Verortung & Perspektive _04

Prüfstand 23.01.2022

Orhan Pamuk
(*1952)

Rot ist mein Name
Roman
Aus dem Türkischen von Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag, München Wien 2001

Ich höre euch fragen: Wie ist das, wenn man eine Farbe ist?
Farbe ist die Berührung des Auges,
die Musik der Taubstummen,
ein Wort in der Dunkelheit.
Meine Berührung, würde ich sagen, gleicht der Berührung der Engel,
da ich seit Zehntausenden von Jahren dem Raunen der Geister von
Buch zu Buch,
von einem Gegenstand zum anderen wie dem Sausen des Windes gelauscht habe.
Ein Teil von mir spricht hier zu euren Augen, das ist meine schwere Seite.
Ein Teil von mir wird in der Luft durch eure Blicke beflügelt, das ist meine leichte Seite.

Und wie glücklich bin ich rot zu sein!

Mein Inneres brennt.
Ich bin stark; ich weiß, daß ich wahrgenommen werde und auch, daß ihr mir nicht widerstehen könnt.
Ich verberge mich nicht:
Für mich verwirklicht sich Feinheit nicht durch Schwäche oder Kraftlosigkeit, sondern durch Entschlossenheit und Willenskraft.
Ich zeige mich offen.
Ich fürchte mich nicht vor anderen Farben, Schatten, vor Massengedränge oder gar Einsamkeit.
Wie herrlich eine mich erwartende Oberfläche mit dem Feuer meines Sieges auszufüllen!
Wo ich mich verbreite glänzen die Augen, erstarken die Leidenschaften,
heben sich die Brauen, schlagen die Herzen schneller.
Seht mich an, wie schön ist es zu leben!
Betrachtet mich, wie schön ist es zu sehen!
Leben ist sehen.
Ich bin überall sichtbar.
Glaubt mir nur, mit mir beginnt das Leben, zu mir kehrt alles zurück.

Seit still und hört zu, wie ich so ein wundervolles Rot geworden bin.

Ein Altmeister, der sich auf Farben gut verstand, 
zerstieß höchst eigenständig den rötesten der getrockneten Käfer 
aus der heißesten Gegend Indiens in seinem Mörser zu feinstem Pulver
und wog fünf Dirhem davon und ein Dirhem Seifenwurz und ein halbes Dirhem Lotuswurz ab.
Dann tat er drei Okka Wasser in einen Kessel, warf den Seifenwurz hinein und kochte ihn.
Dann tat er Lotuswurz ins Wasser und rührte gut um.
Schließlich ließ er alles so lange kochen, wie man zum Trinken eines guten Kaffees braucht.
Während er seinen Kaffee trank, wurde ich ungeduldig wie ein Kind kurz vor der Geburt.
Während der Kaffee seinen Verstand weitete und seine Augen blitzen ließ,
warf er das rote Pulver in den Kessel und rührte mit einem dünnen, sauberen, dafür bestimmten Stab alles gründlich durch.
Jetzt würde ich ein wahres Rot sein,
doch es kam auf meine Konsistenz an, weswegen das Wasser nicht unnötig lange, aber natürlich lange genug kochen musste.
Mit der Spitze des Stabes holte er ein wenig von mir aus dem Kessel 
und trug es auf seinen Daumennagel auf (andere Finger kamen nicht in Frage!).

Oh, wie schön es war Rot zu sein!

Ich färbte seinen Nagel rot, lief nicht wie Wasser über die Ränder hinaus.
Ich hatte die richtige Konsistenz, doch gab es noch Bodensatz.
Er nahm den Kessel vom Herd und filterte mich durch ein sauberes Tuch, so daß ich noch reiner wurde.
Dann setzte er mich aufs Feuer, ließ mich zweimal aufkochen und schäumen,
tat ein wenig Alaun hinzu und ließ mich abkühlen.

Einige Tage vergingen,
und ich blieb in dem Kessel, ohne mich mit etwas anderm zu vermischen.
Das Stillhalten brach mir das Herz, brannte ich doch darauf, auf allen Seiten an jeder Stelle aufgestrichen zu werden.
Und in dieser Stille dachte ich darüber nach, was es heißt, Rot zu sein…

Kontrapunkt

Makam Rast Semâ’I (Turquie, Hespérion XXI & Jordi Savall)

Perspektive 04

Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht angenommen werden.
Der Literatur-Nobelpreis kann – muss aber nicht vergeben werden.

Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2006 ging an Orhan Pamuk.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2006 deutet und bedeutet Vielgewichtiges. 
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 2006 steht für wundersam wunderbare literarische Qualität. 
Und seine Vergabe an Orhan Pamuk war eine feinklugmutige Entscheidung, eine kunstkulturelle Notwendigkeit.

