Verortung & Perspektive _05

Anstand 30.01.2022

Isabella Guanzini

(*1973)

Zärtlichkeit
Eine Philosophie der sanften Macht
(Aus dem Italienischen übersetzt von Grit Fröhlich und Ruth Karzel)
Verlag C.H. Beck, München 2019

Über Zärtlichkeit zu schreiben ist eine Gratwanderung.
Man läuft ständig Gefahr, in einen pathetischen Ton zu verfallen.
Doch wie können wir vergessen, dass wir ohne sie nicht hier wären,
dass sie uns ins Leben gerufen hat (und dass wir hoffen, ihr möglichst bald wieder zu begegnen)?
Unter welchen Schwierigkeiten wir auch in diese Welt gekommen sein mögen,
so gab es doch zumindest eine Zärtlich Geste, die verhindert hat, dass wir wieder gehen.
Oder von der Welt erdrückt werden.

Über Zärtlichkeit zu sprechen, berührt sensible Punkte, weckt uralte Gefühle,
beschwört das elementare Leben von Körper und Seele in seiner ganzen Intensität herauf.
Zärtlichkeit ging unserer Geburt voraus und wird auch den Tod überdauern:
Die menschlichen Bindungen, die wir kennen, liegen vor unserem bewussten Leben
und überdauern auch unser mehr oder weniger zwangsläufiges Ableben.
Zärtlichkeit gibt unserem Körper die Kraft, sich zu bilden, sich zu nähren, sich zu erkennen.
Und schließlich verleiht sie unserem Blick auf die Welt Perspektive,
sie drängt uns dazu, Worte zu finden, um uns mitzuteilen,
sie ruft uns bei unserem Namen und formt und offenbart so unsere unverwechselbare Einzigartigkeit.
Die Zärtlichkeit vermag einem einmaligen Wesen Form zu geben, das selbst noch keinerlei Kraft hat.
Darin besteht ihr Wunder.

Kontrapunkt

Christina Branco (*1972) : O meo amor…

Perspektive 05

Zart, zärteln, Zärtlichkeit.
Sowohl als Adjektiv, Verb und Substantiv selten wie kostbar.
Nicht mit Gold oder Geld aufzuwiegen, nicht mit Hedgefonds und Bitcoins.
So selten ge- & erlebt, dass das Verb schon fast dem Sprachgebrauch abhanden gekommen ist.
Irritierend und bedrohlich: häufiger als vom »zärteln« wird über das »verzärteln« gesprochen.
»Jemanden zu weichlich erziehen, verweichlichen«. Nachzulesen im Duden. Und anderswo.

Die italienische Philosophin Isabella Guanzini hat eine kluge wie sinnliche Einführung, 
eine Anleitung zur Ausführung, eine betörende Verführung zur Fragilität geschrieben:
Wodurch definiert sich »zart sein«, »zärteln« und »Zärtlichkeit«. Gestern und heute und morgen.
Wie ist mit dem »zart sein«, wie mit dem »zärteln«, wie mit »Zärtlichkeit« umzugehen.
Wann ist betreffendes Adjektiv, Verb und Substantiv unbedingt zu leben.
Wann zu meiden. Wann zu vermeiden.
Warum bedarf es einer solchen sanften Macht.
Was passiert, wenn die Anwendung von und das Bedürfnis nach Zärtlichkeit ausbleibt, mißbraucht, 
verfälscht, verkauft, verleugnet, verdrängt, verdorben, verraten, verboten und verkannt wird?

Nicht alt- weder neunmalklug, nicht sentimental noch indiskret, 
nicht bigott und pathetisch wird hier ge-, um- und beschrieben.    
Subtil vor-, weit-, ein- und klarsichtig verhandelt die junge Professorin für Fundamentaltheologie zu Graz ihren Themenkreis:
die Müdigkeitsgesellschaft, das harte Herz des Narziss, die Revolution der zärtlichen Liebe.
Entwirft eine Landkarte möglicher Gefühle, berichtet über die Nervosität des Großstadtlebens
und entdeckt eine entgrenzende und somit auch heilsame Müdigkeit.
Entwirft Portraits über die Zärtlichkeit des Sohnes, über den Balsam der Zärtlichkeit, über mediterrane Zärtlichkeit.
So die Titelordnung einiger Kapitel ihres stilistisch brillanten Buches.
Ein Buch ohne »Nahrungsergänzungsmittel des Privatlebens«, ohne tagesbanale RatundTatgeberPhantasmen.  
Ein Buch ohne Berührungsängste, ohne spirituelle Wellnessakrobatik.
Ohne akademischen Dünkel.

Zärtlichkeit ist zu geben. Und Zärtlichkeit ist an- & wahrzunehmen.
Kein leichtes Unterfangen in unserer die Leistung, Härte und zielstrebige Unbeirrbarkeit lobpreisenden AlphaTierGesellschaft.
Kein leichtes Unterfangen für Rainer Maria Rilke, welcher bereits 1912 in seinen Duineser Elegien klagte:

»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein.«

Isabella Guanzini beginnt ihr Buch mit „una Poesia“ der italienischen Poetessa Mariangela Gualtieri:

»Sei sanft zu mir. Sei behutsam.
Uns bleibt nur kurze Zeit. Bald
werden wir leuchtende Spuren sein.

Und groß wird unsere Sehnsucht sein
nach Menschlichem. Wie jetzt
nach dem Unendlichen.
Doch haben wir keine Hände mehr. Keine
Hände zum Streicheln.
Keine Wangen zu berühren
ganz leicht.
Sehnsucht nach Unvollkommenen
erfüllt uns dann als leuchtende Photonen.«

Welch ein Mut solch ein leuchtendes Gedicht an den Anfang eines Buches zu stellen.
Kein leichtes Unterfangen: 
Danach dann ein solch mutiges Buch mutig weiterzuschreiben…

(Renald Deppe)

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