frankfurt 2006
Lizenzausgabe des Amman Verlags, Zürich 2003

Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne Wunsch nach Zusammenhang
erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben.
Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.

 Wir verwirklichen uns nie.
Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut.

 Ob es nun Götter gibt oder nicht, wir sind ihre Knechte.

 Ein Hauch von Musik oder Traum, irgend etwas, das beinahe fühlen lässt, 
irgend etwas, das kein Denken erlaubt.

 Kann jemand nur in betrunkenem Zustand schreiben, sage ich zu ihm: Betrinken Sie sich.
Und entgegnet er mir dann, das sei schlecht für seine Leber, frage ich ihn: Was ist ihre Leber?
Sie ist etwas Totes, das lebt, solange Sie leben,
und die Gedichte, die Sie schreiben, leben ohne dieses Solange.

 Mit der Außenwelt verhält es sich wie mit einem Schauspieler auf der Bühne: 
Er ist etwas anderes als er darstellt. 

 Um verstehen zu können, habe ich mich zerstört. Verstehen heißt das Lieben vergessen.
Ich kenne nichts, was zugleich falscher und bedeutsamer wäre als der Ausspruch Leonardo da Vincis,
demnach wir etwas nur lieben oder hassen können, wenn wir es verstanden haben.

 Die Einsamkeit zerstört mich; die Geselligkeit bedrückt mich.

 Wer schläft, wird wieder zum Kind. 
Vielleicht, weil man im Schlaf nichts Böses tun kann und das Leben nicht wahrnimmt,
ist der größte Verbrecher, der verschlossenste Egoist dank eines natürlichen Zaubers heilig,
solange er schläft. Zwischen dem Mord an einem Schlafenden und dem Mord an einem Kind 
besteht für mich kein merklicher Unterschied.

 Es nötig zu haben, andere zu beherrschen, heißt andere nötig zu haben.
Der Vorgesetzte ist ein Abhängiger.

 Ja, es ist besser, immer besser, die menschliche Schnecke zu sein, die liebt was sie nicht kennt,
der Blutegel, der nicht weiß, wie abstoßend er ist.
Die Unwissenheit als Leben haben, das Fühlen als Vergessen!

 Wie tragisch, nicht an die menschliche Fähigkeit zur Vervollkommnung zu glauben!
– Und wie tragisch, an sie zu glauben!

 Der Mensch sollte sein eigenes Gesicht nicht sehen können. Nichts ist schlimmer. 
Die Natur verlieh ihm die Gabe, sein Gesicht so wenig sehen zu können, wie er sich in die eigenen Augen sehen kann.
Nur im Wasser der Flüsse und Seen konnte er sein Gesicht betrachten. 
Und die Haltung, die er dabei einnehmen musste, war symbolisch. 
Er musste sich bücken, beugen, um die Schande zu begehen, sich zu sehen.
Der Schöpfer des Spiegels hat die menschliche Seele vergiftet.

 Ich kultiviere meinen Haß auf das Handeln wie eine Treibhauspflanze.
Ich stimme nicht überein mit dem Leben und bin stolz darauf.

 Wie jeder Mensch von großer geistiger Beweglichkeit 
empfinde ich eine organische, verhängnisvolle Liebe zur Seßhaftigkeit.
Ich verabscheue neue Leben und unbekannte Orte.

 Ich bin kein Pessimist, ich bin traurig.

 Wir haben uns zu bekleideten Geschöpfen entwickelt, an Körper und Seele.
Bäte man mich, die gesellschaftlichen Gründe für meinen Seelenzustand zu erläutern,
würde ich nur stumm auf einen Spiegel deuten, einen Kleiderständer und einen Füllfederhalter.

 Das den Dingen innenwohnende Ungeheuer setzt
– zu seinem Vor- wie zu seinem Nachteil, was ihm scheinbar einerlei ist
– einen Felsblock auf einem Berg in Bewegung wie auch Eifersucht oder Gier in einem Herzen.
Der Felsblock stürzt herab und tötet einen Menschen; 
Gier oder Eifersucht bewaffnen einen Arm, und der Arm tötet einen Menschen.
So ist die Welt, ein Misthaufen instinktiver Kräfte, 
der dennoch in der Sonne glänzt, strohgolden in hellen und dunklen Tönen.

 In einem Stall, aus dem er auf die Schlachtbank kommt, kräht der Hahn Hymnen auf die Freiheit,
weil man ihm zwei Sitzstangen gegeben hat.

 Ich stehe mit ungeheurer Mühe von meinem Stuhl auf,
aber kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich ihn mit mir herumtrage
und daß er so schwer wiegt, weil er der Stuhl der Subjektivität ist.

 Reden heißt anderen zu viel Aufmerksamkeit schenken. 
Fische sterben, wenn sie den Mund aufmachen…

 Alle Probleme sind unlösbar.
Das Vorhandensein eines Problems setzt das Nichtvorhandensein einer Lösung voraus.
Eine Tatsache suchen bedeutet, daß es keine Tatsache gibt.
Denken heißt nicht existieren können.

 …die schmerzhafte Intensität meiner Empfindungen, selbst glücklicher;
die glückliche Intensität meiner Empfindungen, selbst trauriger.

 Der Geruchsinn ist ein eigentümliches Sehvermögen.
Er beschwört dank einer eigentümlichen Zeichnertätigkeit des Unterbewußten
Landschaften des Gefühls herauf. Das habe ich oftmals erlebt.

 Lerne zu unterscheiden zwischen dem Gedanken an Sinneslust und dem Gedanken an Vergnügen.