Der in Istanbul geborene und dort schreibend (über)lebende Autor beginnt sein Erzählen mit Zitaten aus dem Koran:

»Wenn ihr jemand erschlagen habt und über den Täter streitet…« (Sure Bakara, 72)
und
»Nicht gleichen sich der Blinde und der Sehende.« (Sure Al-Fatir, 19)
und
»Allah ist der Herr über Ost und West…« (Sure Bakara, 115)
und be- und umschreibt mit diesen wenigen Zeilen (s)einen wort- und ortgewaltigen Roman.

Orhan Pamuk kann Erzählen.
Orhan Pamuk erzählt Geschichte und Geschichten.
Orhan Pamuk erzählt eine Kriminal- und Liebesgeschichte.
Orhan Pamuk erzählt vom osmanischen Istanbul des Jahres 1591.
Orhan Pamuk erzählt in 59 unterschiedlichen Perspektiven 59 auf- und erregende Handlungslabyrinthe.
Orhan Pamuk läßt Menschen, Tiere, Dinge, den Satan und Farben erzählen: 
Von Buchmalern, Vergoldern, Kalligrafen, Illustratoren, Poeten, Propheten, Meister- und Mordgestalten.
Von Schönheit und Schönheiten, von Weisen und Waisen, von Hass und Hässlichkeit. 
Vom Sehen und gesehen werden, vom Lieben und geliebt werden, vom Malen und gemalt werden. 
Von Venedig, Lepanto, Edirne, Konya, Aleppo, Damaskus, Isfahan, Herat, Buchara und Samarkand.  .

Orhan Pamuks Kunst-, Kriminal-, Kultur-, Glaubens-, Liebes- und Tausendundeinenachtgeschichten 
spielen zur Zeit der Regentschaft des osmanischen Sultans Murad III. (1574-95).
Ein kunstsinniger Herrscher.
Er läßt »Das Buch der Künste«, »Das Buch der Feste« und »Das Buch der Siege« in Istanbul fertigen.
Die besten Künstler und Kunsthandwerker des Osmanischen Reiches werden dazu einbestellt.
Bücher und Miniaturmalereien sind seine Passion. 
Ein den Frieden suchender Regent.
Sultan Murad III. beendet die Kriege mit seinen Nachbarn in Persien.
Der safawidische Schah Tahmasp überreicht ihm vorher ein kostbares Friedensangebot:
Eine pracht- & machtvolle Abschrift des »Buchs der Könige«: 
das berühmtlegendäre um 1010 entstandene „Schahname“ des persischen Dichters Firdausi. 
25 Jahre wurde an diesem Geschenk gewerkt. 
25 Jahre wurde daran gemalt, geschrieben, gezeichnet, geheftet: handgearbeitet.

Orhan Pamuks Kunst-, Kriminal-, Kultur-, Glaubens-, Liebes- und Tausendundeinenachtgeschichten
spielen zur Zeit des strengen islamischen Bilderverbotes, der religiösen Zuspitzungen und theologischen Spitzfindigkeiten.
Darf doch die Welt nicht aus der Sicht des Menschen geformt, nicht an die Stelle Gottes gesetzt werden.
Folglich darf ein Künstler nicht signieren. Anspruch auf einen Schöpfungsakt erheben.
Heftige Diskurse zwischen Tradition und Moderne, Bewahrer und Reformer, Priester und Narren, Frei- und Kleingeister      
verwickeln Kenner & Könner, Verehrte & Gelehrte, Macht-, Recht-, Teil- & Liebhaber in oftmals tödliche Intrigen.

Orhan Pamuks Kunst-, Kriminal-, Kultur-, Glaubens-, Liebes- und Tausendundeinenachtgeschichten
ver- und behandeln Glanz, Schatten, Verluste, Siege, Orientierungkalamitäten in osmanischen Vergangenheiten.
Jene gelten selbstredend auch für eine stolztrotzige türkische Gegenwart. 
Und für roststaubig eurozentristische Träume und Wirklichkeiten, nordatlantisch paktpackbedingte Irrungen und Wirrungen. 
Die Zeit- und Leidgeschichte der Republik Türkei seit ihrer Gründung im Jahr 1923 mit ihren wechselnden Positionierungen zwischen 
Ost & West, Rechts & Links, Kreuz & Halbmond, Hammer & Sichel, Kopftuch & Tuchfühlung, Brüssel & Medina, Wölfen & Tauben
wird auch über eine verantwortete gesamteuropäische Zukunft entscheiden.

Über die Kriminalgeschichte des Buches wird an dieser Stelle aus dramaturgischen Gründen wohlweislich geschwiegen.

Also: bitte: Orhan Pamuk lesen. Oder: vorlesen. Oder: vorlesen lassen: east of the sun & west of the moon.

(Renald Deppe)

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