 Auf halbem Wege zwischen Glaube und Kritik liegt die Herberge zur Vernunft.
Die Vernunft ist der Glaube an etwas, das man ohne Glauben verstehen kann;
doch bleibt es noch immer ein Glaube, denn verstehen setzt voraus, daß es etwas Verstehbares gibt.

 …die feierliche Traurigkeit, die allem Großen innewohnt –
hohen Bergen wie bedeutenden Leben, tiefen Nächten wie unsterblichen Gedichten.

 Die Füße Christi berührt zu haben ist keine Entschuldigung für eine fehlerhafte Interpunktion.

 Es ist eine Lebensregel, dass wir von allen Menschen lernen können und sollten. 
Es gibt ernsthafte Dinge des Lebens, die wir von Scharlatanen und Gaunern lernen können, 
es gibt philosophische Einsichten, die uns Narren verschaffen, 
es gibt Lektionen in Standhaftigkeit und Gerechtigkeit, die uns der Zufall lehrt und die Früchte des Zufalls sind. 

 Das Wunder ist Gottes Faulheit oder vielmehr die Faulheit, die wir ihm zuschreiben,
indem wir das Wunder erfinden.

 Das Leben ist, was wir aus ihm machen. Die Reisen sind die Reisenden.
Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.

 Ich erkenne heute, daß ich gescheitert bin, nur wundere ich mich bisweilen,
daß ich mein Scheitern nicht vorhergesehen habe.
Was in mir hätte einen Sieger vorhersagen können?
Ich hatte weder die blinde Kraft der Sieger noch den sicheren Blick der Verrückten…
Ich war klar und traurig wie ein kalter Tag.

Kontrapunkt

Mariza (*1973) : Tasco Da Mouraria

Perspektive 16

Das Buch der Unruhe: ein Jahrhundertbuch. So die Fischerwerbung.
Das Buch der Unruhe: eine Saudade. So Fernando Pessoa.

Saudade: Weltschmerz, Traurigkeit, Wehmut, Heim- & Fernweh, Melancholie. Mindestens.
Saudade: laut Pessoa die Poesie des Fado. Bestimmt.
Saudade: – nur Portugiesen
               können dieses Gefühl kennen.
               Weil nur sie dieses Wort besitzen,
               um es wirklich beim Namen zu nennen. Dichtet Fernando Pessoa.
Saudade: Unübersetzbar. Warum auch.
Saudade: Wir alle sind Portugiesen. Menschen in und aus Portugal vielleicht etwas mehr.
Saudade: Das Institut zur Verbesserung der Lage liegt am Meer. Wie Böhmen. Und Portugal. 

Pessoa: Mensch, Person. Lusophonisches Substantiv.

Fernando Pessoa: Mensch, Person. Autor & Dichter.
Fernando Pessoa: Meister der Heteronyme. Pseudonyme.
Fernando Pessoa: Verschrifter. Zeichnet mit Namen wie:
Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Bernardo Soares. 
Alexander Search, H.M.F. Lecher, Chevalier de Pas, Charles Robert Anon.

Fernando Pessoa erlebt den Tod seines Vaters (Staatsbeamter & Musikkritiker) mit 5 Jahren.
Fernando Pessoa verläßt seine Heimatstadt Lissabon zwei Jahre später gen Durban (Südafrika).
Fernando Pessoa wächst in den folgenden 9 Jahren in der damaligen britischen Kap-Provinz zweisprachig auf.
Fernando Pessoa kehrt 1905 nach Lissabon zurück und wird diese seine Stadt nie mehr verlassen wollen.

Pessoa schreibt sich für ein Literaturstudium ein. Und bricht dieses ab.
Pessoa gründet mit dem Geld einer Erbschaft eine Druckerei. Der Versuch scheitert.
Pessoa überlebt in einem Land vergangener Größe. Saudade als Überlebensanker kultivierend.

Pessoa verdient ab 1908 sein Brot als Außenhandelskorrespondent. Bis an sein Lebensende.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt stets in mehreren Sprachen. Bis an sein Lebensende.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt stets in mehreren Personen. Bis an sein Lebensende.

Pessoa dichtet, schreibt und denkt Widersprüchliches. Mit ja & aber, ohne entweder & oder.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt Gegensätzliches. Vom Sein & Nichtsein, über Wirklichkeit & Fiktion.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt Entgrenzungen. Für Ich & Nichtich, als Patriot & Kosmopolit.

Pessoa dichtet, schreibt und denkt in den Gast- und Kaffeehäusern Lissabons.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt unabhängig von den Verkaufsstrategien der Verlage.
Pessoa dichtet, schreibt und denkt an den portugiesischen Zensurbehörden unter Diktator Salazar vorbei.

Pessoa veröffentlicht kaum etwas. Zu Lebzeiten.
Pessoa überlebt als Handelskorrespondent. Leidlich.
Pessoa verwahrt seine Schriften in einer großen Truhe. Sorgsam.

Pessoa stirbt 1935 in Lissabon. An Leberzirrhose.
Pessoa hinterlässt 27 453 Manuskripte. Ein rotweinbeflecktes Buch der Unruhe.
Pessoa wird 1982 erstmals die Veröffentlichung seiner Unruhen erleben. Posthum.  

Das Buch der Unruhe: ein Jahrhundertbuch.
Das Buch der Unruhe: ein Buch für geduldige Leser. 
Das Buch der Unruhe: ein geduldiges Buch für zukünftige Jahrhunderte.

(Renald Deppe)

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